Jugenderinnerungen
„Wahnsinn!“
Harry war bis zum Rand gegangen, hatte beide Arme ausgebreitet und schrie seine Freude in den Horizont.
Unter ihm lag in einigen hundert Metern Tiefe der Embrasser-Fluss, welches seine Arme nördlich nach Horikan und südlich nach Embrasser streckte.
Während Kati und John emsig damit beschäftigt waren, die Heringe für die Zelte in den steinigen Boden zu hauen, genoß Harry die leichte Westbrise.
Um 10.00 Uhr hatte ihre Expedition in die Wälder von Embrasser begonnen. Mit zwanzig Kilo Marschgepäck, einer ordentlichen Portion Abenteuerlust und den frischgemachten Butterbroten von Frau Solores, Katis Mutter, waren sie festen Willens aufgebrochen, die Hügel von Embrasser zu erklimmen und dort einige Ihrer Ferientage zu verbringen. Das erste Mal weg von zuhause, alleine in der Wildnis, ohne den elterlichen Schutz und der vertrauten Umgebung. Acht anstrengende Stunden später waren sie hier oben angelangt, auf einem kleinen felsigen Hügel weit weg von zuhause. Und sie hatten es sich hart erkämpft. Von langer Hand geplant, mußten einige Hindernisse bewältigt werden, die sie nicht einkalkuliert hatten.
Katis Mutter wurde zu allererst in den Kreis der Verbündeten übernommen, was ein leichtes war. Viel schwieriger war es, Johns Mutter von der wichtigen Bedeutung der ersten Erfahrung ohne Eltern zu überzeugen. John war mit seinen fünfzehn einhalb zwar der Älteste von den Dreien gewesen, hatte aber Zeit seines Lebens mit der übermäßigen Sorge seiner Mutter zu kämpfen. John war immer der erste gewesen, der den Bolzplatz verließ, weil er nicht solange raus durfte. Er durfte auch keine amerikanischen Kinofilme sehen, da sie alle zuviel Gewalt enthielten. Man hatte es als Johns Freund nicht einfach. Harry kannte solche Probleme nicht. Er konnte tun und lassen was er wollte. Wenn es ihm gefiel, rauchte er Zigaretten, trank Bier oder blieb bis Mitternacht wach.
Sie hatten das Problem mit Johns Mutter so ausgehebelt, indem Katis Mutter bei Johns Mutter angerufen hatte und ihr bei ihrem Leben versichert hatte, dass sie bei ihr für drei Tage übernachten könnten. Kein Wort davon, dass sie in freier unberührter Wildnis Zelten würden.
„Wenn du nicht im Dunkeln das Zelt aufbauen willst, würde ich an deiner Stelle jetzt damit beginnen.“ rief Kati. Harry drehte sich um. John saß auf einem Felsen und schnitzte Figuren in seinen Wanderstock, während Kati den letzten Hering ihres Zeltes in den Boden schlug.
Harrys Zelt war in einer großen Tasche verborgen und wartete darauf, dass er es aufbaute.
Kein Problem, dachte er. Er war handwerklich immer schon geschickt gewesen, so dass es ein leichtes sein müßte, ein Zelt aufzubauen, was selbst Kati innerhalb einer viertel Stunde geschafft hatte, dachte er.
John hatte mittlerweile ein Kunstwerk aus seinem Wanderstock gefertigt und Kati bewies sich mithilfe der Dosensuppen und Grillwürste als geübte Lagerfeuerköchin und Harry?
Harry quälte sich immer noch mit dem Zelt herum, eine halbe Stunde länger als Kati gebraucht hatte. Er fluchte und trat mit seinem Fuß ein ums andere Mal gegen die leere Tasche. „Mir fehlt eine Stange, verfluchter Mist. Wer hat meine Stange?“ eine Frage, die er sich selber am besten hätte beantworten können, wenn er sich daran erinnert hätte, dass er besagte Stange beim letzten Zelten zum Zertrümmern eines verwaisten und stillgelegten Fords benutzt hatte.
„Kannst bei mir pennen.“ schlug Kati vor. Sie war ein echter Kumpel.
„Oder bei mir.“ sagte John. Idiot, dachte Harry, Tour versaut.
„O.K. John.“ Er sah Kati an, die seinen Blick nicht erwiderte.
Das Angebot von Kati anzunehmen wäre in Ordnung gewesen, solange John keines gemacht hätte. Nun, da er es ihm ebenfalls angeboten hatte, konnte er nicht mehr Katis Angebot annehmen, da es zu offensichtlich gewesen wäre, dass er was für Kati empfand.
