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July
Da stand er nun. Sein Blick wanderte zur Wanduhr. Kurz nach Mitternacht. Sonst lag er um diese Zeit längst im Bett. Er und seine Frau hätten noch etwas ferngesehen und wären anschließend nebeneinander eingeschlafen. Wie immer. Doch dieser Abend war nicht wie immer. Er war noch nicht im Bett. Es war auch nicht sein Zimmer. Und es war nicht seine Frau, die dort vor ihm saß.
Wie konnte er nur in diese Situation hineingeraten?
Er war übers Wochenende beruflich in eine andere Stadt gefahren, zum XXXIII. Symposium der Literatur des Mittelalters. Iwein-Forschung. Dort hatte er den wissenschaftlichen Streit mit Professor Wilders nach jahrelangem Ringen endlich zu seinen Gunsten entschieden. Wie bleich diese Witzfigur von einem Wissenschaftler doch geworden war, als dessen Interpretationen wie ein morsches Gerüst in sich zusammenfielen! Während die Anwesenden noch donnerndes Klopfen spendeten, hatte sich Wilders klammheimlich aus dem Saal verdrückt und ward den ganzen Tag nicht mehr gesehen. Ein Genuss! Entsprechend vergnügt war er dann auch noch mit zwei Kollegen in den Weinkeller des nächsten Italieners eingefallen. Zu fortgeschrittener Stunde hatte er sich dann von seinen Kollegen verabschiedet und sich heiter schlendernd in Richtung seines Hotels aufgemacht.
»Was stehst du denn so da und starrst Löcher in die Luft? Willst du mir hier nicht ein bisschen Gesellschaft leisten, mein Hübscher?«
Professor Lehnhart fuhr aus seinen Gedanken auf. Er starrte die Frau an, die ihn vom Bett aus verführerisch anlächelte. Ihre tiefroten Lippen offenbarten strahlend weiße Zähne. Das schwarze, lange Haar trug sie über der Stirn in einem leicht schiefen Pony, und ihre dunklen Augen funkelten durch das dämmrige Zimmer zu ihm herüber. Als er nun langsam auf das Bett zuging, rutschte sein Blick am Hals der Schönheit hinab. Er betrachtete die freiliegenden Schultern und blieb für mehrere Sekunden im Dekolletee hängen, das durch die weinrote Corsage betont wurde. Schließlich fuhren seine Augen mehrmals an den Beinen der jungen Frau hinunter und wieder hinauf, bis seine Füße vor den ihren zum stehen kamen. Ihre Finger streichelten erst sanft seinen Unterarm, dann ergriffen sie fordernd seine Hand und führten sie zu ihren Brüsten.
Er schreckte zurück. Als sie ihn überrascht anblickte, war die betreffende Hand bereits in seiner Hosentasche verschwunden und klammerte sich dort an seinem Handy fest. Mit der anderen fuhr er sich geschlossenen Auges durchs Haar. Was war denn nur los mit ihm? So einer war er doch nicht!
Bilder von Sophie schossen vor seinem geistigen Auge vorbei. Wie er in der Ferienhütte am Strand bei Kerzenschein um ihre Hand angehalten hatte. Wie ihm bei der Hochzeit in der kleinen Kapelle am See Tränen über die Wangen geronnen waren. Wie er mit ihr mitten in der Nacht trotz Glatteis zum Krankenhaus gerast war, um wenige Stunden später die kleine Nike auf dem Arm zu halten. Ketten der Beklemmung legten sich eisern um seinen Brustkorb.
»Stimmt was nicht? Warum denn so schüchtern?« July strich über ihre Beine und sah ihn herausfordernd an. Als er mit der Hand durch sein Gesicht fuhr, bemerkte sie den Ehering.
»Wenn dich der Ring stört, solltest du ihn einfach ablegen. Ich hab hier sogar ein kleines Tütchen, damit er nicht verloren geht. Das machen viele meiner Kunden so.«
Viele ihrer Kunden. Ja, für diese Frau war er ein Kunde.
Auf dem Weg vom Restaurant ins Hotel war er, um einem Rudel gröhlender Fußballfans auszuweichen, in eine Seitenstraße gebogen. Die Gesellschaft der besoffenen Schreihälse konnte er so zwar vermeiden, doch war er in jener Gasse dafür auf eine andere Art der Gesellschaft gestoßen. Die junge Frau hatte an der Wand eines Hauses gelehnt, dessen Fenster im Erdgeschoss verspiegelt und im ersten Stock rot beleuchtet waren. Irgendetwas, das er nicht in Worte fassen konnte, hatte ihn zu ihr hingezogen wie ein Strudel. Es waren nicht einfach nur die Corsage und die langen Beine, sondern vielmehr die Art, wie ihre Augen ihn anblickten, die eine lange verrostet geglaubte Saite in ihm angeschlagen hatte. Wenige Worte wurden gewechselt, und schon war er Arm in Arm mit ihr in eines der Zimmer im ersten Stock hinaufgegangen.
