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Jungdenkzeit - Mit dem Einraumschiff unterwegs.
Jungdenkzeit
Die Mutimu hatten mich schon lange interessiert. Überall in der Milchstraße finden sich ihre Produkte und historische Reste von Industriegütern machen deutlich, dass ihre Produktions- und Verkaufswut schon seit Urzeiten besteht. Die offiziellen Informationen über den Planeten Muti und seine Bevölkerung sind überaus widersprüchlich. Eine Geschichte voller Kriege und Kunst, aufgezwungener Freiheit, durchgeplanter Freizeit und vieles mehr.
Die Reise war umständlich. Muti liegt nämlich in einem abgelegenen kleinen Spiralarm. Die übliche gelbe Sonne, dazu 15 bewohnte Planeten, Monde und Raumstationen. Das ist durchaus galaktischer Durchschnitt und machte mich neugierig, durch welchen evolutionären Dreh, unter diesen gewöhnlichen Umständen, "Arbeit" eine so ungewöhnlich zentrale gesellschaftliche Rolle einnehmen konnte.
Nach der Ankunft war es zunächst ein wenig langweilig und ich musste häufig heftig gähnen, was ich aber immer höflich mit der Hand verbarg, während ich fünf lange Wochen in der Zollabfertigung und Einreisebehörde verbrachte. Diese heißt auf Muti "Willkommenshaus", eine fortschrittliche Neuerung, wie mir eifrig versichert wurde, zur Umsetzung der "Bürokratie mit freundlichem Antlitz". Überhaupt stellte ich während meines Besuches bei den Mutimu die Neigung fest, Probleme durch bloßes Umbenennen aus der Welt reden zu wollen. Aus Abfall machen sie "Wurfglück"(1), aus Armut "Wachstumspotential" und aus kaltem Nieselregen "Frischkur-Wetter". Meine Übersetzungsmatrix hatte ein ums andere Mal Schwierigkeiten.
Ich habe mich dann mit Snah angefreundet, meiner Pilotin. Zwar bin ich selbst eine überaus erfahrene Pilotin, aber mein interplanetarischer Führerschein hatte ausgerechnet auf Muti keine Gültigkeit. Ich bot an eine Prüfung abzulegen, aber das, so erklärte mir ein Staatsdiener, würde eine hiesige Ausbildung von einem Monat erfordern.
"Sei's drum," sagte ich, "eine neue Flugausbildung, ist auch eine Art einen Planeten und seine Gesellschaft kennen zu lernen."
"10 000 Krösi und Ihr Rutiba, bitte," verlangte der Beamte. "Rutiba?" Fragte ich verwundert und nahm die Hand vom Mund. "Was ist das?"
"Ihr Rutiba, das allgemein gültige panmutische Schulzertifikat, der Nachweis für eine ausgereifte Bildung."
Ich wühlte in meinen Reiseakten - zum Glück hatte ich eine beglaubigte Kopie meines galaktischen Schulabschlusses dabei.
"Das tut mir leid, aber das ist kaum mit dem Rutiba vergleichbar." Er lächelte entschuldigend, aber unerbittlich. "Sie können allerdings in nur drei Jahren das Rutiba nachholen", bot er freundlich an.
So genau wollte ich den Planeten dann doch nicht kennen lernen. Wofür ich die 10 000 Krösi bezahlen sollte, habe ich erst gar nicht mehr gefragt.
"Immerhin sichert diese Vorschrift meinen Job und die allgemeine Sicherheit der Luftfahrt." Erklärte mir Snah freundlich, während sie mich zu einem großen einheimischen Sportereignis fuhr. Auf dem Spielfeld standen 200 Mutimu mit extra großen Füßen und versteckten in ihrer Kleidung etwas, was wie ein Ei aussah. Tatsächlich war auf jeder Seite des Spielfeldes ein Ei im Spiel. Aus der gegnerischen Fußschaft liefen, jeweils drei Muti durch die Reihen und versuchten das Ei zu finden, worauf sie es im Torfeld auf die Spitze stellten(2). Um das zu verhindern wurde das Ei von den Feldstehern geschickt mit Händen und Füßen weitergegeben und versteckt. Die Eierbummler auf den Rängen intonierten lautstark "Eilein, Eilein du musst wandern!" Das Stadion bebte.
