Was ist neu

Judith Kohnen

Seniors
Beitritt
15.03.2008
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Judith Kohnen

Doch bevor sie ihren Arm ausstreckt, einen kurzen Moment vorher, zieht er seine Hand zurück. "Dein Zug", erinnert er. Da läuten die Glocken der nahe gelegenen Kirche die zehnte Stunde. "Ich habe noch fünf Minuten", sagt sie. Blöder Satz, das weiß er doch. Sie geht auf ihn zu, umarmt ihn und gibt ihm einen Kuss auf die Wange, den er reglos über sich ergehen lässt, wie eine Statue steht er im Wind. Bis morgen, will sie sagen, denkt es aber nur, gegen diese Dunkelheit will sie nicht anreden, die saugt jedes Wort auf. Schnell, weg von hier, schnell, zum Zug. Im Soundtrack seines Lebens würde jetzt Fever Ray laufen, If I had a heart, wenn Gott wirklich ein DJ wäre. Einige Sekunden hört er noch das Klack-Klack, Klack-Klack ihrer schicken Schuhe. Dann sind da nur noch die Nacht und schnell kleiner werdende Züge, die feuchte Kühle des beginnenden Herbstes kriecht unter die Klamotten. Noch glaubt er nicht an die Jahreszeit, noch hat er den Geruch von Sommernächten in der Nase. Als er durchgefroren ist, als das Gefühl aus den Fingerspitzen verschwindet, geht er.
Während des Gehens kehrt das Leben zurück, mit den Ideen im Gepäck. Er hält bei einer Bank, setzt sich und malt eine Armbanduhr auf sein Handgelenk. In das Feld, in dem normalerweise die Zeit angezeigt wird, schreibt er ein Warum. Ihr Warum. Vielleicht möchte er ihr nahe sein, indem er sich daran erinnert, was sie antreibt. Was auch immer. Er macht ein Foto, verstaut und verbannt all seine Sehnsucht in dieses Bild und schaltet die Kamera aus. Weiter geht er, seinen Weg entlang, unten am Fluss und durch Parks und Alleen, man kommt so durch die halbe Stadt, und muss nur eine große Straße überqueren. Einmal war er eine dreiviertel Stunde unterwegs, sah keinen Menschen, nur von weitem ein aufblendendes Auto und ein paar Mäuse, die schnell flüchteten.

Kleinstadt / Feiern​

"Wo ist Judith?" Kopfschütteln. Alex fragt den nächsten, klingt drängender, als er es gut findet. "Hast du Judith gesehen?" Schulterzucken. "Mist." Alex sieht sich um. Die Bude ist leer geräumt, nach dem Auszug, vor der Renovierung. Alle Freunde hier versammelt. Fun-Punk. Alle hüpfen rum, spacken ab, quatschen, umarmen oder küssen sich. Hammer-Stimmung. Einmal ist alles perfekt, und dann ist Judith weg oder was? Alex tigert durch die Räume. Im Wohnzimmer sind die gerade mit freundschaftlichem Pogen beschäftigt – da wird erst mal gekuckt, ob der andere bereit ist, bevor man sich anspringt. Alex zieht Tino von der Tanzfläche. Wo Judith ist!?
"Nach Hause. Klausur, sagt sie", sagt Tino.
"Kann nicht wahr sein! Die beste Party des Jahres und die - geht nach Hause?" Tino sieht Alex gutmütig an, greift sich ein Bier und hält es Alex hin. Der schnaubt genervt, nimmt die Flasche, stößt mit Tino an und trinkt einen kleinen Schluck. "Du schreibst doch auch", sagt Tino. Alex nickt mit gerunzelter Stirn.
Martin drängelt sich an den Tisch mit dem Mikro und macht eine seiner Ansagen. Der ganze Raum grölt. Sein Mädchen umschlingt ihn von hinten und legt ihr Porzellanpuppengesicht auf seine Schulter. Einen Moment lässt er sich das gefallen, dann gibt er ihr einen Stirnkuss, schiebt sie beiseite und legt eine andere CD ein, bevor er zu einem Track von RATM seinen irren Hexertanz aufführt. Schnell bildet sich eine freie Fläche um ihn. Martin geht ab, als wäre er der einzige Mensch im Raum.
"Was willst du eigentlich von der?", fragt Tino. "Sieht ja gut aus, aber so eine Streberin. Mit der ist doch nichts los. Oder willst du der erste sein bei ihr?" Tino lacht. "Die fragt bestimmt erst mal Prof und Papa, ob sie darf."
"Meine Fresse, bist du pubertär", sagt Alex.
"Ja, was denn? Was denn sonst?" Alex trinkt, der Schluck dauert und dauert. Als er die Flasche absetzt, ist ihm immer noch keine gute Antwort eingefallen, oder doch, er rülpst wie ein Künstler.
"Oder willst du Kinder mit ihr haben, ein Haus bauen und so? Bist du verknallt oder was?"
"Red' keinen Scheiß", sagt Alex und spürt seinen Kopf heiß werden.
"Ich glaub's nicht", sagt Tino, "du wirst rot wie 'ne Ampel!" Er nickt und sieht Alex an, der denkt, was grinst du so dumm, du Arsch? "Komm schon Alex, kuck nicht so böse. Das kann doch nicht dein Ernst sein. Ihr seid nicht kompatibel, das ist wie Neandertaler und Homo Sapiens. Keine Chance."
"Meinst du?"
"Na, besonders viele Chancen hast du allgemein nicht." Tino schmerzen vom Grinsen langsam die Wangen. "Aber bei der schon mal gar keine. Null, nichts, da ist nicht der Hauch einer Möglichkeit. Ich kann dir das ausbuchstabieren, ja, für dich! Würd' ich's in sieben Sprachen übersetzen."
Alex beißt sich auf die Unterlippe. "Ich find' die ganz nett, mehr nicht", murmelt er.
"Klar!", sagt Tino, "du bist auch ganz nett gerade." Und bricht in Gelächter aus.

