Könige der Welt
Wir sitzen am Rand der Welt und lassen die Füße über dem Abgrund baumeln. Mein Herz flattert als ich in das dunkle Nichts unter meinen Schuhen sehe, und ich verspüre einen seltsamen Drang, mich in die Tiefe zu stürzen. Ich habe irgendwo gelesen, dass dieses Gefühl der Versuch unseres Gehirns ist, Kontrolle über eine Situation zu behalten. Manchmal ist springen der einzige Weg, sich nicht den Umständen ausgeliefert zu fühlen. Ich sehe zu dir herüber und spüre ein hysterisches Lachen in meinem Hals aufsteigen.
Ich erinnere mich genau an den Tag, an dem ich mich in dich verliebt habe. Wir waren in einem der Schlossparks spazieren, als wie aus dem Nichts zogen dunkle Wolken aufzogen, die einen sintflutartigen Regen auf den Park fallen ließen. Wir haben versucht, uns unter den Bäumen vor der Nässe zu schützen, aber nur nach wenigen Minuten fielen die ersten schweren Tropfen durch das Blätterdach. Du hast mich an der Hand genommen und während wir durch den Regen liefen wie kleine Kinder, konnte ich nicht anders als lauthals zu lachen. Ich glaube, das war der schönste Tag meines Lebens, ich hatte mich noch nie so frei gefühlt wie in diesem Moment.
Und ich war so hungrig nach Freiheit.
Als ich dich das erste Mal gesehen habe, warst du gerade dabei, einen Rucksack mit allen möglichen Dingen zu füllen. Du hast kurz inne gehalten und mir zugezwinkert, dann bist du einfach gegangen, hast dich an eine Menschengruppe gehängt und das Geschäft verlassen, als ob du den Alarm, den du ausgelöst hast, nicht hören würdest. Meine Mutter hat erschrocken aufgesehen und empört irgendetwas vor sich hin gemurmelt. Ich hab genickt ohne zu zuhören. In meinen Augen warst du der Antiheld einer fantastischen Geschichte.
Ich konnte dich nicht vergessen, malte mir aus, wie es wohl wäre, dich wieder zu treffen. Ich weiß noch, dass ich mir vorstellte, dich zu retten, dich zu einem anständigen Mitglied unserer Gesellschaft zu machen. Wie dumm von mir.
Ich glaube, tief in meinem Herzen wusste ich, dass ich diejenige war, die gerettet werden musste. Von dem Tag an ging ich oft in die Stadt, in der Hoffnung, dich wieder zu sehen. Irgendwann standst du vor mir, mit einem kecken Grinsen im Gesicht und einem Funkeln in den Augen. Ich weiß noch ganz genau, wie sehr ich dich damals bewundert habe, wie du durch die Menschenmenge geschritten bist, als würde dir die Welt gehören. Es war seltsam, denn ich war es gewohnt, von Menschen mit dieser Einstellung umgeben zu sein, doch bei dir fühlte es sich so anders an, so ansteckend.
Du hast nur gelacht über meine anerzogenen Hemmungen, ich glaube du hast es genossen, mich so beeinflussen zu können. Es ist seltsam, wie dein kleiner Ladendiebstahl so viel ausgelöst hat. Du hast mich in deine Welt gezogen, und ich bin dir so bereitwillig gefolgt. Man sollte meinen, jemand, der so behütet aufgewachsen ist wie ich, würde früher oder später von selbst rebellieren, aber ich habe wohl einen kleinen Anstoß gebraucht… Wir waren so unterschiedlich, meine Eltern hatten vier Autos und drei Häuser, und deine hatten regelmäßig auf Essen verzichtet, damit du und deine Schwester genug habt. Du hast nie gerne über deine Familie gesprochen und wenn du es getan hast, legte sich immer eine traurige Dunkelheit über dein Gesicht.
Nicht so aber, wenn du von der Zukunft geschwärmt hast. Dann leuchteten deine Augen mit Hoffnung und Träumen und Abenteuerlust. Ich konnte lange Zeit nicht verstehen, warum du kein Geld von mir annehmen wolltest, ich hätte dir alles geben können, was du dir jemals gewünscht hast, aber du hast mich nur ausgelacht. Du wolltest keinen Reichtum, du wolltest die Welt. Geld regiert die Welt, das hatte ich immer gedacht, und ich verstand nur langsam, dass dem nicht so war.
Macht regiert die Welt, und Macht ist nicht gleich Geld, das hast du immer wieder gesagt. Ich habe dir mit vollem Herzen geglaubt, auch wenn ich nicht recht wusste, was du meintest. Du hast mir erklärt, all die Diebstähle seien nur Übungen gewesen. Dein wahres Ziel lag so viel höher. Ich habe dich für verrückt erklärt, deine Träume passten nicht in meinen rationalen Verstand. Aber ich habe gesehen, wie glücklich es dich gemacht hat, Schritt für Schritt deinem Ziel näher zu kommen. Also habe ich dich gelassen, habe dich belächelt und deine Fantasievorstellungen unterhalten, ich war mir sicher, dass du irgendwann zur Vernunft kommen würdest.
Wie falsch ich lag.
Es war an mir, zur Vernunft zu kommen, endlich die Augen zu öffnen für das, was wirklich möglich war. Du hast mir alles beigebracht, was du wusstest, um mich vorzubereiten. Nach zwei Jahren war es endlich so weit. Wir würden es wagen, der größte Einbruch, den wir je begehen würden. Den darauf folgenden Zeitungsartikel habe ich behalten, auch wenn er eigentlich nicht wichtig war. Wir sind nur knapp davon gekommen, einige Polizisten sind sogar an uns vorbei gelaufen als wir mit aufgesetzter Gelassenheit durch die Straßen schlenderten.
