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Jump
Jump / Bungee
21. Oktober, eigentlich war es ein wunderschöner Herbsttag. Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel, der einen dunstigen Blauton angenommen hatte. Die Bäume der Allee, nahe des Bad Kissinger Bahnhofs, leuchteten in den schönsten rot-orangenen Tönen. "Herbstfarben", dachte Anja, "genau die Farbtöne, die zu meinem Typ passen." Sie hatte vor Kurzem einen Termin bei einer Stilberaterin, die sie mit glänzenden Seidentüchern behängte und daraufhin feststellte: "Sie sind eindeutig ein 'Herbst-Typ'". Lustlos pflückte Anja ein rotes Blatt von einem tiefhängenden Zweig, das die selbe Tönung, wie ihre neue Frisur hatte. Ein Pagenkopf in glänzendem rot-orange. Neue Frisur, neuer Look, ist die beste Medizin bei Liebeskummer, sagt man. Aber was nutzte es, wenn man das Konto bis zum Anschlag überzogen hat und dann noch so einen schönen "blauen Brief" von der Firma bekommt. Leider musste die Druckerei wegen schlechter Auftragslage Personal reduzieren und Anja war leider als jüngster Neuzugang als Erstes betroffen. Bis Ende nächster Woche konnte sie noch bleiben, dann musste sie ihren Schreibtisch räumen. Sie ging die Kurhausallee entlang, Richtung Innenstadt, immer darauf bedacht, dass sie mit dem Fuß auf die ganze Gehsteigplatte trat und nicht auf die Fuge zwischen den Platten. Das bringt Unglück, etwas Aberglaube muss sein.
"Aua", beinahe hätte sie das schwere Eingangstor zu der Appartementwohnanlage voll auf die Nase bekommen. Fräulein Fuchsjäger, ihre ältliche Etagennachbarin, hatte sie zwar kommen sehen, ließ aber trotzdem die Tür hinter sich ungebremst zufallen. Sie machte keinen Hehl daraus, dass sie ihre "laute" Mitmieterin überhaupt nicht ausstehen konnte. Wenn Anja noch einmal nach zehn Uhr abends so laut "Aerosmith" hörte, war sie letztendlich auch noch ihre Wohnung los. Diese alte Jungfer hatte nämlich einen sehr guten Draht zum Vermieter.
Anja drehte den Briefkastenschlüssel knirschend im rostigen Schloss. Der verbeulte Kasten ließ sich immer so schwer öffnen. Mit einer unguten Vorahnung nahm sie ihre Post entgegen. Das meiste war, wie üblich, Reklame. Bunte Werbeprospekte, für die der beste Weg eine schnelle Beseitigung im nächsten Altpapiercontainer war. Aber was war das? Etwa ein Antwortschreiben von der Softwarefirma, bei der sie letztens ein Vorstellungsgespräch hatte. Ihr erster Eindruck war: Alles Bestens gelaufen. Der Chef war so gutgelaunt, strahlte wie ein Honigkuchenpferdchen, von einem Ohr zum anderen.
Ansonsten wären ihre Zukunftsaussichten nicht sehr rosig. Unter anderem hätte sie eine Kassiererinnenstelle in Aussicht, im Supermarkt ihres Schwagers. Ihre Mutter würde das sehr befürworten. Diese dachte nämlich, sie könnte langsam in der Hierarchie aufsteigen und letztendlich sogar stellvertretende Filialleiterin werden. Anja wollte davon nichts wissen. Nicht etwa, dass sie sich als gelernte Großhandelskauffrau zu schade wäre, ihren PC gegen eine Ladenkasse einzutauschen. Nein, der Grund war ihr Schwager. Ein Jahr vor ihrem Abi hatte sie bei ihm in den Schulferien im Lager ausgeholfen. Eines schwülheißen Tages, er hatte mal zwei, drei Bier zuviel gezischt, da drängte er sie hastig atmend gegen einen Stapel Getränkekisten. Es war ein glücklicher Zufall, dass gerade um diese Zeit ihre alte Nachbarin mit Pfandflaschen vorbeikam und laut schimpfte, weil niemand auf ihr Klingeln reagierte. Ihr Spitz fing dann noch in hohen, schrillen Tönen an zu kläffen. Ein Glück für Anja, da kühlte er blitzschnell ab. Ihrer Mutter oder Schwester konnte sie nichts davon erzählen, die wären empört gewesenen und hätten ihr kein Wort geglaubt. So ist es wohl kein Wunder, dass der Job im Supermarkt das Letzte wäre, was Anja sich ersehnte.
