- Anmerkungen zum Text
Der Text ist sehr lang (4.435 Wörter). Bitte lest ihn nicht, wenn ihr nicht die Zeit und Muße habt. Er ist auch nicht wirklich spannend, aber unterhaltsam schon. Allerdings sind es drei Geschichten in einer. Inspiriert wurde ich dazu durch den "Schimmelreiter", bei dem ein Reisender durchfroren in einer Kneipe am Feuer jemanden eine Geschichte erzählen hört. Das fand ich sehr stimmungsvoll und das Bild, dass ich beim Lesen hatte, blieb mir lange erhalten. Das spricht natürlich für T. Storm, mit dem ich mich in gar keiner Weise vergleichen möchte. Aber ich wollte auch mal sowas machen.
Jule und das Frankreich-Ding
Hanne sammelt die Karten ein, Bernd winkt knapp in Richtung Theke, Jaap nickt und bringt Bier, drei randvolle Gläser Genever und eine riesige Bittergarnituur.
»Habt ihr’s wieder mal geschafft?« Jaap hat heute nicht viel zu tun. Der Laden ist leer bis auf uns und Harry P. Der kommt jeden Dienstag und Donnerstag um die gleiche Zeit ins Lokal. Er trinkt einen Kaffee und einen "Gran Duque de Alba" und geht wieder. Harry hat dienstags und donnerstags in der Stadt etwas zu erledigen. Auf dem Rückweg zum Bahnhof kommt er kurz rein auf einen Kaffee und einen Brandy. Einen spanischen, weil er die Spanier nicht mag, sagt Jaap. Und in zwei Jahren, wenn er die Rente durch hat, dann setzt er nie wieder einen Fuß in diese Stadt, hat er gesagt.
»Der Schnaps geht aufs Haus, weil heute so ein Scheisswetter ist. Und weil ihr so gute Leute seid.« Wir nicken zustimmend. Seit Jahren treffen wir uns hier mit seltenen Ausnahmen an jedem ersten Dienstag im Monat und spielen zwei, zweieinhalb Stunden konzentriert Skat. Dann gibt es Bier und Happjes und wir reden ein wenig über dies und das. An trüben Tagen kann das schon mal ein langer, gemütlicher Abend werden. Manchmal, wenn nichts los ist im Lokal, setzt sich Jaap zu uns und erzählt Geschichten aus Holland oder versucht uns Niederländisch beizubringen. Jaap ist eine wirkliche Frohnatur, aber von Zeit zu Zeit zieht er ein langes Gesicht und geht uns mit seinen Sorgen auf die Nerven. Es sind immer die gleichen: »Leute, bald müsst ihr euch eine neue Kneipe suchen. Ich mach’ Schluss.« Dabei kommt er ganz gut über die Runden. Er verkauft Urlaubserinnerungen: Bittergarnituuren, Uijtsmijters, lekkere nederlandse Kaasbrotjes, Mosselen und Matjes und diverse belgische Biere. Und weil der Laden nicht groß ist, ist er an vielen Abenden sehr voll. Leider spielt Jaap zu vorgerückter Stunde holländische Schlager, ansonsten würden die Leute sicher noch länger bleiben.
Dass er die Kneipe in nächster Zeit schließt, ist Blödsinn. Seine Frau ist verbeamtete Stadtplanerin und für die wirklichen Einkünfte zuständig. »Wenn Jaap in der eigenen Kneipe sitzt, geht er wenigstens nicht in andere«, hat sie erzählt, »und außerdem: hier habe ich immer Essen und Getränke frei. Das bietet mir auch kein anderes Lokal.«
Jaap will sich gerade zu uns setzen, da betreten zwei junge Frauen den Laden. Offenbar Holländerinnen. Bald schäkert Jaap fröhlich auf Niederländisch mit ihnen an der Theke.
