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Käsesandwich in Lewisham
Graham wollte es erneut mit Vernunft und positivem Zuspruch versuchen, obwohl er im Gegenzug nichts als Trotz erwartete. Dabei war er nicht weniger zornig als sein Freund.
„Sollen sie doch kommen! Schlimmer als damals, '77, kann es nicht werden“, hatte Andrew gesagt, dieser sture Hund, und sich mit dem Stock ans Knie getippt.
„Wir sind keine zwanzig mehr! Und im Viertel hat sich vieles geändert. Warst du schon beim Stadtrat?“, hakte Graham nach, was mit einem Blick aus verengten, braunen Augen quittiert wurde. „Ich muss noch zu Sainsbury´s. Die haben den guten Cheddar im Angebot“, sagte Andrew mitten in ihrer Diskussion. Vor Wut hätte Graham ihn fast geohrfeigt. Doch da war Andrew schon zur Hintertür hinaus und ließ ihn mit offenem Mund und trüben Gedanken über die Zukunft zurück. Graham brauchte nicht zu den dunklen Wolken hochzuschauen, die über ihnen im Südosten Londons aufzogen, um zu wissen, dass sich ein Gewitter zusammen braute.
Graham wischte mit dem Handrücken die Brotkrümel vom Tisch und stellte das Geschirr in die Spüle. Die Tassen klirrten aneinander, als sie ihm im Wasserstrahl aus den Händen rutschten. Er drehte den Hahn zu, griff nach dem Geschirrtuch und blinzelte ein paar Mal, um den Blick zu klären. Damals half er gerade seinem Vater, das defekte Gartentor zu reparieren, als Andrew gemeinsam mit den Eltern und zwei jüngeren Geschwistern die Koffer ins Haus nebenan trug. Die Aussicht auf besser bezahlte Arbeit und eine gute Schulausbildung der Kinder, ließ sie ihrer Heimat Jamaika den Rücken zukehren. Anfangs hielt Graham den Ausdruck in Andrews Blick für Arroganz. Später erkannte er die Stärke darin. Andrew gehörte zu den Menschen, die alle anderen im Raum verstummen ließen, in der Befürchtung, etwas zu verpassen. Mit keinem sonst konnte Graham gleichermaßen leidenschaftlich über Mädchen und Politik streiten. Wobei nichts davon sie ernsthaft entzweien konnte. So war es immer geblieben.
Doch als vor mehr als vierzig Jahren, an einem Morgen im August, Anhänger der National Front auf seinen besten Freund zurannten, schleuderte die Angst sämtliches Blut aus Grahams Kopf. Die Hände hinter dem Rücken verzurrt, lag er auf dem Bauch und sah, wie sie Andrew einholten und zu Boden rissen. Grahams Rufe vermischten sich mit denen anderer, verloren sich in den gebrüllten Parolen und dem Takt der Gummiknüppel, die auf Schilde knallten. Andrew hielt die Arme schützend vor dem Kopf, während kahlgeschorene Schlägertypen ihn in den Magen traten und auf die Beine einprügelten. Bobbys trieben sie auseinander. Seither machte Andrew das kaputte Knie zu schaffen. Auch wenn er meinte, mit dieser Heldenverletzung bei Frauen zu punkten.
Andrew lehnte es immer noch ab, rüber in das freie Zimmer bei Graham zu ziehen. Dieser verdammte Dickschädel. Die Mieten in der Gegend waren nicht so hoch wie im Norden der Stadt. Trotzdem würde er ohne seinen Arbeitslohn die Miete für das Haus bald nicht mehr bezahlen können. Im Radio liefen erneut Berichte über drohende Abschiebungen, wegen fehlender Herkunftsnachweise. Und die Regierung begründete ihr Handeln schlicht mit den neuen Gesetzen. Grahams Gesichtszüge versteinerten sich. Andrew war nicht weniger britisch als er selbst. Er würde nicht zögern, sich vor seinen Freund zu stellen.
