Kälte
Ich spüre wie die Kälte in mir hochkriecht. Wie sie sich von den Zehen langsam bis in meine Beine vorarbeitet und dann unaufhörlich weiter kriecht bis sie fast bei meinem Herzen angelangt ist. Das ist der schrecklichste Teil: wenn die Kälte langsam das Herz ergreift und damit schlagartig auch der Rest des Körpers auskühlt. Als wäre man schon tot. In diesem Zustand hilft keine noch so dicke Decke mehr, keine fünf Pullover übereinander angezogen, keine noch so dicken Wollsocken oder andere Produkte der Textilindustrie. Eine kleine Chance besteht wenn ich mir ein heißes Bad einlasse aber selbst das hilft nicht immer denn dies ist die kognitive Kälte. Die Kälte, die mich immer ergreift wenn ich eine tiefe Abneigung etwas was ich in Kürze tun muss, hege. Oder wenn mir wieder die Sinnlosigkeit des Alltags bewusst wird oder mich das Gefühl der Einsamkeit daran hindert aus dem Bett zu kriechen. In diesen Phasen des Lebens wünsche ich mir ein anderes, ein glücklicheres auch wenn ich nicht weiß, wie es aussehen könnte. Beneide meine glücklichen Alltagsgenossen, die auch in der Lage sind sich an der Banalität des Alltags zu erfreuen. Die lachen und denen nur selten kalt ist.
„Natascha! Aufstehen!“ tönt es durch die geschlossene Tür. Meine Mutter. Ich murmele etwas von „ Nur noch fünf Minuten“ und versuche die Tränen zurückzuhalten. Meine Gedanken schweifen wieder zu den Gefühlen des Tages, die unwillkürlich auftauchen wenn ich voll Angst die Welt um mich beobachte. Die teilnahmslosen Gesichter der Menschen, die in der Düsterkeit des Winters mit sich selbst und ihren eigenen Problemen beschäftigt sind, tauchen vor meinem geistigen Auge auf und jagen mir Angst ein. All die möglichen Anforderungen des Tages, die auf mich zukommen könnten, fallen mir ein. Einem Lehrer eine Frage zu stellen, wird zum unüberwindbar erscheinenden Hindernis. Dann drängen sich die Termine der nächsten Schularbeit in meinem Kopf in den Vordergrund. Verzweifelt versuche ich die Panik zu unterdrücken, die nun in mir aufsteigt. Um mich herum wird es immer kälter, ich habe nun das Gefühl erfrieren zu müssen. Mein Körper zuckt und die Zähne klappern.
Als meine Mutter endlich klopft und hereinkommt, habe ich blaue Lippen und bin ganz weiß im Gesicht. Besorgt runzelt sie die Stirn und meint: „Du siehst nicht gut aus. Ich glaube, du solltest mal einen Tag zu Hause bleiben.“ Es tut gut, diese heißersehnten Worte zu hören. Ich bin erleichtert, kann regelrecht spüren wie mir eine schwere Last vom Herzen genommen wird. Einige Sekunden lebe ich mit dieser Vorstellung, wie es sein würde, sich dem Alltag einmal nicht stellen zu müssen. Doch dann fällt er mir wieder ein, ein Grund warum es unmöglich ist, zu Hause zu bleiben: eine immer näher rückende Schularbeit für die noch gelernt werden muss, ein Aufsatz, der noch unbedingt abgegeben werden muss, die beste Freundin, die ihren Liebeskummer loswerden will, ...
Mit den Tränen kämpfend, stehe ich schließlich auf. Es hat keinen Sinn. Ich muss. Zur Beruhigung meiner Mutter murmele ich, dass es mir gut geht und schlüpfe so schnell es geht in die wärmsten Sachen, die ich habe. Selbst darin wird mir nicht wärmer.
Ich werde diesen Tag irgendwie überstehen. Und morgen dann werde ich daheim bleiben. Zumindest für einen Tag. Vielleicht auch länger. Am besten: für immer. Aufgeben, sich verkriechen, nie mehr aus dem Haus gehen. Das sind meine Träume von der Zukunft. Nie wieder Kälte, nie wieder Angst...