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Kölner Südbrücke, nachts

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31.07.2003
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Kölner Südbrücke, nachts

Kölner Südbrücke, nachts


Draußen ist es seit langer Zeit völlig dunkel, aber ich werde noch rechtzeitig kommen. Zuerst die Treppen hoch, die sich in die Höhe winden. Ich steige den Turm hinauf. Es riecht nach Fäulnis und Urin. An den Wänden die Schmierereien: Namen, Abkürzungen, Zeichnungen. Ein Strichmännchen, fast so hoch wie die verkachelte Wand, dem ein riesiger Augapfel als Kopf dient. Ein Pentagramm. Ein großes „A“ in einem Kreis für Anarchie. Ein Schriftzug: Punk ist nicht tot. Die Kacheln sind schmutzig, heruntergekommen. Sie waren einmal weiß. Für die Farbe, die sie über die Jahre hinweg angenommen haben, finde ich keine passende Bezeichnung.
Nach draußen die Fenster. Dort kann ich den Nachthimmel sehen, die weit entfernte, kaum befahrene Betonstraße, den Bahndamm und die geschlossene Imbissbude, dort, wo die Straße eine Rechtskurve beschreibt. Die Rheinwiesen entziehen sich meinem Blickfeld. Ich weiß, dass unten, am Ufer, noch ein paar Menschen sitzen und Steine ins schlammfarbene Wasser werfen.
Aber ich habe keine Zeit, keine Zeit. Ich muss weiter. Nach oben, hinaus auf den Turm, auf die Brücke. Den Gestank hinter mir lassen. Ich nehme die letzten Stufen, wobei ich es vermeide, das verschmierte, trübe Geländer zu berühren. Der weiße Lack ist abgeblättert, und ich kann das feuchte Holz darunter erkennen.
Durch die Tür nach draußen. Im Freien: Das Aroma von Feuchtigkeit und kühler, freier Abendluft. Ich habe keine Zeit, aber ich bleibe stehen. Ich kann nicht anders. Noch einmal einen ruhigen Blick auf die Brücke werfen, während die Zeit verrinnt, die Zeiger sich unaufhaltsam drehen, der Sand im Stundenglas nach unten rinnt, Zahl auf Zahlen folgt, die Zahnräder ticken. Stehen bleiben und die Brücke betrachten. Die andere Seite, dort, wo sich der Turm, durch den ich kam, die vom trüben Licht beleuchtete Tür zu spiegeln scheint. Die Tür auf der anderen Seite ist mein Fluchtpunkt. Die Lampe über den Treppen ist mein Ziel. Dorthin. In den Turm. Dort wartet jemand auf mich.
Die Brücke selbst: Drei Bögen aus Stahl, der größte in der Mitte, ein riesenhafter Rücken, der sich unter dem nächtlichen Himmel krümmt. In der Mitte verlaufen gleißend die Bahnschienen. Auf beiden Seiten der Gleise ein schmaler Betonweg, durch Geländer von der Tiefe abgegrenzt, die in den Fluss führt.
Ich laufe los. Zuerst langsam, dann schneller und schneller. Der Turm, die Tür, die Lampe schweben vor mir in der Ferne. Mein Blick geht stur geradeaus. Ich atme ruhig und flach. Unter mir fließt der Rhein. Ich höre sein Rauschen, wie das des Windes, der durch Wälder streicht. Das Wasser hat die Farbe nassen Torfs. Der Mond spiegelt sich darin. Das weiß ich, aber ich schaue nicht hinunter. Nur nach vorn. Zur Tür, zum Turm.
Schneller. Die Zeit verfolgt mich. Jemand wartet, aber er wartet nicht lange. Mit meinen Armen verleihe ich mir zusätzlichen Anstoß. Mein Atem geht ruhig, rhythmisch, schnaufend. Ich muss schneller werden. Die Tür scheint nicht näher zu kommen. Ihr Licht ist weit entfernt. Sie läuft vor mir her. Wie weit mag es sein? Einen Kilometer? Eineinhalb? Aber es ist bedeutungslos, wenn ich nur schneller bin. Meine Beine sich in einem gleichförmigen Rhythmus bewegen, auf- und zuklappen wie eine Schere.
Dort wartet jemand. Ich muss mich beeilen. Unter der Tür, im Licht steht jemand, der auf mich wartet. Der Rhein trennt uns. Die Brücke ist mein Weg, lang und gerade.