Später

Tino heult. "Die ganze Wohnung stinkt nach Pisse. Du kannst dir das nicht vorstellen, kommst von der Schule nach Hause und deine Mama liegt da vollgesoffen auf der Couch und zwischen ihren Beinen ist 'ne Pfütze." Er wischt sich den Rotz ab. "Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll." Beim letzten Wort überschlägt sich seine Stimme und reißt den letzten Rest von Tinos Selbstbeherrschung mit, lässt ihn ohne Punkt und Komma heulen. Alex sitzt daneben, kuckt traurig auf den schalen Rest Bier in seinem Oettinger und kreist langsam die Flasche. Kneift die Lippen zusammen und legt Tino seine Hand auf die Schulter. Der vergräbt das Gesicht in den Händen und heult und heult, bis er leer ist, schluchzt noch ein bisschen und wischt sich den Rotz am Ärmel ab. "Ey, das ist doch deine schicke Stino-Jacke", sagt Alex, "Das darfste nicht machen damit. Die hat doch zweihundert Euro gekostet."
Tino sieht auf und lacht zwischen den Schluchzern. Sieht aus wie ein besoffener Clown mit seiner roten Nase, wie ein tierisch besoffener Clown, der vergessen hat, dass er lachen soll. "Nimm mal lieber deine Hand da weg", sagt er, "so weit sind wir noch nicht."
Alex lacht leise. "Und ich hab' mir schon Hoffnungen gemacht."
Hoffnung, worauf? Bevor sie aufgebrochen sind, fand er in der Party-Wohnung, in der Alex mit seiner Familie bis vor kurzem wohnte, eine cremefarbene Rose mit rotem Rand, neben einem roten Band mit einer kleinen Muschel, das Judith gehört. Alex hat beides mitgenommen und brütet über der Idee, die beiden Dinge habe sie für ihn dort hingelegt. Das würde er schon gerne glauben. Warum sonst hätte sie die da auch liegen lassen sollen? Über dem kleinen See zeigt sich die erste Ahnung dunklen Blaus, fünf Uhr, in drei Stunden wäre die Klausur.
"Müsst' man nur den Zug in die große Stadt nehmen", sagt er.
"Häh?", fragt Tino, sieht ein bisschen bräsig aus, nach dem Heulen.
"Hab' nur laut gedacht", sagt Alex, "die Klausur findet ohne mich statt." Tino zieht die Stirn kraus. "Na, hab' ich ein Glück, dass meine Ausbildung hier in der Stadt ist, der entkomm' ich nicht. Das gibt wieder Mecker vom Meister, wenn ich so im Arsch bin. Und auf die wacklige Leiter muss ich trotzdem. Quatsch, gerade dann." Alex nickt, sieht dem Himmel beim Hellerwerden zu.
"Erzähl mal was von dir", sagt Tino.
Alex sieht ihn an, "Was ist das denn für ein Spruch jetzt? Wenn man dir einmal die Hand auf die Schulter legt ..."
"Nee, ehrlich", sagt Tino, "irgendwas, das du noch keinem erzählt hast. Was du keinem erzählen willst. Am besten was peinliches. Du musst mir das sagen, nachdem du mich hast heulen sehen wie ein kleines Mädchen, damit wir wieder gleich sind." Alex nickt und überlegt. Bald wird der ganze Himmel dunkelblau sein. "Mir fällt nichts ein", sagt er.
"Klar, Mister Koolmann, du kennst so was nicht, was?"
"Doch, doch", sagt Alex schnell, "mir ... fällt nur nichts ein. Komm schon, es ist fünf Uhr morgens und du hast mich gerade abgewiesen. Ich bin einfach durcheinander."
"Lass uns", sagt Tino, "ich muss in zwei Stunden los." Sie gehen den Feldweg am See entlang, schweigend, unter den alten Eichen, ihre Laufstrecke, lassen den Hochstand links liegen, wo sie immer Raucherpause machen. Als sie die Kleingartenanlage erreichen, sagt Alex "Okay, ich hab's." Schweigen, nur ihre Schritte knirschen auf dem Kiesweg. "Wunderschön, der Morgen, wenn die Welt so langsam von schwarz zu blau wird", sagt Alex.
Tino kickt einen Stein. "Ja, toll. Rührend. Das ist dein großes Geheimnis?"