Ungeduldig, ohne erst einen Brieföffner zur Hand zu nehmen, öffnete sie den Umschlag. Sie glaubte ihren Augen nicht, las den Text, eins, zwei, dreimal. Eine eindeutige Absage. Dieser Personalchef war doch ein scheinheiliges A...!
Der Brief der Softwarefirma wurde zusammen mit dem Abschiedsbrief ihres Verflossenen, dem Matthias, über dem Waschbecken angezündet. Gleich darauf war sie hektisch damit beschäftigt, alles mit einem Wasserstrahl zu löschen. Nicht alleine deswegen, weil die Flammen gefährlich nah an den Handtüchern züngelten. Nein, sie wollte noch den Rest von Matthias e-Mail-Adresse und Handy-Nummer retten. Was ihr auch gelang. Mit dem angekogelten Zettel in der Hand griff sie zu ihrem Handy und wählte die angerußte, kaum noch zu entziffernde Nummer. Das Freizeichen und der Satz: "Wenz, Matthias, ich bin mal kurz abgetaucht, aber wenn Sie nach dem Signalton sprechen, können sie mir eine Nachricht hinterlassen, eine Gute bitte", war für sie eine Erleichterung. Wenigstens hatte er seine Rufnummer beibehalten. Matthias wäre ihr in dieser schlimmen Zeit ein Lichtblick gewesen, hätte er nur nicht diese "dumme Tussi" namens Imogen kennengelernt. Wegen seiner neuen Flamme schrieb er ihr nämlich diesen Abschiedsbrief. "Ruf mich bitte zurück", sagte sie "bald", fügte sie noch hinzu. Nach einer Stunde schaltete sie ihr Handy aus. Der rief sowieso nicht mehr an. Frustriert wollte sie sich gerade ein Glas Rotwein einschenken, da piepste der Signalton der Mailbox. Vor Anspannung bebend hörte sie die Nachricht ab: "Hallo Anja, ich bin's, der Matthias. Ich schlage vor, wir treffen uns bei mir zu Hause." Ein warmes Gefühl stieg in Anja hoch, ihr Herz klopfte schnell. Vielleicht war diese Sache mit Imogen nur ein Strohfeuer gewesen. Als sie ihn dann zurückrufen wollte, war wieder nur die Mailbox geschaltet. Sie schickte ihm eine SMS: "Okeydokey, komme sofort vorbei." Die Wangen gerötet, die Augen glänzend, warf sie ihren roten Schal über und rannte Richtung Bushaltestelle. "Alles wendet sich zum Guten", dachte sie optimistisch. Jetzt hatte der Absagebrief der Softwarefirma an Bedeutung verloren. Die Zukunft sah wieder rosig aus. Vielleicht war sie nächsten Monat, in diesem eklig kalten, nebligen November schon in Australien. Matthias, als studierter Geologe, spielte in letzter Zeit öfters mit dem Gedanken, dem Frankenland den Rücken zuzukehren und auszuwandern.
Anja schaute auf ihre Armbanduhr. Die Leuchtziffern zeigten 23.30 Uhr an. Dies war der letzte Bus, der am Donnerstagabend fuhr. Zurück ging dann höchstens noch der Spätzug. Aber den würde sie nicht nehmen, da waren immer einige zwielichtige Gestalten drin. "Die Rückfahrt erledigt sich sowieso", dachte sie voller Optimismus "ich penne bei Matthias."
Gut, im Wohnzimmer brannte Licht. Wäre auch der Hammer gewesen, sie fährt zu ihm und er ist nicht mehr zu Hause. "Bum, bum, bum", schlug ihr Herz in einem Rhythmus, der sich glatt als Hintergrund für einen Technohit geeignet hätte. Die Klingel neben dem verblassten Namen "Matthias Wenz" wurde gedrückt. Sie hörte Matthias Birkenstock-Latschen auf dem alten Parkettboden klackern. Die Tür wurde geöffnet, aber wer war das da im Hintergrund, mit dem blonden Wuschelkopf, Imogen!!! Anja fühlte alles Blut aus ihrem Kopf und Händen weichen. "Ist Ihnen nicht gut?", fragte die blondgelockte Frau scheinheilig. Ihren hellen, blauen Augen fehlte jegliche Wärme.