Ich laufe und denke an nichts. Ich laufe um des Laufens willen. Um zu entkommen, denn die Zeit jagt mich. Ich habe nicht einmal die Hälfte hinter mir, aber die Tür kommt nicht näher. Der Turm au der anderen Seite hebt sich schwarz gegen der Nachthimmel ab. Die Stahlbögen beugen sich unter den Sternen. Der Rhein rauscht leise und konstant.
Ein Zug kommt. Ich höre ihn hinter mir, während seine Räder auf den Gleisen kreischen. Er ist schnell. Er ist schneller als die Zeit, die mich verfolgt. Die Schienen schreien, als er auf die Brücke einfährt. Die Lokomotive, ein wütender, roter Drachen, treibt, hetzt an mir vorbei. Mein Kopf ist erfüllt vom steten Heulen und Schreien der Räder und des Motors. Die Fenster der rasenden Waggons sind schwarz. Nirgendwo brennt Licht. Ich laufe. Ich will gegen sie ankommen. Ich will schneller sein.
Ich muss mich beeilen. Wer wartet, wartet nicht lange. Wenn ich ankomme, werden wir uns in den Armen liegen, und vielleicht werden wir uns küssen. Ich laufe mit dem Zug, aber er überholt mich, und dann sehe ich nur noch die Rücklichter des letzten Wagens, wie Irrlichter, die mir meinen Weg weisen.
Ich werde langsamer. Der Kragen meines Hemds und meine Achseln sind nass, durchgeschwitzt. Ich löse meine Krawatte und werfe sie fort. Sie flattert wie eine seltsame Feder in den Rhein und wird fortgetrieben, aber das kann ich nicht mehr sehen. In der Ferne kommt ein Schiff. Ich muss mich beeilen, auch, wenn mein Hals sich anfühlt wie heißer Stahl und sich ein eiserner Ring um meine Brust gelegt hat. Wenn ich aufgebe, komme ich zu spät.
Die Tür kommt jetzt näher. Das Licht wird größer. Ich müsste jemanden erkennen können, doch da ist nur das schmutzige Licht und der Turm.
Ich bleibe stehen. Ich verschnaufe. Noch habe ich Zeit. Ich stütze mich mit den Armen auf dem Geländer ab. Nur kurz ausruhen. Dem Rauschen zuhören und das Schimmern des Mondes im schmutzigen Wasser beobachten. Meine Lungen scheinen vereist zu sein. Ich huste und habe Schmerzen. Auf der Rheinseite, von der ich kam, kann ich die leerstehenden Fabrikruinen sehen. Die zerbrochenen Fenster glitzern trüb. In anderen Fenstern fehlen die Scheiben gänzlich. Sie sehen aus wie gähnende Münder.
Den Blick abwenden. Weiter laufen. Ich muss mich beeilen. Ich nehme mich zusammen, achte nicht auf den stechenden Schmerz in meinem Hals, meinen Lungen. Auf der gegenüberliegenden Rheinseite die Lichter der Wohnhäuser. Lichter, die mein Ziel markieren. Meine Schuhe klacken auf dem Beton. Der mittlere Bogen erhebt sich schwarz über mir. Ich bin jetzt noch schneller als zuvor. Ich laufe konstant, zügig und ruhig. Kein Blick mehr zur Seite. Meine Augen sind auf die Tür gerichtet, die näher und immer näher rückt; das Licht wird größer, bald kann ich in das Innere des Turms blicken ...
Die letzten Meter werde ich langsamer. Meine Arme werden schlaffer und baumeln an den Seiten meines Körpers. Mein Atem ist jetzt schwer und tief. Ich erreiche die Tür in einem haltlosen, stolpernden Gang, während meine Hände nach der Betonwand greifen und sich daran festklammern. Ich bleibe stehen. Ich presse meine Stirn gegen die Wand und blicke in den Turm.
Es riecht nach Fäulnis und Urin. An den Wänden die Schmierereien: Namen, Abkürzungen, Zeichnungen. Eine kopflose nackte Frau. Ein Hakenkreuz. SS. KKK. Der Schriftzug: Wir kriegen euch. Die Kacheln sind schmutzig, heruntergekommen. Sie waren einmal weiß. Für die Farbe, die sie über die Jahre hinweg angenommen haben, finde ich keine passende Bezeichnung.
Aber hier ist niemand. Es ist ebenso leer wie auf der anderen Seite. Derselbe Gestank, dasselbe Bild, bis auf die Schrift, die Zeichnungen, die Abkürzungen. Niemand ist hier. Ich blicke zurück, dorthin, von wo ich gekommen bin. Das Licht hinter der Tür funkelt schwach in der Dunkelheit.
Ich setze mich hin. Ich rutsche mit dem Rücken an der Wand hinunter. Ich bin allein hier. Aber ich warte.
Irgendwann wird jemand kommen.

