Kölner Südbrücke, nachts
Kölner Südbrücke, nachts
Draußen ist es seit langer Zeit völlig dunkel, aber ich werde noch rechtzeitig kommen. Zuerst die Treppen hoch, die sich in die Höhe winden. Ich steige den Turm hinauf. Es riecht nach Fäulnis und Urin. An den Wänden die Schmierereien: Namen, Abkürzungen, Zeichnungen. Ein Strichmännchen, fast so hoch wie die verkachelte Wand, dem ein riesiger Augapfel als Kopf dient. Ein Pentagramm. Ein großes „A“ in einem Kreis für Anarchie. Ein Schriftzug: Punk ist nicht tot. Die Kacheln sind schmutzig, heruntergekommen. Sie waren einmal weiß. Für die Farbe, die sie über die Jahre hinweg angenommen haben, finde ich keine passende Bezeichnung.
Nach draußen die Fenster. Dort kann ich den Nachthimmel sehen, die weit entfernte, kaum befahrene Betonstraße, den Bahndamm und die geschlossene Imbissbude, dort, wo die Straße eine Rechtskurve beschreibt. Die Rheinwiesen entziehen sich meinem Blickfeld. Ich weiß, dass unten, am Ufer, noch ein paar Menschen sitzen und Steine ins schlammfarbene Wasser werfen.
Aber ich habe keine Zeit, keine Zeit. Ich muss weiter. Nach oben, hinaus auf den Turm, auf die Brücke. Den Gestank hinter mir lassen. Ich nehme die letzten Stufen, wobei ich es vermeide, das verschmierte, trübe Geländer zu berühren. Der weiße Lack ist abgeblättert, und ich kann das feuchte Holz darunter erkennen.
Durch die Tür nach draußen. Im Freien: Das Aroma von Feuchtigkeit und kühler, freier Abendluft. Ich habe keine Zeit, aber ich bleibe stehen. Ich kann nicht anders. Noch einmal einen ruhigen Blick auf die Brücke werfen, während die Zeit verrinnt, die Zeiger sich unaufhaltsam drehen, der Sand im Stundenglas nach unten rinnt, Zahl auf Zahlen folgt, die Zahnräder ticken. Stehen bleiben und die Brücke betrachten. Die andere Seite, dort, wo sich der Turm, durch den ich kam, die vom trüben Licht beleuchtete Tür zu spiegeln scheint. Die Tür auf der anderen Seite ist mein Fluchtpunkt. Die Lampe über den Treppen ist mein Ziel. Dorthin. In den Turm. Dort wartet jemand auf mich.
Die Brücke selbst: Drei Bögen aus Stahl, der größte in der Mitte, ein riesenhafter Rücken, der sich unter dem nächtlichen Himmel krümmt. In der Mitte verlaufen gleißend die Bahnschienen. Auf beiden Seiten der Gleise ein schmaler Betonweg, durch Geländer von der Tiefe abgegrenzt, die in den Fluss führt.
Ich laufe los. Zuerst langsam, dann schneller und schneller. Der Turm, die Tür, die Lampe schweben vor mir in der Ferne. Mein Blick geht stur geradeaus. Ich atme ruhig und flach. Unter mir fließt der Rhein. Ich höre sein Rauschen, wie das des Windes, der durch Wälder streicht. Das Wasser hat die Farbe nassen Torfs. Der Mond spiegelt sich darin. Das weiß ich, aber ich schaue nicht hinunter. Nur nach vorn. Zur Tür, zum Turm.
Schneller. Die Zeit verfolgt mich. Jemand wartet, aber er wartet nicht lange. Mit meinen Armen verleihe ich mir zusätzlichen Anstoß. Mein Atem geht ruhig, rhythmisch, schnaufend. Ich muss schneller werden. Die Tür scheint nicht näher zu kommen. Ihr Licht ist weit entfernt. Sie läuft vor mir her. Wie weit mag es sein? Einen Kilometer? Eineinhalb? Aber es ist bedeutungslos, wenn ich nur schneller bin. Meine Beine sich in einem gleichförmigen Rhythmus bewegen, auf- und zuklappen wie eine Schere.
Dort wartet jemand. Ich muss mich beeilen. Unter der Tür, im Licht steht jemand, der auf mich wartet. Der Rhein trennt uns. Die Brücke ist mein Weg, lang und gerade.
Ich laufe und denke an nichts. Ich laufe um des Laufens willen. Um zu entkommen, denn die Zeit jagt mich. Ich habe nicht einmal die Hälfte hinter mir, aber die Tür kommt nicht näher. Der Turm au der anderen Seite hebt sich schwarz gegen der Nachthimmel ab. Die Stahlbögen beugen sich unter den Sternen. Der Rhein rauscht leise und konstant.