"Anja, komm in die Wohnung, wir müssen mal miteinander reden", sagte Matthias, hektisch an seiner Zigarette ziehend.
"Also komm, setzt dich erst mal", er deutete auf seinen alten, hellbeigen Cordsessel. Imogen schwebte herein, auf einem Tablett ein schwarzes Teeservice balancierend.
"Möchtest du auch einen Tschai-Tee", wurde sie gefragt.
Ein kurzes "Nein" war die Antwort.
"Der Grund, weswegen ich mit dir reden möchte ist dieser, ich habe jetzt endlich die Green-Card für Australien."
Hübsch und salopp sah er aus. Diese schulterlangen dunkelbraunen Locken, diese vergnügt funkelnden, grünen Augen. In seinen ausgewaschenen Levis und dem alten, marineblauen Sweatshirt konnte Anja ihn bildlich in den Outbacks vor sich sehen; ausgestattet mit Spaten und Meißel auf der Opalsuche.
"Imogen werde ich mitnehmen."
Ein Schlag in die Magengrube. Aber es kam noch toller.
"Weist du Anja, das Leben in Australien wird am Anfang nicht billig sein." Er deutete auf den DVD-Spieler, "dieses Teil haben wir mal zusammen angeschafft und du hast noch nicht deinen Anteil an dem Gerät bezahlt."
Zur Erklärung, Anja und Matthias lebten nie zusammen. Matthias wollte das nicht. Aber weil Matthias der Geringerverdienende von beiden war (er war zwar gelernter Geologe, schlug sich aber meistens nur mit Gelegenheitsjobs durch), griff Anja ihm ab und zu finanziell unter die Arme. Ihre Idee war es auch damals gewesen, sich ein DVD-Gerät anzuschaffen. Sie vereinbarten, jeder zahlt die Hälfte. Anja kam dann ab und zu vorbei und sie sahen sich zusammen die neuesten Filme an. Das war noch zu Anjas guten Zeiten mit Job und Freund.
"Hey Matthias, wir hatten vereinbart, Anfang November, wenn mein Gehalt auf dem Konto ist, zahle ich. Du musst wissen, ich bin zur Zeit alles andere als flüssig. Ich verliere Ende des Monats meinen Job." Sie griff sich eine Salzstange aus der Knabberschale, zerbrach sie in zwei Stücke, biss kurz rein und warf den Rest in die Schale zurück. "Wie wäre es, ich zahle dir das Teil in Raten zurück."
"Wie stellst du dir das nur vor", verächtlich stieß Matthias den Rauch seiner Zigarette aus, "im November lebe ich schon in Australien und bis dahin brauche ich dringend das Geld."
Darauf meldete sich Imogen zu Wort: "Laut Gesetz könnte man gegen dich ein Verfahren einleiten, wenn ..."
Den Rest hörte Anja nicht mehr. Sie rannte aus dem Zimmer und schmiss die Haustür hinter sich zu. Die Gefühle schlugen Saltos: Unglauben, Enttäuschung, Wut, Ausweglosigkeit, große Traurigkeit. Ganz unbeabsichtigt war sie plötzlich an der Bahn, aber nicht am Bahnhof, sondern an den Gleisen. Die roten Lichter einer weit entfernten Lokomotive tauchten auf. Nun war auch das Rauschen des Zuges zu hören. "Jetzt auf die Schienen legen, Augen zu und alles ist vorbei." Aber wie oft überlebte man so etwas schwerverletzt, möglichst noch ohne Beine. Stattdessen nahm sie dieselben in die Arme und rannte. Dieses war nämlich ihr Spätzug, der letzte Zug der überhaupt noch nach Bad Kissingen fuhr. Zum Glück hatte er noch einige Zeit Aufenthalt, bevor er wieder abfuhr. Mit keuchendem Atem erreichte sie den Zug, riss die Tür auf und ging in das angenehm beheizte Abteil. Eine Fahrkarte hatte sie natürlich in dieser kurzen Zeit nicht ziehen können. Zu dieser Uhrzeit und in gewisse Abteile, traute sich sowieso kein Schaffner mehr herein. Ein solches hatte Anja nun betreten. Dies war zwar ein Nichtraucherabteil, durch das süßlich riechende Rauchschwaden zogen, aber das kümmerte die hingelümmelten Leute, Füße auf den Polstern, überhaupt nicht. Ein "Ghettoblaster" beschallte das Ganze mit lautem, aggressivem Rap. Ein dürrer Typ mit tief in die picklige