"Versprich mir, dass du's niemandem erzählst, vor allem nicht ihr."
"Wem?"
"Judith."
"Ich glaub's nicht. Die schon wieder."
"Willst du's wissen oder nicht?"
Tino atmet hörbar aus. "Ja, ich bin ganz still und aufmerksam."
"Ich träume von ihr", sagt Alex. Tino wartet ein paar Schritte ab.
"Oh", sagt er dann. "Wow. Schlägst du mich, wenn ich frage, in welchen Stellungen?"
"In meinen Träumen ist sie anders", sagt Alex.
"Anders?"
"Ja. Irgendwie hässlicher."
"Hm." Tino fallen ein paar Sätze ein, er sagt keinen davon. Von der Straße hinter der Kleingartenanlage hören sie ein frühes Auto, das den Buchholz hochfährt.
"Okay", sagt Tino, er fühlt sich wie ein Chirurg am offenen Herzen, der viel zu große Hände hat. "Was macht sie?"
"Hä?", fragt Alex, "was soll sie denn machen?"
Außer Hässlichsein, du Idiot, denkt Tino. "In deinen Träumen. Siehst du die ganze Zeit nur eine hässliche Judith, stundenlang, oder was?"
"Nein", sagt Alex, "wir machen ganz normale Sachen die ganze Zeit. Spazieren, Eis essen, einkaufen, Fernsehen."
"Versteh ich nicht. Wo ist denn da was Normales bei?"
"Na, Dinge, die jeder tun könnte." Sie öffnen das Tor, es quietscht leise. Vor ihnen liegt der Buchholz. Zweistöckige Jugendstilhäuser mit gepflegten Vorgärten, ein Hund bellt.
"Nimm's mir nicht übel, aber – ist sie irgendwie entstellt oder so? Hat sie einen Wasserkopf oder nur ein Auge. Gehst du mit einer Mutantin Eisessen?"
Alex schüttelt den Kopf, "Nein, sie ist nicht hässlich, nur weniger hübsch, ganz normal eigentlich."
"Komischer Traum. Schon mal überlegt, was das soll?" Alex nickt, auf einmal fühlt er sich ganz schläfrig, die Welt wird heller und heller, das Blau löst sich auf. Am Gartentor umarmt er Tino und geht hinein. "Hey, du schuldest mir 'ne Antwort!"
Alex winkt nur vage, bevor er ins Haus geht. Leise jetzt, auf den äußeren Rändern der schweren Holzbohlen, er hofft dass sie da nicht knarren, alles noch so fremd im neuen Haus, er schleicht auf Socken in sein Zimmer. Seine Mama hat's drauf und wird durch's leiseste Geräusch wach, setzt sich kerzengerade auf und ruft seinen Namen durch's ganze Haus, wovon Papa dann auch wach wird, und dann hat man die Bescherung, Montag morgen um fünf, aber diesmal nicht.
Er wirft noch einen Blick auf den Wecker und stellt sich vor, was sie gerade tut, dass sie aufsteht und sich Frühstück macht, bevor sie in die große Stadt fährt zu der Klausur, die er eigentlich auch hätte schreiben sollen. "Sie kriegt das hin", sagt er leise, sucht frische zerrissene Klamotten raus und duscht, bevor er den Zug nimmt, der nach Judiths Zug fährt.
Alex könnte sogar noch zur Klausur, als er Stunden später am Bahnhof in der großen Stadt aussteigt, aber so weit will er gar nicht, kein Gedanke daran, sein Fußweg dauert vier Minuten, dann zeigt er einer freundlichen Museumsfrau sein Jahresticket und geht stracks zu der Tänzerin von Degas, die ihren Kopf hält wie Judith manchmal, wenn sie ganz bei sich ist. Er setzt sich in die Mitte des Raums, betrachtet das Bild und beginnt nach einer halben Stunde, als die Atmosphäre des Bildes in ihm ist, eine Skizze, in der von einer Frau die Rede ist, die auf ihre Uhr sieht, obwohl das Warum nach ihr greift, die unterwegs ist von einem Bild zum anderen, als wären sie flächige Halluzinationen, die sich in nichts auflösen, wenn man durch sie hindurch geht, und die man mit einer Tänzerin von Degas verwechseln könnte, so leicht und frisch und pastellig, falls sie aufhörte, ihre Uhr zu betrachten und in eines der Bilder träte, die sie lächelnd durchschreitet.