Natürlich empfand er nichts für Kati. Deswegen machte es ihm nicht besonders viel aus.
Hätte er aber was für Kati übrig gehabt, dann hätte John mit seinem Angebot ihm die Tour gründlich vermasselt.
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Die Finsternis kam viel schneller, als sie erwartet hatten.
Harry saß zwischen John und Kati auf einem großen Felsen und aßen die Fertiggerichte, als wäre es ein Drei Sterne Essen und würde wie ihr Lieblingsgericht munden, dabei schmeckte es einfach nur fad. Die Reste kippten sie den Hang hinunter. Sollten die Tiere des Waldes auch was davon haben. Anschließend begann die Lagerfeuerromantik. Harry kramte aus seiner Tasche ein Päckchen Marlboro hervor und entzündete die erste Zigarette mit dem glühenden Ende eines Holzstocks aus dem Feuer. Er nahm einen tiefen Zug und inhalierte tief, bevor er den Rauch langsam aus seiner Lunge entweichen lies. John war als nächstes dran. Doch er wollte nicht. Harry schien es, als erwarte er jeden Moment seine Mutter, die hinter einem Baum hervor kommen könnte.
„Komm, schon! Eine Zigarette. Wir sind hier absolut allein.“
John schüttelte den Kopf. Seine Anspannung war spürbar.
„Jetzt hab dich nicht so. Du bist beinahe erwachsen.“
„Lass ihn doch.“ sagte Kati und schnappte sich das zu John hingehaltene Päckchen Zigaretten.
Sie nahm zwei Zigaretten, steckte sie in die Nase und zündete sie an.
„Es geht nicht.“ murmelte sie.
„Was?“
„Es kommt kein Rauch durch.“
Harry sprang auf und hielt ihr den Mund zu. John kringelte sich vor Lachen auf dem Boden.
„Hör auf rumzualbern“ sagte Harry „hilf mir lieber. Halt ihr die Ohren zu.“
Kati hustete und schluckte. Harry ließ erschrocken los.
„Schweine!“ sagte sie und lachte gleichzeitig.
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Kalte Dunkelheit hatte sich auf das kleine Lager gelegt, umarmte die Bewohner des Waldes und die ungebetenen Gäste aus dem Ort. Das fröhliche Zwitschern der Vögel war verstummt und wich der einsetzenden Stille und den obskuren Geräuschen der Nacht.
„Es wird Zeit für eine Geschichte.“ sagte John. Er lächelte ein kaltes Lächeln. „Ich mag keine Geschichten.“ sagte Kati. „Nur wenn sie fröhlich sind.“
„Es wird eine fröhliche Geschichte werden, Kati. Du wirst lachen und froh sein, dass es nur eine Geschichte war.“
„Hör auf!“ Ihr leiser Protest war nicht wirklich – die Neugierde hatte sie übermannt. In Wirklichkeit mochte sie gruselige Geschichten, deren Horror bei ihr sanfte Schauer auslösten, Voll wohlige Anspannung blickte sie ihn an.
„Nun gut, meine Freunde, lehnt euch zurück und denkt daran, es ist nur eine Geschichte.“ John zog an einer Zigarette, was so ungeschickt aussah, wie man es von einem erwartet, der zum ersten Mal in seinem jungen Leben raucht.
„Einst lebte in einem kleinen Dorf eine Frau, deren Wildheit nicht natürlich erschien. Alle Dorfbewohner waren sich einig. Diese Frau hatte einen Pakt mit dem Teufel geschlossen.
Jede Nacht ertönte von dem kleinen Bauernhof ein unmenschliches Brüllen, ein Schreien, was nicht von dieser Welt war.“ John zog nochmal kräftig an seiner Zigarette.