Ein Zug kommt. Ich höre ihn hinter mir, während seine Räder auf den Gleisen kreischen. Er ist schnell. Er ist schneller als die Zeit, die mich verfolgt. Die Schienen schreien, als er auf die Brücke einfährt. Die Lokomotive, ein wütender, roter Drachen, treibt, hetzt an mir vorbei. Mein Kopf ist erfüllt vom steten Heulen und Schreien der Räder und des Motors. Die Fenster der rasenden Waggons sind schwarz. Nirgendwo brennt Licht. Ich laufe. Ich will gegen sie ankommen. Ich will schneller sein.
Ich muss mich beeilen. Wer wartet, wartet nicht lange. Wenn ich ankomme, werden wir uns in den Armen liegen, und vielleicht werden wir uns küssen. Ich laufe mit dem Zug, aber er überholt mich, und dann sehe ich nur noch die Rücklichter des letzten Wagens, wie Irrlichter, die mir meinen Weg weisen.
Ich werde langsamer. Der Kragen meines Hemds und meine Achseln sind nass, durchgeschwitzt. Ich löse meine Krawatte und werfe sie fort. Sie flattert wie eine seltsame Feder in den Rhein und wird fortgetrieben, aber das kann ich nicht mehr sehen. In der Ferne kommt ein Schiff. Ich muss mich beeilen, auch, wenn mein Hals sich anfühlt wie heißer Stahl und sich ein eiserner Ring um meine Brust gelegt hat. Wenn ich aufgebe, komme ich zu spät.
Die Tür kommt jetzt näher. Das Licht wird größer. Ich müsste jemanden erkennen können, doch da ist nur das schmutzige Licht und der Turm.
Ich bleibe stehen. Ich verschnaufe. Noch habe ich Zeit. Ich stütze mich mit den Armen auf dem Geländer ab. Nur kurz ausruhen. Dem Rauschen zuhören und das Schimmern des Mondes im schmutzigen Wasser beobachten. Meine Lungen scheinen vereist zu sein. Ich huste und habe Schmerzen. Auf der Rheinseite, von der ich kam, kann ich die leerstehenden Fabrikruinen sehen. Die zerbrochenen Fenster glitzern trüb. In anderen Fenstern fehlen die Scheiben gänzlich. Sie sehen aus wie gähnende Münder.
Den Blick abwenden. Weiter laufen. Ich muss mich beeilen. Ich nehme mich zusammen, achte nicht auf den stechenden Schmerz in meinem Hals, meinen Lungen. Auf der gegenüberliegenden Rheinseite die Lichter der Wohnhäuser. Lichter, die mein Ziel markieren. Meine Schuhe klacken auf dem Beton. Der mittlere Bogen erhebt sich schwarz über mir. Ich bin jetzt noch schneller als zuvor. Ich laufe konstant, zügig und ruhig. Kein Blick mehr zur Seite. Meine Augen sind auf die Tür gerichtet, die näher und immer näher rückt; das Licht wird größer, bald kann ich in das Innere des Turms blicken ...
Die letzten Meter werde ich langsamer. Meine Arme werden schlaffer und baumeln an den Seiten meines Körpers. Mein Atem ist jetzt schwer und tief. Ich erreiche die Tür in einem haltlosen, stolpernden Gang, während meine Hände nach der Betonwand greifen und sich daran festklammern. Ich bleibe stehen. Ich presse meine Stirn gegen die Wand und blicke in den Turm.
Es riecht nach Fäulnis und Urin. An den Wänden die Schmierereien: Namen, Abkürzungen, Zeichnungen. Eine kopflose nackte Frau. Ein Hakenkreuz. SS. KKK. Der Schriftzug: Wir kriegen euch. Die Kacheln sind schmutzig, heruntergekommen. Sie waren einmal weiß. Für die Farbe, die sie über die Jahre hinweg angenommen haben, finde ich keine passende Bezeichnung.
Aber hier ist niemand. Es ist ebenso leer wie auf der anderen Seite. Derselbe Gestank, dasselbe Bild, bis auf die Schrift, die Zeichnungen, die Abkürzungen. Niemand ist hier. Ich blicke zurück, dorthin, von wo ich gekommen bin. Das Licht hinter der Tür funkelt schwach in der Dunkelheit.
Ich setze mich hin. Ich rutsche mit dem Rücken an der Wand hinunter. Ich bin allein hier. Aber ich warte.
Irgendwann wird jemand kommen.