Jagd / Kleinstadt​

Da laufen die auffälligsten Frisuren der Stadt. Ein grüner Stachelreif, zwei mitternachtsblaue Prodigy-Iros und ein Antennenkopf – Alex' Haare sind jetzt mit vielfarbigen Bändern verflochten. Getragen von stolzen Kindern, die "Kidpunks" an den Jugendclub sprühten, weil sie die Punks dort zu modisch und angepasst fanden.
Gerade jetzt klettern sie über einen Zaun, auf dem im Abstand von ungefähr einem halben Meter pikförmige Stacheln stehen, dazwischen sind kleinere Spitzen. Etwas hektisch wirken sie. Sie ziehen ihre Lederjacken aus und werfen sie über die Spitzen, bevor sie rübermachen.
Der eine, Michel, bleibt mit irgendeinem der Löcher in seiner Hose an einem langen Stachel hängen, der sich ein Stück ins Fleisch bohrt. Sein Gewicht drückt die fiesen kleinen Spitzen durch die Lederjacke in seine Hände, er will schreien, beißt sich aber auf die Lippen, Tränen steigen in seine Augen. Alex rappelt sich auf der anderen Seite hoch, dreht sich um und sagt: "Sie kommen."
Michel hört den Golf aufheulen. Das laute Röhren des abgeschnittenen Auspuffs. Ein Geräusch, das bedrohlich schnell lauter wird. "Die machen den Zaun platt", sagt Martin. "Komm schon!"
"Ich hänge fest", Michel schwankt auf dem Zaun wie seine Stimme. Er macht hilflose Beinbewegungen. Das ist doch nicht nur die Hose, die da fest steckt. "Mein Bein", Michel schluchzt. Alex verfolgt den Weg des Golfs. Von der Straße hinunter, den Feldweg entlang, jetzt biegen sie ab, auf die Wiese. Die Karre ist voll besetzt. "Komm jetzt! Die machen uns richtig kalt."
"Ich kann nicht, mein Bein ..." Michel heult jetzt. Hängt da oben auf dem Zaun wie – etwas, das dort absolut nicht hingehört. Kein Gefühl für den richtigen Augenblick, der Kleine, denkt Alex und - ans Weglaufen. Die Karre röhrt über die Wiese.
Martin steht da und sieht aus, als würde er selbst gleich heulen. Streckt die Arme Michel entgegen, als wolle er ihn auffangen oder als flehe er. Komm, Brüderchen, bitte!
So wird das nichts. Alex zieht sein Taschenmesser, klettert den Zaun hoch, hält sich an den Streben fest und schneidet die Hose auf, war auf ein schlimmes Bein gefasst, sieht aber nur eine kleine Fleischwunde. Er drückt das Bein hoch und ruft: "Jetzt, schnell!" Und Michel hievt sich hoch, drückt mit dem Körpergewicht die weichen Handflächen in die Spitzen. Ächzend hievt er erst das eine Bein rüber, dann das andere und – lässt sich fallen. Sie nehmen seine Lederjacke und ihn in die Mitte und rennen davon, Michel auf einem Bein hüpfend, die meiste Zeit tragen sie ihn halb. Hinter ihnen bremst der Golf scharf. Überscharf hört Alex das Öffnen der Türen.
"Ihr kleinen Pisser!", ruft einer.
Alex dreht sich um, sieht einen Hundertkilomann am Zaun rütteln, wie ein durchgedrehter Silberrücken, der in den Zoo einbrechen will. Den kennt er, Hartmann, der alte Knastnazi. Schnell blickt er wieder nach vorn. Läuft weiter. Hört einen unartikulierten Schrei, klingt wie tief aus einer tierischen Seele. Die sind doch irre, geht es Alex durch den Kopf. Eine Weile hören sie nichts mehr, außer ihrem eigenen Keuchen und Michels Wimmern. Dann den Wagen starten. Kurz bevor sie die Ecke des Hochhauses erreichen, wagt Alex einen Rückblick. Der Golf ist schon wieder auf dem Asphalt, rast parallel zu ihnen die Straße hoch. In fünfzig Metern rechts, dann noch mal rechts, dann stehen sie bald vor uns, weiß Alex. Scheiß Kleinstadt, hier kennt jeder jeden, und jeder kennt jeden Weg. "Was jetzt?", fragt er. "Wir müssen ganz dringend weg."
"King Tino", sagt Martin und sie rennen zum zweiten von den fünf Aufgängen, "The Wanderer" klingt laut aus seinen offenen Fenstern. Schön wärs, denkt Alex. Klingeln müssen sie unten nicht, das wär's jetzt. Klingeln und warten und dann kommt der Wolf um die Ecke, um die drei Schweinchen zu verspeisen. Nee, hier gibt's noch die alten Türen, da muss man nur den Griff runterdrücken und schon ist man drin.
Sie hetzen zwei Treppen hoch, klingeln bei Marquardt und drängeln sich an einem Jungen vorbei, der offensichtlich zu verblüfft ist zum Protestieren. Alex knallt die Tür und geht in das Schlafzimmer von Tinos Mama. Geht zum Fenster und linst durch die angegilbte Spitzengardine: In dem Rund vor dem Haus fährt der Golf langsam im Kreis. Irgendwas krampft. "Was ist?" Tino ist ganz still und aufmerksam. "Da", sagt Alex und zeigt auf das kreisende Fahrzeug. "Fascho-Mobil auf Jagd." Tino nickt, so ein schmutzig-weißer Golf mit fünf Glatzen drin, der ist in der Weststadt bekannt. "Ulkig, wie sie da sitzen", sagt er. Ja, denkt Alex, sieht albern aus, aber keiner lacht.