Stirn gezogener Strickmütze, musterte Anja kurz und rülpste dann laut. Nun gesellte sich ein Hund von der Rasse "der beißt doch überhaupt nicht, der will nur spielen", besser gesagt: ein Pitbullterrier, dazu. Ein kurzer Blick auf sein Gebiss wurde Anja gewährt, als er spielerisch nach dem Arm des angeheiterten Jugendlichen schnappte. "Wenn der mich nun anspringt und in meine Kehle beißt, bin ich innerhalb von Sekunden tot" dachte Anja. "Matthias wird bitterlich weinen, wenn er die Schlagzeile über mich später in der Zeitung liest." Das schwarzweiße, muskulöse Tier schien sie entdeckt zu haben und kam hechelnd auf sie zu. Seine runden Augen guckten alles andere als freundlich. Zuviel Weiß war zu sehen. Blitzschnell drehte sich Anja um und warf die Tür vor der Schnauze dieses gefährlichen Tieres zu. "Jetzt hast du wohl Schiss bekommen, blöde Fotze", rief ihr eine schwarzgekleidete Teenager-Göre nach.
Das nächste Abteil war menschenleer und pieksauber. Dies war ja auch ein Erste-Klasse-Abteil. Sie ließ sich nieder. "Bis dorthin werden mir diese Typen hoffentlich nicht folgen", dachte sie. Aber dafür kam der Zugschaffner ins Abteil. "Guten Abend, ah besser gesagt, guten Morgen. Darf ich bitte Ihren Fahrschein sehen?" Den sie natürlich nicht hatte. Geld auch nicht. Das ganze brachte ihr eine Ordnungsstrafe von 30 Euro ein.
Endlich zu Hause angekommen, fand sie keinen Schlaf. Sie stellte sich vor den Schlafzimmerspiegel und schenkte sich noch ein Glas Rotwein ein. Mit dem, was sie im Spiegel sah, war sie gar nicht zufrieden; tja die viele Schokolade die sie zum Trost in der letzten Zeit konsumiert hatte. Die meisten Jeans gingen nicht mehr zu und das enge, schwarze Cocktailkleid möchte sie am liebsten ganz weit hinten in den Schrank verbannen. Sie müsste mehr Sport treiben! "Matratzensport" fiel wohl für die nächste Zeit flach. Aber ein wenig Joggen, das ist easy und das kann man an fast jedem Ort praktizieren. Zum Beispiel im Park. Die Stadt Bad Kissingen, mit ihren vielen Parks und Grünflächen, ist ein Jogger-Mekka. Eine große, dem Kurpark angeschlossene Grünanlage, grenzte sogar direkt an ihre Wohnung. Kurz entschlossen nahm sie Jogginghosen und Turnschuhe aus ihrem Garderobenschrank und zog das Stirnband zum Schutz gegen die kalte Nachtluft über die Ohren. Gleich darauf kamen ihr Bedenken. Bad Kissingen war zwar nicht Hamburg oder Frankfurt, aber immer wieder hörte man von Frauen, die nachts in Parkanlagen überfallen wurden. "Egal", dachte sie, als sie sich mit kurzen Schritten warmlief. Sie sah Matthias vor ihrem geistigen Auge, den Fernseher einschalten. Es lief die Sendung "Aktenzeichen XY". Diese Frau, die erstochen und vergewaltigt im Grase lag, war Anja. Matthias bekam einen Heulkrampf und schaltete den Fernseher aus. Imogen brühte ihm in der Zwischenzeit einen Tschai-Tee auf.
Ein düster aussehender Mann, mit Dreitagebart, weckte sie aus ihren Träumen. Er tauchte hinter ihr, an der Biegung mit den hohen Pappeln, auf. Vor ihr die Saale, weit und breit weder Mensch noch Hund. Sogar einen Kampfhund hätte sie in diesem Moment mit offenen Armen empfangen. Nach links, hämmerte es in ihrem Kopf. Da kam sie zu den Cafés und Kurhäuser im Zentrum der Stadt. Die waren zwar jetzt geschlossen, aber diese Gegend war wenigstens ein bisschen belebter. Das sollte man zwar jetzt nicht tun, aber sie drehte den Kopf und schaute hinter sich in seine Richtung. Oh Schreck, er ging nicht einfach so durch den Park spazieren. Nein, der hatte ein ganz schönes Tempo drauf. Das sollte man ebenso wenig in so einer Situation tun, aber sie hörte auf zu joggen und rannte stattdessen, was die Füße hergaben.