Der Regen hat jetzt noch einmal kräftig zugelegt und prasselt nervtötend auf das Wellplastik im Hof. Wir schweigen eine Weile in unserer Biergläser, dann stehe ich auf und schließe das Fenster. Gleich wird es leiser und Bernd meint: »Wo du schon stehst, kannst du vielleicht noch … ?« und er malt einen großen waagerechten Kreis mit dem Zeigefinger in die Luft und deutet auf die Theke. »Dann erzähle ich euch auch eine schöne Geschichte«. Ich gehe zur Theke, aber es ist mehr mein Durst, als die Aussicht auf eine Story aus dem Leben eines Apothekers, die mich zum Tresen treibt und energisch Pilsjes fordern lässt. Jaap ist sehr vertieft ins Gespräch mit seiner neuen Kundschaft.
»Am Samstag war wieder Essen beim Grand Chef.« Bernd erzählt gerne Geschichten, zum Beispiel von Christian, seinem Vater. Ein engagierter Koch und Restaurantbesitzer, der irgendwann seine Gaststätte ganz profitabel verkauft hat. Er ist in einen öden Vorort gezogen und gibt dort jetzt den Hobbykoch und Freundebewirter. Im Sommer steht eine einladende lange Tafel unter einer imposanten Laube hinterm Haus, an der er gerne mediterrane Gelage feiert.
Hanne, Bernd und ich kennen uns schon seit dem Gymnasium und seitdem auch Christian. Wir gingen oft nach der Schule ins Restaurant, wo Christian uns allen ein Mittagessen machte. Ich merkte schon damals schnell, dass wir uns hier in einer anderen Kategorie befanden als bei Muttern zu Hause. Und dann verkündet er aus heiterem Himmel das Ende.
»Entweder kochst du für dich oder für deine Gäste«, erklärte er mir mal. »Wenn du jung und engagiert bist, dann probierst du rum, denkst dir was aus, experimentierst. Dann siehst du einen Stern winken und dann taucht irgendwann der zweite auf. Aber deine Gäste ändern sich. Die, die bei dir gut und lecker essen wollen, werden immer weniger, dafür kommen Menschen, die Geschmacksexplosionen erwarten, am liebsten das ganze Universum auf einem Löffel. Dann bietest du zehngängige Menüs an und musst etliche talentierte Leute einstellen, weil du sonst die nötige Akkuratesse und Präzision Abend für Abend unmöglich schaffst. Ich habe vollstes Verständnis für die jungen Kolleginnen und Kollegen, die diesen Weg beschreiten wollen. Ich habe das auch versucht, als ich jung war. Aber ich habe schnell gemerkt, dass meine neuen Gäste zwar sehr freundlich und vor allem auch gut betucht waren, aber ich wollte keine Kunstwerke auf dem Teller kreieren, sondern gesundes Essen mit einem gewissen Etwas kochen. Und das habe ich dann viele Jahre lang gemacht. Der Laden war immer voll. Die Stimmung war immer gut und ich hatte viele, viele Stammgäste, die über Jahre immer wieder kamen. Nur, ich war nie dabei. Ich war in der Küche. Wenn der Ansturm vorüber war, habe ich meine Runde gemacht, ein Scherzchen hier, ein Späßchen da, aber das war auf Dauer nicht befriedigend. Da habe ich begonnen, meinen Ausstieg aus der Arbeitswelt zu planen. Ich bin ja auch nicht mehr der Allerjüngste. Ich habe einen Käufer für meinen Laden gesucht und im Gegenzug eine Gelegenheit, eine Art Mini-Restaurant nur für mich und meine Freunde einzurichten. Alles ohne Hast und Eile. Ich bin sehr zufrieden damit.«
»Es war wieder mal Weinprobe mit ›ein paar französischen Häppchen‹ und ›frischen französischen Weinen‹«, beginnt Bernd. »Wo wart ihr denn eigentlich? Euch hat er doch sicher auch eingeladen.« Ja, hatte er, aber ich gestehe, dass ich mich vor diesen berüchtigten Weinproben in letzter Zeit gerne mal drücke. (Und ich denke, Hanne geht es ebenso.)
Herr Borgwald, seit vielen Jahren Christians Freund und Weinlieferant, stellt gerne interessante Weine vor, besonders wenn Christian kaufwillige Weintrinker versammelt. Ich verstehe nicht viel von Wein, Bernd aber schon und er findet Qualität und Preise überaus korrekt. Das Problem ist, dass diese Weinproben sich häufig zu schlimmen Saufereien auswachsen.