Und nun saß sie vor ihm, und reckte ihm ein kleines Plastiktütchen mit Druckverschluss entgegen. Er drehte den Ehering ein paar Mal hin und her. Dann streifte er ihn ab und ließ ihn von July eintüten. Sie legte das Päckchen auf den Nachttisch und zog Lehnhart nun bestimmt zu sich aufs Bett. Er ließ es geschehen.
Sie setzte sich auf seinen Schoß, strich ihm über Brust und Arme und hauchte einige Küsse auf seinen Hals. Obwohl er die Berührungen zunächst sehr genoss, überkam ihn nach und nach ein Gefühl der Kälte und Verkrampfung. Sein Blick durchwanderte das Halbdunkel, bis er schließlich am Fernseher hängenblieb. July erkannte, dass ihre Mühen nicht den gewünschten Erfolg hatten, und folgte Lehnharts Blick.
»Wenn dir das hilft, können wir natürlich auch den Fernseher einschalten«, sagte sie mit leichter Irritation in der Stimme.
Er nickte und griff zur Fernbedienung. Polit-Talk im Ersten. Polit-Talk im Zweiten. Ein Heimatfilm im Dritten.
»Tut mir Leid! Ich hoffe, du beziehst das nicht auf dich.«
»Nee, schon okay«, sagte July, als sie von ihm abstieg und sich ankuschelte, »ist in deutschen Schlafzimmern ja Standard, dass man zusammen vor der Glotze hängt«.
Er nickte nachdenklich. Wieder sah er Sophie vor sich. Wie sie in ihrem altrosa Nachthemd vor dem Spiegel stand und ihre Lockenwickler eindrehte. Wie sie ihn daran erinnerte, am nächsten Tag die Kleine von der Chorprobe abholen zu müssen. Wie sie sich während des Polit-Talks im Ersten im Bett umdrehte und nach kurzer Zeit schnarchte.
Das beklemmende Gefühl war aus seinem Körper gefahren. Sein Blick wanderte nun vom Bildschirm über Julys Beine zu ihrem Dekolletee. Und während er noch auf der Fernbedienung den roten Knopf betätigte, hatte er sein Gesicht schon in ihrem Ausschnitt vergraben.
Von unbändiger Lust erfüllt, öffnete Professor Lehnhart Julys Corsage und schleuderte diese quer durchs Zimmer. Hemd und Hose folgten.
»Wie willst du es mir machen, großer Mann? Ich tu' alles, was du dir wünschst!« July räkelte sich vor ihm auf dem Bett und strich über ihre Beine. Er wies sie an, sich umzudrehen und vor ihm zu knien. Sie tat, wie befohlen. Im roten Dämmerlicht streckte sie ihm ihren Po entgegen, bäumte ihren schlanken Körper auf, blickte ihn über die Schulter an und biss sich auf die Unterlippe.
»Los, du Hengst! Reit mich!«
Sein Atem beschleunigte sich, er kam von hinten dicht an sie heran und strich ihre Haare zur Seite. Beim Anblick des Tattoos in ihrem Nacken erstarrte er.
Ihm sprang die altertümliche Darstellung eines Ritters entgegen, an dessen Seite ein Löwe stolzierte. Mit seiner gewaltigen Lanze durchbohrte der Ritter ein Herz, während die Hufe seines Pferdes einen goldenen Ring zertrampelten. Zwei Wörter in kunstvoll verschnörkelter Schrift umrahmten das Bild: minne und êre. Lehnhart schlug die Hand vor den Mund.
July blickte erwartungsvoll über die Schulter.
»Na, macht dich mein Tattoo an?«
Er schluckte.
»Das ist Iwein, der Ritter mit dem Löwen.«
Sie lächelte.
»Sieh an, da kennt sich jemand aus.« Und mit einem Hauchen fügte sie hinzu: »Wollt Ihr mir nicht auch endlich Eure Lanze in den Leib stoßen, mein Herr Iwein?«
Bei diesen Worten sprang er vom Bett auf. Nun erkannte er, wen er vor sich hatte.
»Du bist doch... ich meine, Sie sind doch nicht etwa Julia Pfeiffer?«
Die Frau richtete sich mit ungläubigem Blick auf. »Ich weiß nicht, wovon...«
»Haben Sie in Kassel Germanistik studiert?«
»Wie? Woher wissen Sie das?«
Doch musste ihr Kunde nicht aussprechen, was sie wenige Sekunden später selbst erkannte.
»Doktor Lehnhart? Oh mein Gott, das gibt’s ja nicht! Was ist das bitte für ein krasser Zufall?«
»Krass, ja. Professor, übrigens«, sagte er mit einem Gefühl der Ermattung.