In meiner Umhängetasche war die von dir so ersehnte Macht verborgen. Eine faustgroße goldene Kugel, viel schwerer als sie aussah. Das Gewicht zog unangenehm an meiner Schulter, aber es war nicht einmal annähernd so schwer wie die Konsequenzen sein würden. Wir wussten ja nicht, was wir ins Leben rufen würden. Ich glaubte noch immer nicht an Dämonen und andere Wesen, auch wenn du immer wieder versuchtest, es mir zu erklären. Ich war mir sicher, dass du enttäuscht sein würdest, aber dann konnten wir immerhin eine ordentliche Summe auf dem Schwarzmarkt erstehen. Immerhin schien die Kugel massives Gold zu sein.
Es war kein massives Gold, oder sonst ein Metall, wie wir einige Stunden später feststellten. Die Kugel war hohl, und das Gewicht kam von dem Wesen, das darin gefangen war. Wie naiv wir waren, zu denken, dass wir die Situation unter Kontrolle hatten. Aber du wolltest die Welt, und ich wollte dich, also machten wir den Pakt, der ein Jahr später den Rand der Welt öffnete, an dem wir nun sitzen.
Es war zu gut um wahr zu sein, das hätten wir wissen müssen, aber wir waren so geblendet von der neugewonnenen Macht. Den Dämon ließen wir frei, so wie wir es versprochen hatten, und er legte uns die Welt zu Füßen, so wie er es versprochen hatte. Wir liefen durch die Straßen, und zum ersten Mal konnte ich genauso herum stolzieren wie du es immer getan hattest. Wir lernten alle Sprachen, die uns begegneten, wir nahmen und taten, was uns gefiel. Die Welt gehörte uns, so wie du es immer gewollt hattest. Wir lernten so viel in so kurzer Zeit, und die letzte Lektion war, dass die Welt im Gleichgewicht bleiben musste.
Aber wofür braucht man Gleichgewicht, wenn man fliegen kann?
Es dauerte nicht lange, bis wir, die Könige der Welt, müde wurden. Unsere Flügel wurden lahm und unsere Herzen schwer.
Abenteuer über Abenteuer hatten wir erlebt, niemand stand uns im Weg, nichts konnte uns aufhalten. Wir sahen nicht, wie die Welt aus den Fugen geriet, wie das Gleichgewicht gestört wurde. Wir wollten Könige sein, ohne zu regieren. Wir bauten Märchenschlösser auf den Wolken, schafften Krieg und Hunger ab. Es war perfekt, für eine Weile, die Menschheit badete in Licht und vergaß die Schatten, die wir in die Ecke gedrängt hatten. Wir hätten wissen müssen, dass sie dort nicht zufrieden sein würden, aber wir waren so trunken von Macht und Glück und Liebe.
So schnell wie unsere Welt erbaut wurde, fiel sie auch in sich zusammen. Es begann wie ein Riss in einer Eisschicht, klein zuerst, unauffällig, doch bald überzog ein Netz von Rissen unser Werk. Wir versuchten, es zu verhindern, doch immer, wenn wir ein Problem gelöst hatten, traten an anderer Stelle drei neue auf. Unsere Zeit war um, wir wussten es, und wir versuchten zu kämpften. Doch wir waren erschöpft und jung, und bald sahen wir, dass die Welt verloren war. Wir hatten keine Kontrolle mehr.
Und nun sitzen wir hier, deine Hand fest in meiner. Es gibt keine Tränen mehr, keine Wut oder Verzweiflung. Wir haben alles aufgebraucht, sind so viel gealtert in einem Jahr. Uns blieb nichts anderes übrig, als unser Schicksal zu akzeptieren. Wir waren die Könige der Welt, und es war Zeit zu fallen.
Ich sehe dich an, dein widerspenstiger Optimismus ist aus deinem Gesicht verschwunden, aber ein leises, abenteuerlustiges Glitzern ist noch in deinen Augen zu sehen. Ich versuche, mich anstecken zu lassen, aber in meinem Hinterkopf nagt die Angst. Wir sehen über unsere Schulter, wo unser Königreich in sich zusammen fällt. Der einzige Weg ist nach unten. Ich atme zittrig durch und greife deine Hand ein wenig fester, mein Herz hämmert in meiner Brust als wolle es heraus springen.
„Auf drei?“ Ich kann die Angst in deiner Stimme hören, aber du klingst fest entschlossen.
Ich nicke stumm und bereite mich auf den Sprung vor. Wir wissen nicht, was auf uns zukommt, vielleicht werden wir für immer fallen. Der Gedanke gefällt mir besser als das Bild splitternder Knochen oder wogender Lava. Ich überlege, ob ich die Augen schließen soll, sehen kann ich sowieso nichts. Aber ich halte es keine Sekunde blind aus, also lasse ich sie offen. Ich sehe dich an, brenne mir dein Gesicht ins Gedächtnis. Wenn es das letzte ist, was ich sehe, ist das in Ordnung für mich.
„Eins.“ Wir blicken an unseren Füßen vorbei in den dunklen Abgrund.
„Zwei.“ Zögerlich rücken wir näher an den Rand.
„Drei.“ Wir sehen uns an und drücken uns ab bevor wir Zeit haben, nachzudenken.
Wir sind die Könige der Welt, und wir fallen.