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Könige zu Bettlern
Könige zu Bettlern
„Es ist unglaublich, nun war ich schon so oft hier einkaufen und habe immer noch Probleme, meine Lebensmittel zusammenzufinden", sagte ich zu dem großen Mann, der die ganze Zeit schon nach einer Sache suchte und setzte ein freundliches Lächeln auf. Er war breitschultrig, und sein Gesicht hatte viele Falten. Seine Augen spiegelten Müdigkeit wieder. Gekleidet war er mit einer schon sehr oft gewaschenen Jeans, einem roten Rollkragenpullover, einer dünnen und alten Jederjacke und braunen, alten aber gepflegten Schuhen.
Ich kannte ihn. Von früher. In der Schule war er eine Klasse über mir und lebte im Nachbarviertel. Er war der Star, überall wo er hinkam. Die Jungs bewunderten ihn, die Mädchen schwärmten von ihm. Im Sport war er die absolute Größe, das machte seine nicht ganz so guten Noten wieder wett. Er hatte sehr viele Freunde und noch mehr, die ihn beneideten. Ich erinnerte mich, dass ich mich immer wie ein ganz kleines Licht fühlte, wenn ich mich mit ihm verglich. Er hatte mich nie gesehen, und wir haben auch nie miteinander geredet. Das heißt, einmal doch, als ich bei einem Schulfest mich ordentlich blamierte, wobei ich beim Tanzen stolperte und mich langlegte. Da stand er unglücklicherweise in der Nähe und riss einen Witz, der meine Blamage noch einmal und intensiv herauskehrte und die Aufmerksamkeit der Menge auf mich zog. Meine damalige Freundin und Tanzpartnerin wurde sehr rot und lief wutentbrannt durch das Gelächter der anderen nach Hause. Da hatte ich ihm gesagt, dass Könige mal zu Bettlern werden können, wenn sie nicht aufpassten. Damals starrte er mich für einen Bruchteil einer Sekunde mit großen Augen an und brüllte anschließend laut los vor Lachen. Das war nun fast fünfundzwanzig Jahre her. Mittlerweile hatte ich brav mein Studium absolviert und bin hoch aufgestiegen in einer mittelständigen Firma, war glücklich verheiratet und konnte auf zwei prächtige Söhne stolz sein. Aber ich hatte diesen Jungen nicht vergessen. Zumal man hin und wieder ein paar Gerüchte hörte. Gerüchte wie, dass er bei der Fremdenlegion war. Auch hatte ich mal gehört, dass er in die Kriminalität abgestiegen war und eine langjährige Haftstrafe absaß. Von seinem damaligen besten Freund erfuhr ich, dass er verheiratet und wieder geschieden war, aber das wäre auch schon lange her und er hätte keinen Kontakt mehr zu ihm. Es gab viele Geschichten über ihn, und ich wusste nicht, welche wahr waren. Aber seit vielen Jahren schon waren Gerüchte und Geschichten um ihn verstummt. Ich hatte ihn trotzdem nicht vergessen und war sehr überrascht und musste auch mehrmals hinsehen, um sicher zu sein, als ich ihn im Supermarkt in unserem Viertel wiedertraf. Mir war klar, dass er nicht wusste, wer ich war, aber trotzdem wollte ich ihn ansprechen ohne wirklich zu wissen, warum oder um vielleicht zu sehen, ob er sich vielleicht doch an mich erinnerte.
"Ja, es gibt einfach zu viel Auswahl", antwortete er, und seine Stimme klang noch müder, als seine Augen es verrieten.
"Ich suche die Thunfischpastete, aber kann sie nirgends finden", erklärte er, und ich half ihm suchen.
"Sind sie hier neu zugezogen", fragte ich, fand die Pastete, ergriff sie und gab sie dem Mann.
"Wissen sie", setzte er an, "ich bin hier aufgewachsen und komme nach vielen Jahren heim."
"Es hat sich viel verändert hier mit den Jahren", verriet ich meinem Gesprächspartner und wusste, dass er mich nicht wieder erkannte.
"Ja, sehr viel", bestätigte er mir und schaute auf das Etikett der Dose.
"Ich hoffe, sie werden sich hier wieder wohl fühlen", sagte ich ihm und setzte an, weiterzugehen. Er tat mir leid. "Auf Wiedersehen", verabschiedete ich mich und ging. Der Mann drehte sich zu mir, er hielt die Dose mit der Thunfischpastete noch in der Hand, lächelte und sagte leise.
"Ich hätte auf Sie hören sollen, als ich noch König war."