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Juni, das Ende der Liebe
Ophelia saß an Joshuas Bett, und er sah friedlich aus, aber Ophelia wusste, dass er kämpfte. Einen Kampf, den er alleine kämpfen musste, auch wenn sie ihm noch so gerne in der Schlacht beiseite gestanden wäre. Wie konnte das Schicksal so grausam sein? Wieso ließ es sie nicht helfen, so wie er ihr immer geholfen hatte. Sie erinnerte sich an jene Nacht, als ihr Vater sie aus dem Gutshaus geworfen hatte, und sie in ein Hotel geflüchtet war. Ihr Vater hatte erfahren, dass sie mit Joshua zusammen war, und konnte es nicht dulden, dass sie einen Kurierfahrer heiraten wollten. Er hatte ihr unerhörtes Betragen vorgeworfen. Dass sie Joshua nicht wirklich liebe, sondern nur aufbegehren wollte gegen das Elternhaus. Und dann hatte er Ophelia vor die Wahl gestellt, und natürlich hatte sie sich für Joshua entschieden, denn sie liebte ihren Vater, aber Joshua war ihr Leben.
Als Joshua zu ihr ins Hotelzimmer kam, starrte sie in den stummen Fernseher. Sie fiel ihm um den Hals und weinte bitterlich, aber alleine seine Anwesenheit beruhigte sie und bewies ihr, dass sie sich trotz des Schmerzes richtig entschieden hatte. Sie hasste ihren Vater dafür, dass er Joshua verschmähte, und ihre solchen Gram bereitete, aber Joshua hatte in seiner Großherzigkeit nur Verständnis für ihn. Er kann eben auch nicht aus seiner Haut, sagte er zu ihr. Eines Tages, wird er erkennen, dass es nur um die Liebe geht, und dann wird er akzeptieren, dass unsere Seelen sich berührt haben, lange, bevor wir uns zum ersten Mal trafen und nichts uns zu trennen vermag.
Schon damals hielt Ophelia ihn für einen Engel, der gekommen war, sie zu retten. Und schon damals lachte er laut darüber, und sagte ihr, sie sei der Engel, sie müsse nur noch lernen, zu fliegen.
Seine Kraft schwand, er ließ ihre Hand los und ging. Ein hoher, stetiger Ton füllte den Raum und erlosch sogleich mit einem Klick. Eine Träne fand ihren Weg über Ophelias Wange, tropfte auf das Laken, zog ein. Auch, wenn er losgelassen hatte, sie konnte es nicht. Sie hielt ihn ganz fest, strich ihm über die Wange, küsste ihn, legte ihren Kopf auf seine Brust, wie sie es immer so gern getan hatte. Doch dieses Mal war es anders. Dieses Mal hörte sie sein Herz nicht schlagen. Es war stumm.
»Frau van Wellinghoff.« Die Stimme riss Ophelia aus der stillen Leere. Im ersten Moment, ihren Kopf noch auf Joshuas Brust, wusste sie nicht, wie ihr geschah. »Es tut mir Leid, Frau van Wellinghoff. Ich muss Ihren Verlobten jetzt wegbringen.«
Und jetzt goss der Tod Schmerz in das Loch in ihrem Herzen. Joshuas Gesicht wirkte nur noch fahl und ausdruckslos. Der Verfall setzte schnell ein, wenn es einmal vorbei war. Es war beängstigend.
Ophelia sagte nichts, stieg aus dem Bett. Sie sah zu, wie die Schwester das Laken über Joshuas Kopf zog, ihn von den medizinischen Geräten befreite und aus dem Zimmer schob. Wie betäubt stand Ophelia im leeren Zimmer, starrte, versuchte, zu verstehen. Sie fragte sich, ob es einfacher wäre, wäre sie vorbereitet gewesen. Wenn man ihr gesagt hätte, dass er heute stirbt. Oder war es wie beim Abreißen eines Pflasters? Tat es weniger weh, wenn es plötzlich kam? Konnte man diese Frage überhaupt beantworten?
Eine warme Hand auf Ophelias Schulter.
»Frau van Wellinghoff, kann ich jemanden für Sie anrufen?« Es war die Schwester.