 

Eine bedrückende Geschichte hast Du geschrieben. Für mich geht es um enttäuschte Hoffnungen. Ein beschwerlicher Weg wird zurückgelegt, in der Hoffnung, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, das sich als nicht vorhanden erweist. Genaugenommen kommt man wieder am Anfang an, Du wiederholst gewisse Sätze, z.B. den mit der unbeschreiblichen Farbe. Der letzte Satz ist eine Frage, deren Antwort "nein" lautet, auch das ist eine unerfüllte Hoffnung.

Ziemlich düster. Einen bizarren Ort hast Du Dir dafür ausgesucht; Du beschreibst die Brücke lebendig, als wärest Du selbst schon da hoch geklettert ;-)

In der Mitte fand ich die Geschichte etwas langatmig. Im Grunde war klar, dass erst bei der Ankunft am anderen Turm irgendwas passiert, und die Handlung hängt da etwas durch.

Insgesamt habe ich, glaube ich, eine recht pauschale no-future-Geschichte gelesen. Ich weiß nämlich nicht, was der Prot für ein Problem hat und warum er auf Brücken herum klettert. Was bleibt, ist eine düstere Schilderung mit stimmiger Atmosphäre, aber kein Aha-Effekt. Gut, der muss ja auch nicht in jeder Geschichte vorkommen. Aber vielleicht hast Du einen im Hinterkopf gehabt, bloß habe ich ihn nicht gefunden. Dann erklär's mir bitte ;)

Fazit: Sprachlich gut, klare Aussage, aber ein klein wenig zu flach nach meinem Geschmack.

Uwe

 

Du beschreibst die Brücke lebendig, als wärest Du selbst schon da hoch geklettert

Das ist der Schlüsselsatz: Ich habe keine Intention gehabt, keine höhere Handlungsbene impliziert. Es war nach einem Abend auf den Rheinwiesen in Köln, und es war Sommer. Ich rannte über die Brücke, und als ich daheim war, schrieb ich meine Gedanken auf. Daher vielleicht die Oberflächlichkeit - aber ich bin Dir dankbar für Deine Kritik und will sehen, was ich verändern kann!

Gruß
unP

 

Tja, da siehst Du mal: Durchs Schreiben kommen Motive ans Licht, die vielleicht nur unbewusst existierten. Deshalb schreibe ich - ich lerne etwas über mich selbst.

 

Moin Unp.
Wer kennt sie nicht, die gute alte Südbrücke, Sinnbild der Hoffnung, Enttäuschung, der Freude und der Angst, der Hoffnungslosigkeit und der Suche, aber auch des Findens....
Der Weg, den dein Protagonist über diese Brücke beschreitet gerät ein wenig zu lang, da könntest du etwas straffen, damit gewinnt die Geschichte m. E... Die herannahende Lok führt den Leser kurzfristig auf ein falsches Gleis, das Ende kommt überraschend daher, weil er nicht findet, was er erwartet hatte... Noch darf er nicht finden... und retten...
Lord

 

Gute Geschichte; ganz ohne Zweifel.
Am Anfang hatte ich ein wenig Probleme mit den abgehackten Sätzen, da sich durch diese Schreibweise nur ein schlechtes Bild der Umgebung und der Atmo machen lässt.
Doch genau das Gegenteil war der Fall.
Bedrückend und Dunkel. So habe ich die Südbrücke eigentlich noch nicht gesehen...
Im Gegensatz zu meinen Vorgänger finde ich aber auch das Ende gut, denn es erzählt genau von jenem Effekt, den man erlebt, wenn man auf der Suche nach "Gruppierungen" ist, bzw. sich verläuft.

Schönes Ding!

 

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