»Na, ist ja auch egal. Jedenfalls wurde es auch diesmal ein leckerer und lustiger Abend. Auch das Wetter hat prächtig mitgespielt. Wir waren, denke ich, rund ein Dutzend Leute an der langen Tafel, die meisten kannten sich. Ihr wisst ja wie das ist, man sieht sich ja meist nur bei Christian und hat dann doch immer ein bisschen was auszutauschen. Und so verstreicht der Abend ziemlich zügig.
Die Laube und das bisschen Garten drumrum kennt ihr ja. Die Laube ist jetzt richtig schön zugewachsen.
Du kommst also an, begrüßt die, die du kennst, wirst denen, die du nicht kennst vorgestellt, schlenderst mit einem Aperitif in der Hand durch den Garten und machst ein wenig Smalltalk. Dann werdet ihr an den Tisch gerufen und folgt brav, eine Tischordnung gibt es nicht. Christian begrüßt euch noch mal ein wenig offiziell, er freut sich, alle mal wieder zu sehen. Es wird ein paar leichte Lieblingsgerichte aus seiner frühen französischen Zeit geben und er hat ein wenig Angst, dass er uns enttäuscht. »Es sind wirklich einfache Sachen. Das was ich ganz zu Anfang gelernt und gekocht habe. Es passt nicht alles zusammen, aber ich hoffe, dass ihr freundlich darüber hinwegsehen könnt.«
Du schaust natürlich nicht weg, sondern begeistert hin und genießt. Es gibt nach und nach kleine Pastetchen, verschiedene Quiches, eine Muschelsuppe, Artischocken mit einigen Dips, einen Salat Niçoise mit tollem, nur ganz knapp angegrillten Thunfisch, Käse natürlich – auch eine Tartiflette – und dann für jeden eine eigene kleine Tarte Tatin.
Aber bevor es losgeht, ist Herr Borgwald dran. Er dankt Christian, dass er einige Weine vorstellen darf, er dankt uns, dass wir gekommen sind und dass er, wenn es an der Zeit ist, zu jedem Wein ein paar Worte sagen möchte.
Die Pausen zwischen den Gängen waren routiniert abgestimmt, sodass alle ausreichend Zeit mit dem jeweiligen Wein verbringen konnten, aber allmählich Lust auf die nächste Überraschung bekamen. Während die Teller verteilt und die Schüsseln herumgingen, erklärte Christian, wie er zu dem jeweiligen Gericht gekommen war und weshalb wir es heute Abend essen.
Es geht los mit Pasteten, unterschiedlich gefüllt und einem frischen Wein von der Loire und du sitzt gerade und aufmerksam am Tisch, isst konzentriert und mit Hingabe, genießt den Wein und dann bringst du dich in die allgemeine Unterhaltung ein. Aber mit jedem Tellerchen hier und Gläschen da, rutschst du tiefer in deinen Sessel und bist schließlich wonnig und beschwipst.
Und irgendwann fragt jemand Christian nach seiner Frankreichbegeisterung. Ob er denn immer schon ein Frankreichfan gewesen wäre. Nein, überhaupt nicht. Seine Eltern mochten die Franzosen nicht und in der Schule sei er in Französisch immer grottenschlecht gewesen. Auf einmal ist es ganz still. Alle schauen Christian an. Der lächelt sanft, dann schaut er auf, grinst ein wenig verlegen und sagt:
»Der Grund, weswegen wir heute Abend meine französischen Anfänge aufessen ist, dass ich vor kurzem jemanden aus meiner Schulzeit getroffen habe und das hat eine Menge Erinnerungen aufgewirbelt. Das ist aber eine lange Geschichte.«
Alle wollen die Geschichte hören. Natürlich. Mein Vater hat mir vieles aus seiner Jugend erzählt, auch von seinen Erfahrungen und Erlebnissen in Frankreich und später in der Schweiz und in Italien, klar. Aber diese Geschichte kannte ich nicht.
»Na gut.« Mein alter Herr platzte geradezu vor Vergnügen. Erst etwas zögerlich, war er jetzt entschlossen, mit seiner Geschichte herauszurücken. Die Gläser werden nachgefüllt und Christian richtet sich auf und beugt sich vor.
