Kältetod
Endlich. Fast hätte sie gedacht "endlich daheim", aber das war es ja nun doch nicht... Eher der Weg dorthin. Zwischenstation. Ein Hafen. Wasser gab es hier genug, schönes kaltes erfrischendes Wasser. Sie atmete tief durch, ließ die angenehme Luft ihre Lungen durchfluten. Ja... Es tat gut. War befreiend, verdrängte das stickige alte Leben aus ihr, das sie bisher ausgefüllt hatte.
Sie wollte mehr davon. Wollte es intensiv spüren, dieses Gefühl auf ihrer Haut. Langsam zog sie ihre Schuhe aus. Ihre Fußsohlen erfühlten die neue Welt unter ihr. Zuerst krümmte sie ihre Zehen, ließ sie ein wenig kreisen, doch dann ergab sie sich der Kühle. Leichter Schmerz, ziehend und stechend, stieg ihre Waden empor. Sie fühlte. Hier konnte sie endlich wieder fühlen, und es war ihr noch nicht genug.
Sie öffnete den Verschluss ihrer Hose und ließ sie an sich zu Boden fallen. Langsam stieg sie aus ihr heraus und ging neben ihr in die Hocke. Die Kühle erfasste ihre gesamten Beine und drang in ihren Unterleib vor. Das Fühlen folgte ihr, von unten nach oben. Langsames Strecken der Arme, das Abstreifen ihres Pullovers, der sie bisher in warmer Umarmung behütet hatte vor dem Leben. Auch ihn wollte sie nicht mehr. Er fiel zu Boden, auf den dort liegenden und schon ganz steif gewordenen Stoff der Hose.
Aus einem Reflex heraus schlang sie zunächst die Arme um sich - dann zwang sie sich dazu, es nicht zu tun. Alles zulassen, alles spüren. Endlich wieder. Der Schmerz erreichte die Herzgegend. Jahrelanges inneres Leiden wurde konkret, wurde nun von außen verursacht, und es war wundervoll.
Sie hatte Mühe, ihre Zehen noch zu fühlen, gleiches galt in zunehmenden Maße für ihre Beine, bald würde ihr ganzer Körper taub sein. Warten auf den Beginn der Reise. Nicht mehr lange, und alles würde vorbei sein. Der Start in eine neue Welt, das Zurücklassen des Alten, das sie hasste.
Das Summen der Maschinen war wie Musik in ihren Ohren, und die Bildung immer neuer Eiskristalle auf ihrer Haut registrierte sie glücklich, aber mit wachsender Schläfrigkeit. Nun schmerzte nichts mehr. Alles war gefühllos, auch in ihrem Innern. Endgültige Befreiung, sie war glücklich, es noch erleben zu dürfen, und ihr Lächeln blieb für immer erhalten.