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Käferbohnen
„Wie wars in der Klinik?“
Das war seine Begrüßung, als er in der Tür erschien und sich neben mir aufs Bett fallen ließ. Ich war bei meiner achten Zigarette und auf dem besten Weg, mein Zimmer in eine Nikotinhölle zu verwandeln, der selbst meine Duftkerzen und Deosprays nicht gewachsen waren. Normalerweise rauchte ich aus dem Fenster und beobachtete dabei lustlos die Nachbarn, aber heute kümmerte mich der Gestank, der sich in Bettwäsche und Polster fressen würde, wenig.
„Okay.“ Ich lag auf dem Rücken, in der exakt selben Position, die ich eingenommen hatte, als ich vor zwei Stunden nach Hause gekommen war, und starrte hinauf zur Decke. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Levin nach der Camel Filters Packung griff.
„Fühlt es sich anders an?“
Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, was er meinte. Bescheuerte Frage. Einfach bescheuert.
„Fühlt es sich anders an? Was meinst du denn? Dass ich das spüre, wenn der Embryo plötzlich nicht mehr da ist? Denkst du, Frauen pinkeln zum Spaß auf Teststreifen?“
Er zündete sich seine Kippe an und zuckte mit den Schultern.
„Schätze nicht. Aber mental gesehen-“ Levin deutete auf seinen Kopf. „-fühlt es sich da anders an? Ist die Welt wieder in Ordnung?“
„Die 'Welt', Levin, wird nie in Ordnung sein. Menschen hungern, Menschen führen Krieg, Menschen sind obdachlos, Menschen sterben.“, gab ich zurück. Und dann, aus einer morbiden Laune heraus: „Manche an Lungenkrebs.“
„Unsere Welt. Du und Ich. Wir beide. Nur wir beide.“
Nur wir beide. Wir, ohne den Rest der Welt, wir, ohne den Embryo. Ich erwiderte nichts, obwohl ich seinen Blick auf mir spürte. Ich schaffte es gerade noch, die Zigarette im Aschenbecher abzuklopfen, bevor die Asche im Bett landete. Levin fragte nicht, warum ich meine strikte 'Entweder aus dem Fenster oder gar nicht' Regel, was das Rauchen in meinem Zimmer anbelangt, gebrochen hatte.
„Wie wars beim Fußballtraining?“
Die nächsten fünf Minuten erzählte er vom Training, wie der Rasen nicht gemäht worden war, wie Thomas immer noch eine hoffnungslose Null beim Passen war, wie der Trainer sie zwanzig statt zehn Runden ums Feld hat laufen lassen, nachdem sie sich wiederholt über den Rasen beschwert hatten, wie Anna aufgetaucht war und zugesehen hatte, woraufhin Nils so nervös geworden war, dass er scheinbar in Rekordzeit die Grundlagen der Ballführung vergessen hatte. Er erzählte noch viel mehr, aber ich hörte nur mit halbem Ohr hin und schaltete irgendwann komplett aus, um mich wieder meinen eigenen Gedanken zu widmen. Nach einer Weile merkte ich, wie Levin mich von der Seite anstarrte.
„Was?“
„Hast du überhaupt zugehört?“
„Hm, ja. Nils steht auf Anna und der Ball muss ins Tor.“
Levin seufzte genervt, dann lehnte er sich über mich und blockierte den Blick zur Decke. Seine Kippe machte er im Aschenbecher aus. „Wieso bist du so schlecht gelaunt? Ist doch alles gut jetzt, oder?“
Ich wollte ja sagen. Ich wollte ja sagen, ohne dass es eine Lüge war, aber stattdessen rauchte ich weiter, als ob der Tabak mir innere Ruhe und Zufriedenheit bescheren könnte. Plötzlich störte es mich, dass die Worte 'Wie geht’s dir?' einfach nicht über Levins Lippen kamen.
Levin sah mich an. Ich sah zurück, denn auf die Decke konnte ich nicht mehr sehen. Zwischen uns schlängelte sich der Rauch meiner Zigarette empor.
„Du hättest mich wenigstens abholen können“, murmelte ich.
„Training, Schatz“, erwiderte er.