»Zuerst mal ein Vorwort: Seit ich aus dem Alter, in dem man Mädchen grundsätzlich doof findet, heraus war, war ich verliebt. Unsterblich und absolut hoffnungslos. Sie hieß Juliane, nannte sich aber Jule und ging in die gleiche Schule wie ich, nur zwei Klassen über mir. Jule war intelligent, freundlich, aufgeschlossen, hatte einen großen Freundeskreis. Ich war dumm, linkisch, verklemmt und kannte nur ein paar wenig inspirierende Jungs. Sie war vielleicht nicht das schönste Mädchen der Schule, aber sie hatte eine Art, sich zu bewegen, den Kopf ganz leicht schräg zu halten, wenn sie überlegte oder die Antwort eines Gegenübers abwartete. Wie sie ging und wie sie saß, wenn sie völlig entspannt auf immer der gleichen Bank in einem kleinen Park unweit ihres Zuhauses las, das alles machte mich wahnsinnig. Ja, ich habe sie gestalkt, habe sie beobachtet, da im Park auf der Bank, habe versucht herauszufinden, was sie für Bücher liest. Natürlich hätte ich sie nur zu fragen brauchen, aber sie anzusprechen, das hätte ich mich nie im Leben getraut. Zum Glück hat sie mich nicht erwischt, wenn ich um sie herumschlich. Das wäre an Peinlichkeit nur schwer zu überbieten gewesen.«
Ich kann es nicht beschwören, aber ich hatte den Eindruck, dass mein Vater bei diesem Geständnis tatsächlich ein wenig rot geworden ist. Er nahm einen beherzten Schluck, räusperte sich, und es ging weiter:
»Wegen Jule habe ich übrigens mit dem Rauchen angefangen. Das war dann schon etwas später. Die interessanten Leute standen in den großen Pausen in der Raucherecke am entferntesten Ende des Schulhofs herum und diskutierten. Wir waren alle links und glühende Verehrer des gerade erst ermordeten oder hingerichteten Che Guevara. Ich habe damals nicht wirklich verstanden, worum es bei ihm oder der Revolution auf Cuba ging, aber ich war gegen alle »imperialistischen Schweine«, gegen die CDU und für Willy Brandt. Ich hatte auch eine Mao-Bibel, ein kleines rot eingebundenes Büchlein, das mir jemand in die Hand gedrückt hatte, davon habe ich erst recht nichts verstanden. Ist ja auch egal. Jedenfalls, ich war einer von den Guten und entsprechend gut fühlte ich mich auch, zumal Jule ebenfalls aus ihrer linken Überzeugung keinen Hehl machte und klar, ich wollte mit ihr einer Meinung sein. Wir sahen uns eigentlich nur selten, denn ich war eindeutig noch zu jung für die Raucherecke und ging da nur hin, wenn ein Lehrer Aufsicht hatte, der garantiert nicht nachgucken kam. Jule sah mich, glaube ich, überhaupt nicht bewusst, denn ich war einer von den Kleinen, die halt auch da waren, aber nicht als Gesprächspartner taugten.
Meine unsterbliche, aber vergebliche Liebe zu Jule machte mich völlig unempfindlich für die aufblühenden Reize und Interessen meiner Klassenkameradinnen und deren Freundinnen. Erst Jahre später habe ich erfahren, dass ich tatsächlich Mädchen aus meiner Klasse ziemlich unglücklich gemacht haben muss, weil ich weder sie, noch ihre schüchternen Signale wahrgenommen hatte. Da ich natürlich keiner Menschenseele von meiner unerfüllten Liebe etwas verriet, galt ich als arrogant, schwul und auf jeden Fall etwas krank, weil ich keine Freundin hatte und offensichtlich auch keine haben wollte.
So, das war das Vorwort. Habt ihr alle noch zu trinken? Gut, dann kommen wir jetzt ins Jahr 1971. Jedenfalls an den Dienstag in der letzten Woche der Sommerferien. Jule kam in die 13. und ich in die elfte Klasse. Ich dachte nach wie vor sehr oft an sie, aber nicht so, dass ich ein seufzender Einzelgänger geworden wäre. Es gab da diese Clique, mit der ich abhing und um die Häuser zog. Anfangs waren das nur Jungs, inzwischen waren auch ein paar Mädels dabei.