Er beschloss, dass er genug Zeit mit Nichtstun verbracht hatte. Nach drei Tagen Funkstille verließ Graham das Haus über den Küchenausgang, hinein in den schmalen, von Bretterzäunen gesäumten Hinterhof. Eine enge Pflasterstraße führte hinter den Backsteinreihenhäusern entlang. Graham entriegelte das Holztor des Nachbargrundstücks – wie so oft in den Jahrzehnten – ging zur Hintertür und fand sie verschlossen vor. Auch sein Klopfen blieb unbeantwortet. Als er zurückging, fluchte Graham lautstark. Er würde es an der Vorderseite probieren müssen. Wieder keine Reaktion. Dieser störrische Esel hatte ihn bestimmt kommen sehen und stellte sich taub. Mit der Hand schirmte er das Sonnenlicht ab und spähte durch das Erkerfenster ins Innere. Bunte Holzfiguren verschiedener Größe und dicke Bücher mit abgegriffenen Einbänden füllten die Regale im Wohnzimmer. Andrew war nicht auszumachen und an der gegenüberliegenden Wandgarderobe fehlte der Gehstock. Als Graham sich zum Gehen abwenden wollte, fiel sein Blick auf die Kommode neben dem Fenster, auf der ein geöffneter, hellblauer Briefumschlag mit amtlichem Stempel lag. Mehr musste er nicht erkennen, um zu wissen, dass Andrew fort war. Er trat zurück und sah sein eigenes Spiegelbild. Andrew hätte es ihm sagen können, ihm sagen müssen, dass er einen Bescheid erhalten hatte. Wie konnte Andrew ohne Verabschiedung gehen? Sie hatten über eine mögliche Abschiebung gesprochen. Und Andrew wusste um Grahams Kampfgeist, wenn es um ihre Freundschaft ging. Eine Welle aus Panik überrollte ihn, ließ die Beine wegsacken und Graham auf die Türschwelle zusammensinken. Und die Wut in seinem Bauch wich einer beißenden Traurigkeit. Mit der Hand wischte er sich über das Gesicht. Dann hob Graham die rechte Hüfte an, holte die Brieftasche hervor und zog die alten Fotos raus, auf denen die Kinder noch klein waren. Wie sollte er ihnen sagen, dass ihr Patenonkel fortgeschickt worden war? In ein Land, das er seit seiner Kindheit nicht mehr betreten hatte. Der Wind, der durch die Gassen wehte, zerzauste sein Haar, half ihm aber nicht, einen klaren Kopf zu bekommen. Früher hingen oft dicke Schwaden von Kohlerauch zwischen den Häusern, der die Wäsche grau färbte, wenn der Wind ungünstig stand. Graham verstaute gerade die Brieftasche, als er ein vertrautes Pochen auf den Gehwegplatten wahrnahm und über die rechte Schulter hinweg Andrew die Straße hochkommen sah. Am liebsten wäre Graham aufgesprungen, ihm entgegengerannt und hätte ihn fest an sich gedrückt. Aber die Beine machten nicht mit.
Andrew stutzte beim Anblick seines Freundes, der erst die Handflächen nach oben hielt, als wollte er Regentropfen auffangen, sie dann sinken ließ, zu Boden blickte und den Kopf schüttelte. „Hey, alter Mann. Was ist mit dir?“
„Ich dachte …“ Graham schenkte ihm ein schwaches Lächeln und kam sich plötzlich lächerlich vor. Er runzelte die Stirn. „Was ist in dem Brief auf der Kommode?“, war alles, was er noch hervorbrachte.
„Meine Papiere“, antwortete Andrew. „Im Archiv gab es Aufzeichnungen über meine Einreise als Kind, weil ich auf der Verletztenliste der Schlacht stand.“ Er zuckte mit der Schulter. „Damit klärt sich alles, haben die versprochen“, setzte er leichtfertig nach, als ob ihm das von Anfang an klar gewesen wäre. Dabei hatte Graham die Sorgen in seinen Augen gesehen, genau wie die brennenden Lichter in der Nacht und die gepackte Tasche hinter der Küchentür.
Als Graham nichts erwiderte, nickte Andrew, holte den Schlüssel hervor und öffnete die Tür. „Komm rein!“ Er tätschelte ihm im Vorbeigehen den Nacken. „Ich mach uns Käsesandwiches.“
Er blieb noch fünf, vielleicht zehn Minuten sitzen, schaute auf die Häuserfronten der Straße mit den kleinen Vorgärten, einige platt gemäht, andere voller Gestrüpp, und beobachtete Kinder in dunkelroten Schuluniformen, die Schulter an Schulter liefen und sich vertraut Sachen ins Ohr kicherten, bevor er tief durchatmete, aufstand und seinem Freund ins Haus folgte.