„Du hättest es verpassen können.“
„Mia...Eine Abtreibung ist keine Partneraktivität. Was hätte ich denn machen sollen? Dem Arzt über die Schulter schauen, ob er alles richtig macht? Im Wartezimmer sitzen und durch Frauenmagazine blättern?“
„...Nein.“
„Na eben. Ist doch alles glatt gegangen. Und jetzt, wo es erledigt ist, müssen wir uns auch keinen Kopf mehr darüber machen.“
„Okay.“
Er sah mich immer noch an. Ich sah ihn immer noch an.
„Levin...“
Er nahm mir die Kippe weg, warf sie beiseite und presste seine Lippen auf meine. Er schmeckte nach Nikotin. Ich schmeckte nach Nikotin.
„Levin.“
„Mia.“
„Ich kann nicht aufhören, an Käferbohnen zu denken.“
Er sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren.
Ich seufzte. Er setzte sich wieder neben mich.
„Käferbohnen?“, wiederholte er. „Warum um alles in der Welt Käferbohnen?“
Irgendwo in mir drinnen, in der Magengegend, tobte nervöse Unruhe.
„Bei Pro Familia-“, fing ich zögernd an, „Hat die Frau gemeint, dass der Embryo ungefähr so groß ist wie eine Käferbohne.“
„Das sind alles Hampelmänner, die bei Pro Familia.“
„Du warst ja nicht mal dabei.“
„Na und? Hör dir das doch mal an. Käferbohne, was fürn Schwachsinn. Da gehst du hin, hoffst auf professionelle Beratung oder zumindest die blöde Bescheinigung, und die kommen dir mit Gemüse.“
„Meine Großeltern haben uns früher immer zu Grillparties in ihrem Garten eingeladen. Die ganze Familie. Jeder hat mitgeholfen. Opa und Papa haben Fleisch gegrillt, meine Tanten haben Grillsaucen gemacht und Brot aufgeschnitten, meine Cousins haben die Getränke rausgebracht, und meine Schwester und ich haben den Tisch gedeckt. Und Oma hat Käferbohnensalat gemacht.“
„Ähm...okay, hört sich nett an?“
Ich wollte, dass Levin verstand, was das bedeutete, was es mir bedeutete, aber ich konnte das Gefühl nicht in Worte fassen, genauso wenig wie ich den Geschmack von Käferbohnensalat beschreiben konnte. Ich war nicht mal ein großer Fan von Bohnen, aber damals, bei den Grillparties, hat er einfach dazu gehört. Und er hat mir da immer besser geschmeckt als an jedem anderen Tag. Ich war immer noch dabei, das zu begreifen und mir die jährlichen Abende so detailliert wie möglich in Erinnerung zu rufen, als Levin fragte, ob ich etwa Appetit auf Käferbohnensalat hätte. Ich schüttelte den Kopf. Ich war mir nicht mal sicher, ob ich je wieder Käferbohnensalat essen konnte, ohne an den Embryo zu denken. Aber darum ging es gar nicht.
„Laura hat den Salat nie angefasst. Am Anfang, weil sie dachte, es würden echte Käfer in den Bohnen leben, und später, als sie älter war, einfach aus Prinzip“, murmelte ich und sah immer noch auf die Decke, denn in Levins Gesicht stand nur Unverständnis geschrieben. „Und Onkel Philipp hat am meisten gegessen. Vom Salat und von allem anderen auch.“ Onkel Philipp war von Jahr zu Jahr dicker geworden, was aber niemanden außer Tante Agnes gestört hatte.
„Das Problem ist-“ Meine Finger spielten mit der Zigarettenpackung. „Ich werd irgendwann mal die Oma sein, die Käferbohnensalat oder irgendeinen anderen Salat für Grillparties macht und -“
Levin fiel mir, leicht grinsend, ins Wort. „Eine heiße Oma.“
Ich ignorierte ihn. Die nervöse Unruhe verwandelte sich in einen Tornado.