Ich fand es schwierig dem Spielverlauf zu folgen, bis Snah mir ihre Brille lieh. In dieser Brille wurde der über Funk ermittelte Aufenthaltsort der Eier eingeblendet. Erst jetzt wurde die hochkomplizierte mathematische Strategie deutlich. Als zur großen Pause geläutet wurde, hatte die rote Fußschaft zwei Eier Vorsprung. Ich kaufte mir meine eigene Sichtbrille und von da ab wurden mir viele Dinge im Alltag auf Muti klarer.
Die Leute im Willkommenshaus hätten mich in den fünf Wochen Einreisebearbeitung doch nun wirklich darauf hinweisen können, dass man nur mit dieser speziellen Sicht, all die virtuellen Schilder und Markierungen sehen konnte. Meine ungehaltene Beschwerde diesbezüglich wurde brüsk zurückgewiesen. Hier gäbe es eine Gesetzeslücke und der Handlungsbedarf sei hinlänglich bekannt. Das Änderungsverfahren sei vor drei Jahren angelaufen und mit einer Umsetzung könne schon in fünf Jahren gerechnet werden. Bis dahin aber sei man nicht zuständig.
Ich besichtigte einige Firmen, um mehr über die berühmten Produktionsprozesse - den eigentlichen Grund meiner Reise - zu erfahren. Leider musste ich lernen, dass das hohe Niveau, sowohl quantitativ als auch qualitativ, eine Folge der allgemeinen Langweile und damit leider nicht auf andere Welten übertragbar war. Meine Enttäuschung war riesig, hatte ich doch vorher auf ein gutes Geschäft gehofft, wenn ich das mutische Firmenkonzept in der Milchstraße durch Franchising verkaufte.
Selbst für neue Ideen, ist auf Muti nur ein bestimmtes Lebensalter vorgesehen. Außerhalb dieses Zeitabschnitts, der sogenannten Jungdenkzeit wird alle Kreativität systematisch ignoriert. Das bewirkt ein Einrosten des Gehirns und fördert durch die Akzeptanz der Langweile eine gleichmäßige Produktion, wobei vierzig Jahre lang ein und dieselbe Tätigkeit ausgeübt wird. Beim unendlichen Universum, das sind unglaubliche und unhaltbare Zustände! Schließlich gilt Kreativitätsignoranz im galaktischen Rechtssystem als unverhältnismäßig harte Strafe und fällt unter das Folterverbot.
Überhaupt beruht die mutische Sozialstruktur hauptsächlich auf altertümlichen Traditionen. Die ganze Gesellschaft ist nach Fußgrößen sortiert. Das erklärt auch die Riesenfüße beim Eiersport. Und da große oder kleine Füße sich häufig vererben, ist die soziale Stellung meistens von Geburt an zementiert, obwohl per Gesetz, alle das gleiche Recht haben auf großem Fuß zu leben.
Schon mit zehn Jahren kommen kleinfüßige Mutimu auf einfache Kurzschulen, um sie schnell dem Produktionsprozess zuzuführen. Da es aber nicht genug Arbeitsstellen gibt - der Einsatz von Robotern ist weit verbreitet - treten die Kleinfüßigen nur ihre Arbeitslosigkeit früher an.
"Wofür eine gute Ausbildung, wenn sie hinterher doch nichts tun können, das ist doch viel zu teuer." Erklärte Snah und fuhr fort. "Wir haben zu wenig Kinder, aber mehr Kinder als wir ausbilden können. Wir brauchen mehr Lohnsteuerzahler und bezahlen die Firmen, dass sie zur Steigerung der Produktivität Stellen abbauen. Deshalb müssen wir auch Leute aussortieren, während wir gleichzeitig mehr Arbeitskräfte brauchen."
In meinem Kopf drehte sich alles, ich verstand gar nichts mehr. Offensichtlich hatte meine Übersetzungsmatrix den Geist aufgegeben.
Ich bin dann schnell abgeflogen, bevor das Gähnen und die Hand vor dem Mund zu chronischen Ticks werden konnten. Das Fußsortiersystem wird sich in der Milchstraße hoffentlich nie durchsetzen. Ich habe kurze Zehen und deshalb ganz kleine Füße.
©elja, April 2005
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(1) Für jede recycelte Packung hat man einen Wunsch frei, die Mutimu neigen zu Aberglauben.
(2) Vermutlich haben sie diese Idee an Kolumbus verkauft. Bei der Entwicklung neuer planetarischer Märkte nehmen es die Mutimu mit der Nichteinmischung nicht so genau, Geschäft ist Geschäft.
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