An diesem Dienstag trafen sich ein paar aus dieser Gruppe bei Tommy, dessen Vater Produzent, Regisseur und Sprecher von Hörspielen und Features für den Rundfunk war und der im Souterrain seines Hauses ein tolles Tonstudio eingerichtet hatte. Tommy war schon immer ein Technikfreak und verdiente sich nebenbei gutes Geld, indem er als Techniker und Cutter die Aufnahmen aussteuerte, aufnahm und schnitt und sendefertig machte. Außerdem pflegte er mit großer Hingabe die vorhandene Technik. Kurz: Tommy war der Technikchef, obwohl er noch lange nicht mit der Schule fertig war, und konnte im Tonstudio machen, was er wollte, wenn nicht gerade produziert wurde.
An diesem Dienstag wurde nicht produziert, deshalb kamen fünf oder sechs von uns dort zusammen, mit Schallplatten und Alben unterm Arm, die wir auf der Superanlage dort anhören würden. Die Idee war, jeder brachte seine aktuellen neuen Lieblings-LPs mit, wir hören eine Weile rein und lassen sie dann bei Tommy, der sie professionell auf Band kopiert und davon für jeden von uns eine Kopie auf Cassette anfertigt. So hatten wir dann alle das Neueste von Led Zeppelin, Deep Purple, Jethro Tull, Ten Years After, The Nice, Cream und wie sie alle hießen. Ich weiß noch, ich hab damals eine Platte von Wishbone Ash mitgebracht.
Aber natürlich hörten wir nicht nur hingebungsvoll Musik. Ein Thema war immer wo man im Urlaub war. Da gab es die Italien-Fraktion (Gardasee, Lago Maggiore), Heiner verbrachte seit Jahren die Ferien in Rosas an der Costa Brava und schwärmte etwas übertrieben von den tollen Diskotheken dort. Andere fuhren nach Österreich, nach Holland und ich nach Dänemark. Conny allerdings hatte es besonders gut getroffen, denn ihr Vater ist Ire und sie machte oft und gerne Urlaub bei der Familie ihres Onkels in einem Vorort von London. Na ja, wer wäre in unserem Alter Anfang der 70er nicht gerne nach London gereist. Darüber hinaus hat sie auch noch einen gleichaltrigen Cousin, der ihr offenbar mit großem Vergnügen zeigte, was man in London wirklich gesehen haben muss. Auf jeden Fall kam sie mit Platten zurück von Musikern und Bands, von denen wir noch nie etwas gehört hatten.«
Christian schaute gedankenverloren in sein Weinglas und schwieg. Vielleicht hörte er gerade Musik von Wishbone Ash. Aber dann gab er sich einen Ruck, trank einen Schluck, grinste und erzählte weiter.
»Ach, ich schweife ab, das ist ja auch nicht so wichtig. Jedenfalls hatten wir einen schönen Tag, wir tranken gemütlich ein paar Bierchen, mümmelten Kartoffelchips und so’n Zeugs und ließen schließlich einen ordentlichen Joint rumgehen. Und hier kommt mein Problem mit Haschisch und Gras zum Tragen – ich werde unsagbar müde davon. So auch an diesem Nachmittag. Wir rauchten und hörten dabei irgendeine passende psychedelische Musik und dösten so vor uns hin. Ich saß in einer Ecke und hatte ein kleines Kissen bequem hinter den Kopf geklemmt.
Als ich aufwachte war es absolut still im Raum. Ich hatte mich ausgestreckt, an das Kissen gekuschelt und tief und fest geschlafen.
Auf dem Tisch fand ich einen Zettel, der in schöner Mädchenschrift besagte, dass ich so friedlich geschlafen hätte und man mich nicht habe wecken wollen. Ein paar von uns würden vielleicht noch in diese oder jene Kneipe gehen, ich würde sie sicher finden, wenn ich wollte. Dann stand da in Tommys krakeliger Handschrift, ich möge doch wenn ich abhaute alle Fenster zumachen, oben durch die Wohnung gehen, abschließen und den Schlüssel durch den Briefschlitz werfen (Schlüssel anbei). Dann stand wieder in der Mädchenschrift: ›Wir haben dir Kuchen übrig gelassen. Küche.‹.
