Judith und die Gespenster – Die Höhle
Als der Schädel zerborsten am Boden lag und der Lärm am Eingang endgültig verstummte, wollte Judith verschnaufen. Doch die beiden Kaninchen blieben angespannt. Mit hoch gestreckten Ohren und großen Augen starrten die beiden auf den zerstörten Totenkopf. Mona klopfte sogar mit den Hinterpfoten. Langsam gewöhnten sich Judiths Augen an die Dunkelheit. Sie erkannte den Grund für die Aufregung: Als wäre sie lebendig, verließ eine grünlich leuchtende Flüssigkeit den Schädel.
Kurze Zeit später war alles um die drei herum in grünlichen Schimmer gehüllt. Nur sie selber waren verschont geblieben. Beunruhigender noch waren die Geräusche, die von außen hereindrangen. Es klang wie Wispern und Zischeln.
Die Kaninchen drängten sich zusammen.
Judith war mit ihren einen Meter dreißig für ihr Alter sehr groß aber dünn genug, sich mit den Kaninchen hinter einem vorstehenden Stein zu verstecken.
Glücklicherweise verhielten sich die Tiere unter ihrer Jacke ruhig. Die Wesen, die den Raum betraten, ließen eiskalte Schauer durch ihren Körper fahren.
Es waren Menschen. Vielen fehlten Gliedmaßen, manchen hingen Hautfetzen herunter, ohne dass sie bluteten. Andere waren teilweise durchsichtig. Einem lief ein tief eingedrückter roter Striemen um den Hals und sein Kopf neigte sich in einem unnatürlichen Winkel. Alle waren mit dem grün leuchtenden Schleim überzogen.
Erst als sich eines der Kaninchen heftig bewegte, zeriss der Schleier vor Judiths Augen und sie kam wieder zu Bewusstsein. Stupsi befreite sich und drängte durch einen Spalt, den Judith in der Aufregung übersehen hatte. Sie ließ Mona hinterherlaufen und schaffte es, sich selbst durchzuschlängeln.
In letzter Sekunde hatten sie sich gerettet. Die Wesen wirkten orientierungslos, dennoch kamen sie näher und es wurden mehr. Judith wollte sich nicht ausmalen, was passiert wäre, hätte die sie erwischt.
Auch in dem Hohlraum, in dem sie sich befand, war das grünliche Leuchten vorgedrungen, so dass Judith alles ohne große Mühe überblicken konnte. Die beiden Nager liefen vorsichtig schnüffelnd aber zielstrebig voran.
Der Hohlraum erwies sich als Labyrinth, aus dem Judith alleine nie herausgefunden hätte, so folgte sie den Tieren. Bis Mona durch eine Maueröffnung schlüpfte. Stupsi blieb irritiert stehen, während Judith vergeblich versuchte, das verschwundene Kaninchen zu fassen zu bekommen.
„Mona! Komm jetzt! Bitte!“, rief Judith so leise, dass es kaum zu hören war.
Es dauerte nicht lange, da lugte Mona durch den Spalt. Erleichtert zog Judith sie ganz heraus.
Doch so leise das Rufen war, es hatte noch etwas anderes angelockt. Sie konnten tippeln, zischen und krächzen hören. Ein unheilverkündendes Leuchten breitete sich hinter der Biegung aus. Als sich die erste Ratte zeigte, war Mona nicht mehr zu halten. Sie rannte mit weit geöffnetem Mund auf ihren grünlich schimmernden Gegner zu und warf sich ohne zu zögern auf die Ratte. Judith hatte keine Chance einzugreifen. Zu einem Kampf kam es nicht, denn die Ratte zerspritzte in grün leuchtendem Schleim, bis nichts mehr von ihr übrig blieb.
Der Rest der Meute blieb verunsichert und witternd stehen, machte dann kehrt.
Vorsichtig hob Judith ihre heldenhafte Mona hoch und befreite sie von sämtlicher grünen Flüssigkeit, doch das Kaninchen bewegte sich nicht. Schlaff hing es in ihren Armen. Ein Kloß bildete sich in Judiths Hals, als ihr klar wurde, dass Mona tot war.
Stupsi schaute das Mädchen gleichzeitig traurig und voller Erwartungen an.
„Wir müssen weitergehen“, flüsterte Judith.
Für Stupsi war es kein Problem, sich in den Gängen zurechtzufinden. Dennoch war Judith endlos erleichtert, als sie den Ausgang erreichten. Draußen dämmerte ein neuer Tag.
Vorsichtig legte sie Mona auf das Gras. Stupsi brauchte dringend Futter.
Während das eine Kaninchen fraß, befreite Judith traurig das andere von allen Spuren aus der Höhle. Sie überlegte sich, wo der beste Platz für das Grab sein könnte, da zuckte Mona mit einer Pfote. Judith konnte es noch gar nicht glauben, da rollte sich Mona schon hin und her und kam schließlich unsicher auf die Beine.