Gedankenverloren schüttelte Ophelia den Kopf.
»Sie sollten heute nicht alleine sein«, sagte die Schwester. »Sind Sie sicher, dass ich niemanden verständigen soll?«
Sie war sicher. Joshuas Familie war alles, was Ophelia blieb. Und sie wollte es ihr selbst sagen. Aber erst morgen. Jetzt musste sie erstmal hier weg, sie brauchte Ruhe. Und Ophelia wollte das Zimmer verlassen, aber die Schwester hielt sie zurück.
»Lassen Sie mich wenigstens ein Taxi für Sie rufen.«
Es wirkte nichts richtig. Zu Hause sah alles aus wie immer. Das Licht flutete die Räume wie immer. Es roch wie immer. Der Lärm der Großstadt rauschte im Hintergrund. Wie immer. Und all das wirkte so falsch, denn es war nichts wie immer, alles hatte sich verändert. Wie konnte die Welt es wagen, sich weiterzudrehen? Wie konnte sie es wagen, so zu tun, als sei nichts geschehen? Joshua. Er war weg. Das war das Ende. Wie konnte die Welt das Ende verleugnen?
Ophelia trat auf den Balkon, in die laue Juninacht. Der Mond, halb von Wolken verhangen, glänzte in Ophelias glasigen Augen. Die Großstadt lag ihr zu Füßen. Ein Windhauch strich ihre Haut. Ihr war, als schmiegte sich Joshuas Geist an sie. Als wollte er sie anschieben, damit sie diesen einen Schritt täte, der zu ihm führte. Damit sie sich jetzt und hier in die Tiefe stürzte. Um die Grenze zu überschreiten, die sie nun trennte. Um seine Hand wieder halten, ihm wieder in die Augen blicken zu können. Nur ein Schritt.
Noch so viel Liebe hätte sie über für ihn, für Joshua. Alles wollte sie ihm geben. Als Geschenk, als Dank, dafür, dass er ihre Kämpfe bestritten hatte. Dafür, dass er nie aufgegeben hatte. Dass er für sie da gewesen war, als ihre Eltern wiedermal versucht hatten, ihr Leben zu bestimmen und sie nicht aufhören konnte, zu weinen. Immer hatte er an ihrer Seite gestanden, sie beschützt, sie gehalten, ihre Seele aufgefangen, wenn sie drohte, in den Abgrund zu stürzen. Und nun war er weg. Sie hatte nie eine Chance bekommen, um ihn zu kämpfen, ihn festzuhalten, ihn zu retten.
Die Tränen floßen in einem stillen Fluss und vermengten sich mit den Regentropfen, die die schweren Wolken des Sommergewitters nun freigaben. Sie wünschte, der Regen könnte den Schmerz einfach nehmen und davontragen. Abwaschen, als wäre es nur blaue Farbe. Aber das tat er nicht. Nichts konnte Ophelia ihren Schmerz nehmen. Er lag tief in ihr, reckte sich in der Dunkelheit, die Joshuas Platz in ihrem Herzen eingenommen hatte.
Und der Schritt über die Grenze schien der Weg zu sein, zu fliegen. Ein Engel zu sein. Joshua war es schon, er war es immer gewesen. Und sie konnte es auch werden. Sie konnte sich fallen lassen, fliegen lernen, wie er es gesagt hatte. Und den Schmerz einfach abwerfen, denn er war der Ballast, wie eine Eisenkugel an sie gekettet, der ihr den Flug verweigerte. Es war immer der Schmerz gewesen, der ihr verbot, zu strahlen. Der Schmerz, den die Welt ihr zugefügt hatte. Und Joshua war da gewesen, hatte sie an der Hand gehalten, ganz fest, sie niemals losgelassen und sie zu sich hoch gezogen. Bei ihm konnte sie strahlen, mit ihm konnte sie fliegen. Und vielleicht wies er ihr nun den Weg, um es selbst tun zu können.
Der Wind frischte auf, Ophelia trat an das gusseiserne Geländer. Ja, es war nur ein Schritt. Um zu fliegen, um zu strahlen. Um Joshuas Hand wieder greifen zu können.