Die Anlegestelle des Saale-Ausflugschiffes tauchte auf. Und da war das Café. "Autsch", sie stieß mit ihrer Hüfte an einen Stapel Caféhausstühle. Da war die Brücke, was für ein Glück! Autos fuhren und eine ältere Dame führte zu dieser späten Stunde noch ihr Hündchen aus. Anja warf von der Brücke einen Blick in den Park zurück. Da war ja ihr "Unhold". Oh Schande, er joggte ja selbst! Das war der Grund, warum er im Park so einen Speed drauf hatte!
Leider machte sie dann den Fehler, als sie überhitzt und aufgewühlt in ihre Wohnung zurückkam, ihren CD-Player zu laut aufzudrehen. "Eat the rich", röhrte Steve Tyler lautstark und das Fräulein Fuchsjäger bollerte mit dem Besenstiel dazu im Takt an die Decke. "Die Alte kann mich mal kreuzweise", dachte Anja, schaltete dann aber doch den CD-Player aus. Am nächsten Morgen lag dann so ein Zettel in ihrem Briefkasten, auf dem stand, dass ihr Verhalten böse Konsequenzen bei der Hausverwaltung haben werde.
Unausgeschlafen, blass, mit tiefen dunklen Augenringen, betrat sie am nächsten Morgen das Büro.
"Ey Anja, was ist denn passiert?", wurde sie von ihren Arbeitskollegen gefragt. Die Antwort war ein Schluchzen. Sie rannte in die Toilette und ließ kaltes Wasser über ihr Gesicht laufen.
"Ist es wegen Matthias?"
"Ja, ...", der Rest ging wieder in Schluchzen unter.
Ihre Kolleginnen versuchten sie zu trösten. Sie erzählten ihr Storys, die sie selbst oder deren Freunde mit solchen "bösen Jungs mit dem Gemüt von Schlachtermeistern" erlebt hatten. Aber dies konnte sie nicht besonders aufheitern. Sie brachte es auch nicht über sich, den Arbeitskollegen ihr ganzes Dilemma zu erzählen. Zu allem Übel rief dann noch ihre Mutter während der Arbeitszeit an und machte ihr die freudige Mitteilung, dass ihr Arbeitsplatz im Supermarkt ihres Schwagers jetzt so gut wie sicher war.
Zu Hause brachte Anja ihren Abfall zum Müllcontainer. Sie fühlte sich so leer, hatte keine Empfindungen mehr, weder Wut noch Traurigkeit. "Das Beste war", dachte sie "man nehme einen Strick." Aber das war auch zu unsicher, wenn man Pech hatte, war man nicht gleich tot. Besser ist es noch, von einer Brücke oder einem Hochhaus zu springen. Da konnte man aber das gleiche Pech haben.
Auf dem Weg zum Treppenhaus nahm sie ihre kostenlose Wochenzeitung mit. Schadet ja nichts, mal einen Blick hineinzuwerfen. Sie setze sich auf ihren Balkon, der noch angenehm von der Herbstsonne erwärmt wurde. Der Park vor ihr schimmerte in den schönsten Tönen der Farbskala Rot. Es roch nach nasser Erde und feuchtem Herbstlaub. Ein junges Pärchen, eng umschlungen, ging über den Kiesweg. Beide waren sehr groß, schlank und langbeinig. Fröhlich sprang ein kleiner Junge voraus. Mit dem Star-Wars-Lichtschwert durchkämmte er das rote Laub. Nun lachte der Kleine mit weit aufgerissenem Mund und entblößte dabei sein lückenhaftes Milchzähnegebiss. Er sagte dann irgend etwas Ulkiges. Das Pärchen sah sich an, beide Nasen auf gleicher Höhe, zwei Augenpaare teilten zärtliche Blicke. Dann begannen die Beiden herzhaft zu Lachen. Anja konnte das Idylle der fröhlichen Kleinfamilie nicht mehr ertragen, wandte sich ab. Sie fühlte sich schläfrig, legte sich in ihre Hängematte und vertiefte sich in das Anzeigenblättchen. Was war denn das, an diesem Wochenende? Große Gewerbeschau vor dem Baumarkt, mit Bungeejumping!