"Was ist hier los?" Die Tür zum Schlafzimmer geht auf und der Schwung droht Tinos Mama mitzunehmen, sie schwankt, hält sich vorsichtshalber am Türrahmen fest. Alex betrachtet die Frau, ihr verwüstetes Gesicht, den nach innen gerichteten Alkoholikerblick, Tino kneift die Finger in die Handflächen, das sieht Alex immer, wenn Tinos Mama mit ihm oder einem von ihnen quatscht. Eigentlich immer, wenn sie ein Lebenszeichen von sich gibt, oder wenn nur irgendein Gespräch irgendeine Mama streift, wenn Tino an die Schmach erinnert wird, dass sie existiert, dass seine Mama eine Säuferin ist. "Was los ist, will ich wissen!"
"Nichts, Mama. Nur ein paar Idioten, die Streit wollen." Er nimmt sie am Arm und führt sie aus dem Zimmer, "komm, ich mach dir einen Tee."
"Immer gibt's Streit. Warum ziehen sich deine Freunde nichts ordentliches an? Ihr provoziert die doch."

Martin kommt ins Zimmer und sieht dem Golf hinterher, dessen Fahrer den Motor noch mal aufröhren lässt, bevor er um die Kurve fährt. "Wir müssen uns bewaffnen", sagt Martin, "die machen mit uns, was sie wollen, ohne dass es jemanden kümmert." Alex sieht auf die kleinen Hochhäuser und die schnurgeraden Straßen, zwischen denen Beete voller Stiefmütterchen blühen. Er denkt an sein Jagdmesser, das er vorhin benutzte, aber er weiß, das meint Martin nicht.
"Wir sind Freiwild", sagt Martin, "das in Hartmanns Revier lebt. Der wird nie aufhören damit."
"Der ist auf Bewährung und macht dauernd Ärger", sagt Alex, "den bringen die bald wieder in's Gehege zurück."
"Du willst warten, weglaufen und hoffen, dass er dich nicht kriegt. Dass er einen anderen schnappt, einen, der langsamer ist."
"Sachte, sachte. Ich will die Sache nur nicht eskalieren lassen."
"Du hast Angst."
"Ich will nicht von Hartmann zermalmt werden, stimmt. Seh ich aus wie der Wrestler, bin ich Jackie Chan?"
"Letztens suche ich im Keller was und kehre das unterste nach oben, ganz tief graben im Gerümpel. Irgendwann, neben einem Kleingebirge aus Zeitungsstapeln, find ich einen ungefähr armlangen Gegenstand, in schwarzes Samt gehüllt. Mein Alter meint, den hat der Großvater aus Japan mitgebracht, nachdem der seine Fabrik geschlossen hat, kurz vor dem Weltenbrand. Ein Schwert. Merkwürdige Waffe. Ungefär so lang wie ein Katana, leicht gebogen, aber mit einer geschliffenen Spitze und Blutrinne, hat was orientalisches. Es teilt Papier, wenn man es darauf legt und ganz leicht an den Rändern nach unten zieht."
"Ich mag keine Waffen, mein Messer ist ein Werkzeug, nichts zum Verletzen."
"Gehört zu meinem Erbe, hab ich dem Alten gesagt. Der sagte ja, kann ich haben."
"Dein Vater wieder."
"Idiot, ja."
