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Kämpfernatur
Wenn man von einer sagen wir mal ungefähr fünfzehn Meter hohen Steilküste in den Atlantik stürzt, steht man unter Schock, das kann ich Ihnen versichern. Alle Sinne werden geschärft, noch während des freien Falles. Ein unvorsichtiger Schritt, nachgebendes Gestein und ab geht die Post. Die Felsgruppen und bizarren Klippenformationen haben nichts Malerisches mehr, sie wirken nur noch beängstigend. Man spannt den Körper an, um sich beim Aufprall nicht alle Knochen zu brechen – immerhin braucht man seine Gliedmaßen möglichst intakt und gut erhalten, vor allem, wenn man keine Hilfe erwarten kann, da man sich einen unwirtlichen und menschenleeren Platz für seine Angleraktivitäten ausgesucht hat und dadurch gezwungen ist, sich selbst zu helfen.
Da habe ich mich also in halsbrecherischer Manier auf die steilsten Klippen gewagt, zwecks eines guten Angelplatzes. Viele Angler können gut klettern – inklusive meiner Wenigkeit, aber es gibt jedes Jahr auch schlimme Stürze – nur dass ich noch nie davon betroffen war.
Bis jetzt, wohlgemerkt.
Ich bin in Seenot geraten und auf mich alleine gestellt. Aber welche Chance habe ich?
Im Alleingang gegen Wind, Wellen und Unterströmungen ankämpfen – so habe ich mir den Tagesablauf eigentlich nicht vorgestellt. Im Gegenteil, der Tag hätte ablaufen müssen wie seit eh und je, schließlich bin ich kein blutiger Anfänger was das Fischen auf den Klippen betrifft. Meine Frau wird heute aus den gefangenen Aalen kein Gericht mit Salbeibutter, das sie so unvergleichlich gut zubereiten kann, kreieren. Nein, heute hat der tosende Atlantik ihren Mann verschluckt als würde er sich zurückholen, was dieser ihm all die Jahre mühsam entrissen hat.
Jedenfalls darf ich nicht in Panik geraten. Panik macht koordiniertes Handeln unmöglich und kann eine fatale Kette von Fehlhandlungen verursachen. Abläufe, die nicht verinnerlicht sind und nicht zuvor realistisch geübt wurden, werden in Panik mit höchster Wahrscheinlichkeit falsch, unvollständig oder gar nicht genutzt, das weiß jedes Kind.
Die Kälte nimmt einem den Atem wenn man tief unter die Wasseroberfläche gedrückt wird. Man kommt hoch und die erste Welle wogt über den Kopf, der gleich einem Spielball im Wasser auf- und abhüpft, hinweg. Gischt spritzt einem ins Gesicht und in den nach Luft schnappenden Mund hinein. Man hustet verzweifelt, dann ist auch schon der nächste Schwall Wasser da, das perfekte Folterwerkzeug. Das feste Schuhwerk macht das Schwimmen auch nicht leichter.
Die Wellen müssen nicht besonders hoch sein um den Körper hilflos gegen die nächste Klippe schleudern zu können. Das ist ein ziemlich schwer wiegendes Problem, vor allem, weil der Mensch nicht dafür geschaffen ist, mit voller Wucht gegen hartes Gestein zu prallen. Man ist schließlich keine Panzerechse. Und natürlich kommt es wie es kommen muss, ein Teil des Körpers wird zerschmettert, in diesem Fall meine rechte Körperhälfte. Ich spüre keine Schmerzen und habe auch nicht die Zeit den Schaden zu begutachten. Meine Finger krallen sich in das nasse Gestein und ich beginne mich auf der Suche nach Felsvorsprüngen mühsam hoch zu ziehen. Ich fasse Mut - wenn es mir nur gelingt, bis nach oben durch zu halten. An meine Familie denkend, beginne ich mit dem Aufstieg an dieser tödlich glitschigen Steilwand.
Fingernägel brechen bis tief ins Fleisch ab, meine Arm- und Beinmuskulatur beginnt unkontrolliert zu zittern, aber mit aller Kraft treibe ich mich voran. Ruhe wird mir nicht vergönnt, die Felsvorsprünge sind zu schmal, bieten kein Plateau, auf dem ich mich ausruhen könnte, aber wenigstens gibt es keine Überhänge, die meinen sicheren Tod bedeuten würden.
Bei der Hälfte des Marathons verharre ich, meine Kraftreserven neigen sich dem Ende zu. Tränen laufen über mein Gesicht, ich denke an meine Frau und die Kinder. Dann setzen die Schmerzen ein, grausame stechende Schmerzen, als würden mir tausend Messer in den Leib getrieben. Der Augenblick der Wahrheit ist gekommen, ich sehe an mir herunter und unterdrücke einen Aufschrei. Durch meine zerfetzte Jacke kann ich die weißlich blitzenden Knochen meiner bloßgelegten Rippen sehen, das aufgeschlitzte Fleisch hängt in einem traurig baumelnden Lappen herunter.
Ich beiße die Zähne zusammen und klettere weiter. Jede Bewegung wird zur Höllenqual, jeder Zentimeter den ich schaffe, bezahle ich mit Schmerzen, von denen ich nicht wusste, dass es sie überhaupt geben kann. Nebel steigt in mir auf, ich merke, dass ich drauf und dran bin, das Bewusstsein zu verlieren. Aber das darf nicht sein. Wenn ich jetzt ohnmächtig werde, ist es aus und vorbei mit mir, daran gibt es nichts zu Rütteln.
Der letzte Meter. Ich greife über den Rand, ziehe mich hoch, ich weiß jetzt, dass ich es schaffen werde. Meine eiserne Willenskraft hat es möglich gemacht. Ich werde überleben.
Die nächsten Wochen werde ich zwar keinen Aal essen, sondern höchst wahrscheinlich an einen Tropf angeschlossen in einem Krankenbett liegen, aber ich habe es vollbracht mir selbst das Leben zu retten.
Schluchzend und wimmernd treibe ich meinen Körper weiter voran, mit einem Bein bin ich bereits über dem mir so verhängnisvoll gewordenen Klippenrand, dem Ziel so nahe. Dann verliere ich mit dem anderen Bein den Halt, rutsche ab, pralle auf meine verletzte Seite und die tosende See unter mir hat mich wieder.
Luftanhalten. Schlucken von Flüssigkeit. Panik. Noch mehr Flüssigkeit. Erbrechen. Nicht unterdrückbares Einatmen. Schaumbildung in der Lunge. Zwerchfellzittern. Stimmritzenkrampf. Keine Atmung mehr möglich. Deadline.