Bungeejumping, das war die Lösung! Sie hatte den Drill, ins Bodenlose zu stürzen, überlebte aber Dank ausgeklügelter Technik. Genial! 50 Euro kostete ein Sprung. Nicht gerade billig. Aber inzwischen war das sowieso egal.
Schon aus der Ferne konnte sie den hohen Bungee-Kran sehen, an dem ab und zu ein kleines Männchen, teils zappelnd, auf und ab katapultiert wurde. Bungee-Springen war 1 A für das Adrenalin und die anschließend freiwerdenden Glückshormone. Bis jetzt hatte sie sich noch nie an ein Bungee-Seil getraut und dem Geschehen bislang nur aus der Ferne mit Schaudern zugesehen. Aber das war einmal.
Anja stellte sich in der Warteschlange vor der Kasse an. "Wenn ich jetzt keinen Rückzieher mehr mache, werde ich mein Leben demnächst ganz umkrempeln", dachte sie. "Und nach Australien komme ich auch noch, nicht etwa als Anhängsel eines Mannes, sondern alleine. Ich werde die Gelegenheit beim Schopfe packen, und mich um eine Arbeitsstelle im Ausland bemühen. Davor muss ich aber noch dringend einen Englischkurs besuchen."
"Ist das dein erster Bungee-Sprung", wurde sie von dem sonnengebräunten Mann, mit der langen Lockenmähne, gefragt. "Ja", antwortete sie mit belegter Stimme. Gut sah er aus, er war so ein richtiger Sonnyboy. "Kommen Sie mal mit zur Waage, wir brauchen Ihr genaues Gewicht", die Assistentin warf ihr dunkles Haar über die Schulter. Der blonde Beau grinste. "Warum bläst sich diese kleine Göre nur so auf?", dachte Anja grimmig. "Und dabei ist die bestimmt nicht mal viel älter als 16 Jahre. Ich geh nicht auf die Waage, ich will mich schließlich nicht vor diesem smarten Jungen hier blamieren!"
"Nein, wiegen brauche ich mich jetzt nicht", lachte Anja. "Ich hatte mich heute früh schon mal gewogen. Also, 56 kg ist zur Zeit mein Gewicht."
"Okay, wenn Sie das so genau wissen und Ihre Waage hoffentlich richtig geeicht war."
Wie ein Pferd wurde sie nun in signal-oranges Geschirr gelegt. Auf einer Tribüne ging es nach oben. Einige Leute fuhren mit, nur der schönen Aussicht wegen. Vor einigen Wochen wäre sie noch nicht mal auf den Kran hochgefahren.
"Alles klar, spring!" hörte sie noch, als sie den Schritt von der Plattform in das Leere wagte.
Der Abgrund kam immer schneller auf Anja zu. Das Seil stoppte den Fall nicht, blieb schlaff, hatte keinen Widerstand.
Sie wollte ihren Mund zu einem lauten Schrei öffnen, aber kein Laut kam hervor. Oder schrie sie doch? Rrring, etwas schrillte in ihre Ohren, das ihren Schrei übertönte und dann hörte sie Klopfgeräusche. Hart schlug sie auf den Boden auf. Sie rieb sich verwundert die Augen. Ihre Hängematte schaukelte hin und her. "Ich lebe!!! Bin wohl eingepennt und habe Mist geträumt", dachte sie. Das Klopfen an der Haustür wurde lauter. Benommen rappelte Anja sich auf und rieb sich den schmerzenden Kopf.
"Hören Sie mich denn nicht? Sie sind doch zu Hause? Frau Fuchsjäger hat Sie gesehen, als Sie vor einer halben Stunde Ihre Wohnung betreten haben."
Anja tastete nach ihrem Haustürschlüssel. Vor der Tür stand der Wohnungseigentümer.
"Gute Frau, was Sie sich in der letzten Zeit geleistet haben, kann ich nicht weiter dulden. Dies war meine letzte Verwarnung. Ich werde mir sehr gut überlegen, ob ich Sie weiter hier wohnen lasse."
Anja blinzelte: "Machen Sie doch, was Sie wollen. Nächsten Monat bin ich in Australien."