„Eines Nachts fassten sich drei mutige Männer ein Herz und gingen mit Fackeln bewaffnet zu diesem Bauernhof. Sie wollten ergründen, was da vor sich ging. Es muß ein seltsames Bild gewesen sein, wie diese drei Männer durch das Dorf zu dem einsamen Pfad gingen, um zu dem Bauernhof der Wilden zu gelangen. Mit vielem hatten sie gerechnet. Nicht aber mit dem, was sie vorfanden. Sie verschafften sich mit Gewalt Zugang zum Haus, benebelt von Bier und dem immerwährenden Gebrüll sahen sie, was sie nicht für möglich hielten. Ein Kind, ein Junge, kauerte in einer Ecke des Wohnzimmers, brüllte aus Leibeskräften, blutverschmiertes Gesicht, kaum zu erkennen, dass es ein Junge war. Die Wilde kam wie eine Furie aus der Küche gerannt und hätte die drei Männer beinahe überrumpelt. Aber sie waren zu dritt. Und so konnten sie, wenn auch mit viel Mühe, die Wilde überwältigen. Weshalb sie ein Messer in der Hand gehalten hatte, konnte sie später dem Richter nicht erklären. Ihr wurde das Sorgerecht für das Kind entzogen. Es kam in ein Jugendheim, was nicht viel besser war als das Zuhause.“ Johns Hand umklammerte die Zigarette. Sie zitterte, seine Stimme bebte.
„Fünf Jahre später landete er wieder bei seiner Mutter, deren Wildheit einer fortschreitenden Demenz platz gemacht hatte.“
Kati war erschüttert. Sie legte einen Arm um John und versuchte Trost zu spenden.
„Ich hatte solche Angst.“ Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange.
„Es ist alles gut. Niemand wird dir je wieder etwas tun.“ sagte sie. Die Sanftheit ihrer Stimme vermochte alles Elend der Welt zu trösten, glaubte Harry.
„Hey, es war alles nur eine Geschichte.“ John lächelte verschmitzt, doch der traurige Ausdruck in seinen Augen blieb.
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Wenn die Schwärze der Nacht tiefer ist als der Schmerz in der Seele und ein Verweilen unter den Lebenden nur noch einen Hauch weit entfernt ist von denen der Toten, dann ist es Mitternacht.
Johns Zelt war geräumiger als es von außen den Anschein gemacht hatte. Es war zwar nicht so gemütlich wie das heimische Bett, aber man konnte zumindest die Beine ganz ausstrecken.
„Hast du jemals in deinem Leben Angst gehabt?“ fragte John.
„Angst? Als ich klein war, hatte ich immer Angst im Dunkeln gehabt. Ich fürchtete mich vor Monstern und Gespenster. Aber mittlerweile kenne ich keine Angst.“
„Ich habe Angst“, gestand John.
„Weshalb?“
„Es hört sich vielleicht blöd an, aber ich habe furchtbare Angst davor verrückt zu werden.“
„Verrückt?“
„Ja. Plemplem. Alles um einen herum bekommt ein neues Antglitz. Überall sind sie.“
„Wer?“
„Monster. Kleine, grüne und schleimige Monster. Sie sind überall.“
„Hör auf!“
„Sie sind in deinem Kopf. Sie fressen sich durch dein Gehirn und langsam ganz langsam wirst du auch so ein grünes, beschissenes Monster. Deine Haut fühlt sich schleimig an und du hast nur noch ein Verlangen...“
„Ich frage mich, ob Kati gut schlafen kann.“
„...zu töten.“
„Kati?“ rief Harry.
Er bekam keine Antwort.
„Kati?“ rief er nochmal.
„Verdammt. Soll ich mal nachsehen gehen? Vielleicht ist ihr was passiert. Ich geh´mal zu ihr.“
„Nein! Warte! Ich glaube wir sollten die Ruhe bewahren. Immerhin ist ihr Zelt ziemlich weit weg von unseres.“
„Vielleicht hast du Recht. Aber...“ Harry unterdrückte einen Schrei. Hinter John bewegte sich ein Schatten. Er war sich nicht sicher, was es war. Es schien sehr groß zu sein.
„Was ist?“ John sah hinter sich, konnte aber nichts erkennen.
„Nichts. Es war nichts.“
„Mann, allmählich glaube ich, du wirst paranoid.“
„Da war etwas.“ flüsterte Harry. Er nahm die Taschenlampe aus seiner Tasche.
„Ich werde mal sehen, wie es Kati geht. Du kannst ja hierbleiben.“
„Geh ruhig. Ich werde hier bleiben und schlafen. Aber pass auf, dass dich kein Monster erwischt.“
Harry sah sich nochmal um und warf John einen verächtlichen Blick zu. Dann trat er ins Freie.
Die Taschenlampe war wie sich herausstellte ungeeignet für Nachtwanderungen. Ein viel zu kleiner Lichtkegel offenbarte ihm die Unebenheiten des Bodens erst, wenn er darüber gestolpert war. Ein plötzlich aufkommender Wind blies ihm Regentropfen ins Gesicht. Unscheinbar hatten sich Regenwolken angeschlichen. Dunkle Massen schoben sich über Harrys Kopf und entluden ihre Nasse Ladung.