Ein beschämtes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Lehnhart setzte sich auf einen der Sessel und ließ die Hände über die Lehnen baumeln, entschied sich jedoch kurz darauf, sie doch lieber in Feigenblattmanier in seinen Schoß zu legen.
»Sie hatten doch früher einen Bart«, sagte July, die ihre Blöße ihrerseits nun mit der Bettdecke verhüllte.
»Ich weiß. Hab ihn abgenommen, nachdem ich meine Habilitation geschafft hatte.« Er schnaufte kurz durch. »Idee meiner Frau.«
»Verstehe.«
»Und hatten Sie nicht früher immer blonde Haare und waren eher« – Lehnharts Blick verharrte einige Momente auf ihren knallroten Lippen, und sprang dann aus dem Augenwinkel zur Corsage auf dem Fußboden – »eher der dezente Typ?«
July zuckte mit den Schultern und lupfte die schwarze Perücke gerade hoch genug, dass eine blonde Locke darunter hervorschaute. »Outfit, Make-up, gehört eben zum Job.«
Lehnhart nickte mit einem gequälten Lächeln. Dabei spürte er ein Brennen auf seiner Zunge. Wie, verdammt? Wie bist du hier gelandet, Julia Pfeiffer? Doch er schluckte die brennende Frage herunter.
»So sieht man sich wieder, hm?«
»Ganz genau.«
»Und jetzt sitzen wir beide hier zusammen, hm?«
»Hmhm.«
»Nackt.«
Er lächelte sie an, sie senkte verlegen den Blick. Der Sekundenzeiger der Wanduhr hoppelte leise im Kreis herum. Wie konnte eine Studentin in der Prostitution landen, die er insgeheim als eine kommende Institution auf dem Gebiet der Literatur des Mittelalters angesehen hatte, seitdem sie bei ihm eine brillante Hausarbeit zum Thema „Lanze oder Ring? - minne und êre im Iwein“ abgeliefert hatte? So brillant, dass die Erkenntnisse daraus auch seine eigene wissenschaftliche Karriere deutlich nach vorne gebracht hatten. Was ja der Beweis dafür war, dass er ihr die Note 1,0 nicht nur gegeben hatte, weil er es in jeder Sitzung genossen hatte, den schüchternen, verträumten Blick ihrer dunklen Augen aus der letzten Reihe des Seminarraums auf sich zu spüren.
»Tja...«
»Tja...«
July strich nachdenklich über das Bettlaken. Das Gefühl des Stoffes unter ihren Fingernägeln weckte Erinnerungen. Damals, als sich Julia Pfeiffer nur im dunklen Kämmerlein unter der Bettdecke auszumalen wagte, wie dieser attraktive Dozent mit dem Bart wohl ohne die braune Korthose und das weiße Leinenhemd aussähe, und ob sie nicht doch einmal den Versuch starten sollte, ihn...
Ein lautes Vibrieren zerschnitt die Stille und ihren Gedankenfaden. Lehnhart schoss vom Sessel nach oben und suchte hastig seine Hose. Bis er sein Handy gefunden hatte, war das Vibrieren jedoch bereits wieder verstummt. Mit aufeinander gepressten Lippen starrte er auf einige Sekunden lang auf das Display.
»Ich schlage vor, wir beenden die Veranstaltung jetzt«, sagte er und sammelte seine restlichen Kleider auf.
July verzog den Mund.
»Das war wohl das kürzeste Einführungsseminar aller Zeiten.«
»Wie bitte?«
»Schon gut.«
Sie beobachtete Lehnhart, wie er mühsam in seine Hose schlüpfte, die früher mindestens noch drei Kleidergrößen enger gewesen sein musste.
»Das hier bleibt selbstverständlich unter uns, klar?«
Er legte den vereinbarten Geldbetrag auf den Tisch.
»Klar. Prostitutionelle Schweigepflicht.«
Lehnhart nickte nur irritiert, dann wandte er sich zum Gehen.
»Mach‘s gut, July! Julia...«
Und bevor sie noch etwas sagen konnte, war er schon durch die Tür. Gedankenverloren starrte sie ihm nach, während er ebenso gedankenverloren mit dem Handy am Ohr die Treppe hinunter eilte. Sie ging langsam zum Tisch und wollte das Geld einpacken, doch schienen diese Scheine schwerer zu wiegen als all die anderen, die sie in der Zeit, seit sie ihre Doktorarbeit begonnen hatte, verdient hatte. Sie ließ sie liegen.
Als sie sich dann zum Bett umdrehte, erblickte sie das Plastiktütchen mit seinem Ring auf dem Nachtkästchen. Doch da war er bereits in der Nacht verschwunden.