„Und wenn wir dann abends draußen zusammensitzen und essen und zusehen wie die Sonne untergeht und Kerzen am Tisch anzünden und von den Gelsen gestochen werden und lachen und trinken, was ist, wenn da jemand fehlt?“
Levin starrte mich an. „Wer soll denn- was, der Embryo?“ Panik schlich sich in seine Gesichtszüge. „Du hast die Abtreibung aber durchgezogen, oder? Mia?“
„Was ist, wenn ich meine Kinder und Enkelkinder beobachte, wie sie Grillsaucen machen und den Tisch decken und Limonade in Gläser füllen und spielen und sich fragen, ob in Käferbohnen wirklich Käfer hausen, und was ist, wenn ich mir dann wünsche, dass die Familie komplett wäre, aber sie wird nie komplett sein, weil ich vor Jahrzehnten jemanden ausgeschlossen hab? Was ist, wenn ich es nicht jetzt bereue, aber dann?“
„Hey, jetzt beruhig dich mal.“ Aber er selbst war auch nicht ruhig. „Der Embryo ist weg, richtig? Alles ist wieder beim Alten? Wir können die Schule fertig machen und dann tun und lassen, was wir wollen, nicht wahr?“
„Ja.“
„Ja?“
„Der Embryo ist weg.“
Levin schien beruhigt, aber trotzdem noch etwas verwirrt.
„Also...hast du postpartum?“
Noch so eine bescheuerte Frage. Er hatte das Wort wohl im Biologieunterricht aufgeschnappt, als er mal nicht damit beschäftigt war, am Handy zu spielen. Ich griff nach Zigarette Nummer neun.
„Postpartum kriegt man nach der Geburt des Kindes“, sagte ich.
„Post-abtreibung“, schlug er vor
„Nein. Ich denk nur nach.“
Er sagte eine Weile lang nichts. Dann: „Kommst du mit auf Andis Party heute? Soll flüssig werden. Andi und Thomas haben angeblich literweise Alkohol eingekauft. Die haben den ganzen Mist fast nicht in den Kofferraum gebracht.“
„Nein.“
„Jetzt komm. Das wird lustig und bringt dich wieder auf andere Gedanken.“ Levin stieß mich von der Seite an. „Komm schon. Willst du etwa den restlichen Abend hier versauern und über Käferbohnen nachdenken?“
Ich hatte die ersten acht Zigaretten langsam geraucht, aber bei der neunten ließ ich mir noch mehr Zeit. Ich behielt den Rauch eine Weile lang im Mund, sog ihn dann in die Lungen und stieß ihn durch die Nase wieder aus. Das Ganze wiederholte ich so lange, ohne etwas zu sagen, bis Levin wieder das Wort ergriff.
„Komm schon, Mia. Wir vergessen die letzte Woche und machen so richtig einen drauf. Wir trinken Bier, rauchen, und lachen über Nils Versuche, sich an Anna ranzumachen. Ich versprech dir sogar, ich füll dich nicht wieder ab, bis du dir das Oberteil vom Körper reißt und auf dem Tisch einen auf erotische Tänzerin machst...obwohl das schon ziemlich sexy war.“
„Burlesque“, erwiderte ich.
„Wie auch immer.“ Er lachte.
Ich lachte nicht.
„Jetzt komm schon“, flehte er mich an.
Mein Zimmer stank nach Rauch. Ich war müde. Kurz dachte ich an die vielen Parties, auf die wir gemeinsam gegangen waren. Levin und Mia. Mia und Levin. Alle in unserer Schule wussten von unserer Beziehung, und alle wussten, dass wir zusammen alt werden würden. Weil wir Levin und Mia waren. Weil wir immer aneinander klebten. Weil wir zusammen unglaublich dumme Sachen machten, wie Zigaretten von der Tankstelle klauen und nachts in Schwimmbäder einbrechen. Weil wir Spaß hatten und alles locker sahen. Weil seine Eltern mich bereits als einen Teil ihrer Familie ansahen, weil meine Schwester und seine Schwester eng befreundet waren, weil wir beide Team Vanilleeis waren und Schokoeis unausstehlich fanden, weil wir an Sommerabenden im Gras lagen und ich die Sterne zählte, während er über Fußball redete, weil wir uns beide einig waren, als wir mal kein Kondom hatten und die Stimmung perfekt war, dass einmal keinmal war.
Und dann dachte ich wieder an die violett-schwarzen Käferbohnen und wie meine Oma sie vor der Zubereitung in Wasser eingeweicht hatte und wie schön die Grillabende gewesen waren und wie gut das Fleisch geschmeckt hatte, und wie meine Cousins sich immer beschwert hatten, dass mein Opa Pfirsich – statt Zitroneneistee gekauft hatte, und wie mein Opa jetzt im Altersheim war und meine Oma nicht mehr am Leben.
Und dann sagte ich: „Levin, ich denke wir sollten uns trennen.“