Etwas heftiger als er es gewohnt war, atmete er. Und etwas mehr als ihm lieb war, zitterte er.
Immer wieder sah er sich um, blickte auf die über ihn drohenden Äste, die nach ihm zu greifen schienen und stolperte vorwärts. Wie konnte John nur so ruhig bleiben? Er lag jetzt in dem Zelt und schlief womöglich, während er vor lauter Angst gleich in die Hose machte. Er zwang sich, sich zusammenzureißen.
Katis Zelt lag vor ihm und schien so friedlich zu sein, dass er schon umdrehen wollte, weil er sich so einen Schwachsinn eingeredet hatte. Es war zu still. Dieser Gedanke raste ihm durch den Kopf. Mit pochenden Herzen und verschwitzten Fingern öffnete er den Reißverschluß des Zeltes. Von wilden Befürchungen begleitet, trat er ins Innere. Kati kauerte in einer Ecke und starrte ihm mit weit geöffneten Augen angstvoll an.
„Hast du es auch gesehen?“ fragte Harry.
„Ich weiß nicht.“
Sie zitterte wie Espenlaub. Harry ging zu ihr hin und legte den Schlafsack um sie.
„Ich weiß auch nicht, was ich gesehen habe. Es war groß.“
„Vielleicht hätten wir das Essen doch nicht einfach so den Hang runterkippen sollen.“
„Du meinst..“
„Bären! Die könnten wir angelockt haben.“
„Scheiße.“
„Wo ist John?“
„Der Idiot. Der wollte nicht mitkommen. Der liegt in seinem Zelt und schläft.“
„Wir können ihn nicht alleine lassen. Wenn es ein Bär ist, dann haben wir nur zusammen eine Chance.“
„Wenn es ein Bär ist, haben wir überhaupt keine Chance.“ widersprach Harry.
Kati drückte sich an ihn. Das ganze Selbstbewußtsein und ihre ganze Überlegenheit war einer nie dagewesenen Angst gewichen. „Was können wir tun?“
„Ich weiß nicht.“ sagte Harry. Er spielte den kühnen Beschützer, der weder Furcht noch Nerven kannte, dabei konnte er nur mühsam das Beben seiner Stimme unterdrücken.
Der immer heftiger aufkommende Wind peitschte gegen die Zeltwand und lies den Raum immer kleiner werden. Für einen winzigen Moment glaubte Harry eine Silhouette auszumachen. Etwas huschte am Zelt vorüber, harrte einen Moment, als ob es nach etwas suche und verschwand wieder. Harry richtete den Schein der Taschenlampe in die Richtung.
„Was ist da?“ wisperte Kati. „Verflucht! Halt die Klappe. Es kommt.“
„Was?“
„Es kommt näher. Scheiße.“
„Oh, Gott. Oh, Gott.“
Harry hielt Kati den Mund zu, die jegliche Beherrschung zu verlieren schien.
Etwas machte sich am Zelt zu schaffen. Zuerst war es nur ein Scharren, ein kratzendes Geräusch. Dann sah Harry, wie die Silhouette einer Kralle sich durch die Zeltwand zu drücken versuchte. Ein Mensch hätte schon längst den Reißverschluß geöffnet, wenn es tatsächlich ein Mensch war und es ins Zelt wollte, dachte Harry.
Katis Körper preßte sich an Harry. Beide waren in die hinterste Ecke des Zeltes gekrochen. Anscheinend hatte es den Reißverschluß als geeignetes Instrument zum Öffnen des Zeltes entdeckt, denn langsam wurde der Verschluß nach oben gezogen.
Harry befreite sich von Katis Umklammerung und wagte sich einen Schritt vor. „Buuaahh!“ machte er in dessen Richtung. Doch dieser verzweifelte Versuch, diesem Wesen Angst einzujagen, hatte den gegenteiligen Effekt. Harry hatte noch mehr Angst als vorher, da das Wesen sich nicht davon stören ließ.
Harry stolperte wieder zurück zu Kati und blickte entsetzt zum Zelteingang.
Mit einem Mal wurde es dunkel. Es war eingetreten und verhinderte durch seine massige Erscheinung, dass Ausbreiten des Lichts. Harry richtete die Taschenlampe auf den Besucher.
Obgleich Harry erkannte, dass es John war, wich seine Angst nicht.