Ich war noch ganz weggetreten, aber total entspannt. Ich habe sicher erst einmal eine Viertelstunde nur da gesessen, dann ganz langsam aufgeräumt, mein Kissen zurückgelegt, ein paar Gläser, die in der Spüle standen abgewaschen, meinen Kuchen gegessen, die Fenster kontrolliert, das Licht überall ausgeschaltet, all das, was man normalerweise so nebenbei macht, ganz bewusst und konzentriert. Dann bin ich gegangen.
Es war früher Abend und die Sonne schien noch, aber es war leicht dunstig und warm, eine wunderschöne Abendstimmung. Ich würde sagen, ich war froh. Altmodische Wort, ich weiß, aber das trifft es ganz gut. Froh und still und friedvoll. Ich entschloss mich zu Fuß nach Hause zu gehen, obwohl das keine ganz kurze Strecke war, aber vielleicht würde ich ja auch nur einen Teil der Strecke laufen und den Rest mit der Bahn fahren. Nach einer Weile kam ich an die Kreuzung der Entscheidung. Links abbiegen und nach Hause gehen oder geradeaus weiter in die Stadt. Da bin ich dann erst einmal stehen geblieben. Und dann hörte ich eine Mädchenstimme rufen:
»Schaut mal, da ist ja Christian!«
Marion, ein Mädchen aus meiner Klasse, Inge aus einer Klasse über mir und Petra, die ich da noch nicht kannte, kamen aus einer Seitenstraße auf mich zu. Alle waren ganz in Schwarz gekleidet und eine hatte eine Baskenmütze auf. Sie fragten mich fröhlich, weshalb ich denn da an der Straßenecke herumstehe und ich sagte, dass ich versuche mich zu entscheiden, ob ich in die Stadt oder nach Hause gehen will. Da haben sie mich rechts und links untergehakt und wir sind gut gelaunt in die Stadt gezogen.
Gelandet sind wir in einer merkwürdigen kleinen Straße, die ich zwar kannte, von der ich aber nie gedacht hätte, dass es da eine Kneipe gibt. Es gab aber sogar drei und in die mittlere schoben mich die Mädels rein.«
Christian trank einen Schluck und machte eine dramatische Pause.
»Und dann übermannte mich ein absolutes WOW!-Erlebnis! Der Raum war überraschend groß, fast quadratisch, an den Seiten gab es Kneipentische mit Kerzen drauf und in der Mitte mindestens acht oder zehn Stehtische, die gut frequentiert waren. Die gesamte Stirnwand wurde von einem langen Tresen eingenommen. An den Wänden hingen große Schwarzweißfotos mit – ja, ich nenn’ das mal – Pariskitsch. Ihr wisst schon: Eiffelturm, Sacre Coeur, Cafés von außen und von innen, übrigens auch mit Juliette Gréco, Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Camus und so weiter. Gespielt wurden französische Chansons, für die ich an dem Abend noch nicht das richtige Ohr mitbrachte.
Es war noch früher Abend und trotzdem war der Laden schon ziemlich voll. Viele der Gäste trugen schwarz. Und man trank Wein, Rotwein überwiegend. Es gab auch Leute mit kleinen Bierflaschen, ich glaube, es war belgisches Bier.
Ich muss ziemlich deppert ausgesehen haben, denn die Mädchen grinsten und meinten, ich wäre wohl noch nie hier gewesen. Wir stellten uns an einen Stehtisch und Marion verkündete, dass sie eine Runde ausgibt und ich mitkommen und tragen helfen soll. Wir wurden auf dem Weg zur Theke gleich an einem anderen Tisch aufgehalten, Marion war offenbar bekannt, Küsschen hier und Küsschen da. An der Theke wurde ich Freddy vorgestellt, der eigentlich Frédéric heißt. »Aber die Leute hier können die vielen Accents nicht aussprechen.« scherzte er und lachte schallend über seinen Witz. Er sprach ein fehlerfreies Deutsch mit einer sehr gepflegten französischen Aussprache.
Wir standen also an unserem Tisch, nicht weit vom Eingang entfernt, hatten gute Laune und tranken mehrere Gläser Wein. Von Zeit zu Zeit verschwand die eine oder andere meiner Begleiterinnen an einen anderen Tisch, um jemanden zu begrüßen und ein wenig zu quatschen. Offenbar gehörten sie bis auf Petra zu den Stammgästen. Mit Petra, die zwar schon ein-, zweimal hier gewesen war, aber auch niemanden sonst kannte, habe ich mich ziemlich gut unterhalten. Irgendwie haben wir schnell gemerkt, dass wir sehr gut miteinander können. Wir haben viele gemeinsame Themen gefunden. Petra ist Inges Cousine, wohnte damals in einer Kleinstadt-WG und war bei Inge öfter zu Besuch.
Gerade, als wir zu viert wieder am Tisch standen und überlegten, ob wir die legendäre Zwiebelsuppe essen sollten, ging die Tür auf und herein stürmte – Jule! Wenn mir jemand gesagt hätte, ich hätte sie mit offenem Mund angegafft, hätte ich das sofort geglaubt. Sie kam gleich an unseren Tisch. Der stand ziemlich in der Nähe des Eingangs und so waren wir die ersten, die sie sah. Sie begrüßte Marion und Inge überschwänglich und auf französisch mit Küsschen rechts, Küsschen links und auch Petra begrüßte sie mit Namen und "schön, dass du wieder mal hier bist." Und dann sah sie mich an, zeigte mit dem Finger auf mich und sagte: "Dich kenn ich auch. Du bist auch auf unserer Schule. Klar, und du bist auch manchmal in der Raucherecke. Moment – Christian, richtig?" Sie hatte mich wiedererkannt und sogar meinen Namen irgendwo aufgeschnappt und ihn behalten!! Ich versuchte, einen auf cool zu machen, aber wenn sie mich ebenfalls mit Küsschen, Küsschen begrüßt hätte, wäre ich wohl in Ohnmacht gefallen. Zum Glück wurde sie gleich an einen anderen Tisch gerufen und zwar auf französisch, was wie "Jühl" klang. Sie rief zurück "j'arrive!" und verschwand dann in der Menge. Den Rest des Abends habe ich nicht mehr so ganz klar mitbekommen.
Ja, so hat mein Frankreich-Tick angefangen. Jule habe ich beim Getränkenachschubholen an einem der Tische in fließendem, jedenfalls sehr gutem Französisch reden hören, an einem anderen Tisch wurde über Sartre und die "Verdammnis zur Freiheit" diskutiert und Freddy spendierte uns zum Wein vier kleine Pastetchen, die schmeckten mir damals sensationell! Ich ging an diesem Abend mit der Erkenntnis nach Hause, dass Blues und Rock, Diskos und Bier aus der Flasche, also das, was meine Jugend bisher ausgemacht hat, ja ganz nett ist, dass ich aber heute Abend in eine ganz andere, eine ästhetischere und intellektuellere Welt hineinschnuppern konnte. Und zu dieser Welt wollte ich gehören. Ich wollte Jule wiedersehen und nach Möglichkeit auch Petra und nach dem Abi würde ich Philosophie studieren.
Na ja, es kam dann nicht ganz so. Jule sah ich seltener, weil sie sich aufs Abi vorbereitete und nicht mehr so oft ausging, Mit Petra traf ich mich in den wenigen Tagen vor ihrer Heimreise öfter im "Bien sûr", aber auch in der Stadt oder im Park zum Spazierengehen. Am meisten hatte ich danach aber mit Freddy zu tun, denn ich wurde quasi Stammgast bei ihm und wir haben uns ziemlich oft ziemlich lange unterhalten. Er war gelernter Koch, der irgendwann keine Lust mehr aufs Kochen hatte, sich eine Auszeit nahm und ein wenig herumreiste. Auf einer Deutschlandrundreise lernte er ein Mädchen kennen und nach einer Weile eröffneten sie ein Bistro. Es sollte so aussehen, wie sich die Deutschen ein typisches Bistro vorstellen und entsprechende Bistroküche geben. Hat aber nicht funktioniert, weil die Deutschen hier offenbar keine Bistroküche wollten und auch keine süßliche Akkordeonmusik Sie wollten lieber Wein, Käseteller und kleine Häppchen und tiefsinnige Lieder von Juliette Gréco und Françoise Hardy. Freddy baute den Laden blitzartig um. Die Stehtische waren der Hit, weil man frei herumlaufen und hier und da seinen Senf abgeben konnte, es kamen Kerzen rein und es wurde allgemein schummriger. Ursprünglich gab es auch eine kleine Bühne, und die Konzerte müssen gut besucht gewesen sein. Aber schon bald hat Freddy keine herumreisenden französischen Chansonniers mit der richtigen linken Gesinnung mehr gefunden und die Bühne wieder abgebaut.