„Ich suchte euch.“ sagte John.
„Ich suchte euch überall.“ Nicht nur durch den kleinen Lichtkegel, der auf Johns Gesicht traf wirkte er monströs. Etwas war an ihm verändert. Die Augen funkelten wild und aus seinem Mund tropfte in dünnen Fäden der Speichel.
„Was ist los mit dir?“ flüsterte Kati, der es ebenfalls nicht entgangen war, dass etwas mit ihm nicht stimmte.
„Ich habe die Geschichte noch nicht zu Ende erzählt!“
„Was? Hör auf mit dem Scheiß!“ schrie Harry. Doch John ließ sich nicht unterbrechen.
„Wißt ihr, so ein Pakt mit dem Teufel hat immer zwei Seiten. Einerseits bekommt man das, was man sich am sehnlichsten wünscht und andererseits.... Glaubt mir, meine Mutter hatte sich so sehr ein Kind gewünscht. So sehr, dabei war sie so häßlich und unansehnlich, dass alle Männer sie mieden. Alle, bis auf einen. Ihre Gebete wurden erhört. Sie fragte nicht, wer er war, als er eines Tages in der Tür stand. Sie wunderte sich auch nicht darüber, dass er nur das Eine von ihr wollte. Sie teilten eine Nacht miteinander. Es wurde ein Sohn.“ Harrys Blick fiel auf Johns rechte Hand, die ein großes Schlachtermesser umklammerte. Von diesem tropfte Blut.
John bemerkte Harrys Blick.
„Ach, das. Das war nichts.“ Er hob das Messer an seinen Mund. Mit seiner Zunge fuhr er gierig über die feuchte Klinge.
„Aber bei jeder Medaille gibt es zwei Seiten. Sie bekam das, was sie wollte, einen menschlichen Sohn, so dachte sie zumindest, einen niedlichen, kleinen Jungen. Sie war das erste Mal in ihrem erbärmlichen Leben glücklich, bis zu jenem Tag als ich feststellte, dass ich nicht hierher gehöre, ich weniger menschlich bin als ich aussah. Ich entdeckte, dass ich viel stärker und schneller war als jeder Mensch, jedes Tier, was ich kannte. Und ich hatte Hunger. Nachts habe ich einen solch großen Hunger, ich könnte ein ganzes Dorf verdrücken.“ John fletschte die Zähne. „Als mich die drei Männer an jenem Abend erblickten, haben die ziemlich verdutzt dreingeblickt. Ich glaube, dass sie zunächst davon ausgingen, dass ich ein Hund sei, der an einem Knochen nagte. Sie erkannten nicht die Wahrheit – oder wollten es nicht. Sag, Harry, wieviele Jungen kennst du, deren Mahl aus Menschenfleisch besteht? Herrgott, ich war erst acht. Diese Menschen waren nicht gut. In ihnen war so viel Schlechtes. Ich kann das spüren. Ich spüre, wenn sie Angst haben, ihre Lügen und ihre Zweifel. Sie hatten es alle verdient. Und ich erinnere mich genau, wie Mutter mit einem Messer auf mich zugerannt kam“, fasziniert sah er auf die Klinge seines Messers.“ ..ja, es war wie dieses und sie kam auf mich zugerannt, um dem ein Ende zu bereiten, was sie heraufbeschworen hatte. Ist das nicht komisch. Die drei Männer kamen mir zu Hilfe und verhinderten dass meine Mutter mich töten konnte.“
Harry fand, dass es überhaupt nicht komisch klang. Er hatte genug davon gehört. Mit einem Mal stand er auf, hob die Taschenlampe und schlug sie mit aller Wucht gegen Johns ekelgrinsende Fratze. Doch dieser zuckte nicht einmal. Mühelos fegte er mit einem Prankenschlag Harry von den Füßen. Er beschrieb einen leichten Bogen bevor er einen Meter weiter benommen in einer Ecke liegen blieb.
Plötzlich sackte John zusammen, fiel vornüber und landete mit dem Gesicht auf Katis Schoß. Kati schrie auf. Eine Axt rakte aus Johns Rücken, an dessem Ende sich eine wildaussehnde Frau zu schaffen machte. Mit einem lauten brechenden Geräusch zog sie die Axt aus Johns leblosen Körper.
„Unartige Kinder!“ sagte sie.
„Ihr seid alle unartige Kinder.“
[ 03.07.2002, 10:16: Beitrag editiert von: André ]