Ja, und diesem Freddy habe ich im Grunde meinen Beruf und meinen Werdegang zu verdanken. Wir redeten immer öfter übers Essen und wie man was am besten zubereitet. Und weil mich das immer mehr interessierte, stellte Freddy den Kontakt zu seinem Onkel her, der ein Restaurant in der Normandie betrieb. Er hatte lange in München gekocht und sprach leidlich deutsch. Dort würde ich für vier Wochen in der Küche helfen und nach Möglichkeit viel lernen. Freddy hatte mich gewarnt: "Es gibt dort viel Fisch". Ich bin dort acht Monate geblieben, habe vormittags Französisch gelernt, nachmittags Fisch und Meeresfrüchte vorbereitet und abends bei der Zubereitung geholfen und Kochen gelernt. Erst später habe ich erfahren, dass manche Gäste über viele, viele Kilometer angereist kamen, um hier Fisch zu essen.
Nach acht Monaten hat mich mein »gastronomischer Ziehvater« quasi rausgeschmissen. Ich müsste jetzt endlich mal was "Richtiges" kochen lernen. Ein Freund von ihm im Burgund sucht jemanden wie mich und die Gelegenheit müsste ich jetzt nutzen. Da war ich dann ein Jahr, dann ging's endlich auch nach Paris. Das war nicht so toll. Und dann in den Süden und so weiter. Ja, so wurde aus mir ein Frankreich-Fan. Das war meine Frankreich-Erweckung.«
Boah. So ein Essen, der Wein und dann solch eine rührselige Geschichte – ich habe meinen Dad richtig vor mir gesehen, als schüchternen Jungen, der seiner unerreichbaren Liebe hinterherschmachtet und wie er Französisch lernt, um dazuzugehören. Gottseidank räusperte sich Herr Borgwald nach einigen Augenblicken absoluter Stille und meinte, eine solche Geschichte müsse mit einem entsprechenden Wein gekrönt werden. Als alle ihren »Krönungswein« probiert und ordentlich gelobt hatten, wurde es dann doch noch einmal still am Tisch, als jemand sagte: »Nun musst du uns aber auch sagen, wen du getroffen hast, wem wir also den Anlass für diesen tollen Abend verdanken!«
Jemand fragte, was alle gehofft hatten: »War es Jule?«
Christian grinste und sagte: »Nee, es war Inge, Marions Freundin. Sie hat mich angesprochen und ich wusste sofort, wer sie war. Wir haben einen Kaffee getrunken und uns gegenseitig in Kurzform erzählt, was so passiert ist seit damals. Sie hat einige Male bei mir im Restaurant gegessen, hat sie gesagt, und mich auch in der Küche gesehen. Zu ihrem Mann hat sie gesagt: ›Der Koch da ist ein Kumpel von mir.‹ und er: ›Ja, ja, red du nur.‹ Das fand sie ziemlich lustig.
Na jedenfalls: Jule ist an der Sorbonne gelandet und dann irgend etwas in der EU-Verwaltung geworden. Sie lebt in Brüssel. Inge hat ihre Adresse und will sie mir geben, aber ich glaube, ich will sie gar nicht.
Petra ist Rechtsanwältin in Berlin und hat sich öfter nach mir erkundigt. Ich werde sie mal anrufen, ich habe jetzt ihre Nummer. Und Inge hat Stadtplanung oder so etwas studiert und arbeitet in einer Verkehrsbehörde. Und sie ist mit einem Holländer verheiratet und sehr glücklich.