Alex wendet sich ab, geht in Tinos Zimmer und hört den anderen beim Diskutieren zu. Was zu machen wäre. Wie man den Nasen beikommt. Irgendwann schaltet er auf Durchmarsch, da kommt doch nie was bei rum. Und fragt in einer Nachricht an Judith, ob sie morgen zum Konzert käme. Das sei eine tolle Möglichkeit, etwas Wichtiges zu verpassen, Lernen zum Beispiel. Sie sitzen noch eine Weile rum und quatschen, so 'ne halbe Stunde, bevor sie sich auf den Weg machen. Die Haare werden angelegt, jeder kriegt 'ne Mütze, dann gehen sie los, hinten rum, über den alten Sportplatz und durch die Kleingartenanlage, von weitem sehen sie eh aus wie kleine Rapper.
Zuhause ist Alex längst vom Adrenalin runter, sie waren fast eine halbe Stunde unterwegs und hatten sich nicht viel zu sagen.
Er legt sich aufs Bett, findet aber keine Ruhe, kann nichts lesen, keinen Track zu Ende hören. Alex schreibt eine kurze Szene aus den Nachrichten, die Judith und er sich bisher schickten. Ziemlich surreal, vielleicht witzig, wenn man träumenden Lidl-Prospekten, pirouettierenden Mülltüten im Wind und freundlich wachenden Hausfassaden etwas abgewinnen kann. Höhepunkt ist ihr gemeinsamer nächtlicher Spaziergang, der fast stattgefunden hätte, und eine sprechende Wand in einem verlassenen Stadthaus, also die spricht nicht direkt, aber trotzdem, es gibt immer was zu hören, ne? Den innermost wish, vielleicht ist der das leise Mantra des eigentlichen Ich, wenn man ganz lange ganz still und genau hin hört, an einem Ort, wo man ganz raus ist aus dem Trott, wo man ganz klein und schwach und verletzlich ist. Danach auf dem Rückweg, kommt ein Eichhörnchen über die Straße geflitzt und das läuft Judiths Bein hinauf, die gerade stehen blieb, um etwas genauer zu betrachten. Kurz vor der Hüfte stellt es seinen Irrtum fest und sieht zu, dass es Land gewinnt. Ja, so was passiert hier, so was geschieht ihr, na ja, ihnen. Ungläubiges Lachen, Staunen, der geteilte Moment.
Alex denkt, das kann ich unmöglich geschrieben haben. Er legt es zu dem Foto und zu den Kurzzeilen. Zum Vergessen, zum Niewieder-Ansehen.

Judiths Geschichte / Bootshaus auf dem Land​

Judith muss zum Zug. Mit wehenden Mantelschößen eilt sie durch die Fußgängerzone, das Geschenk, die Rose, in der Hand, steht an Ampeln, deren Rotphasen viel länger als normal sind. Sie will wirklich diese Band sehen, ein paar Stunden Spaß haben zwischen Uni-Woche und Familien-Samstag. Oder erst mal üben, wie das geht, denkt sie, Subkultur-Training. Anstelle von Himmel! sagst du jetzt Mist!, formidabel wird durch krass ersetzt. Sie sagt die Wörter unterwegs auf wie Vokabeln. Dass der Typ sie so lange aufgehalten hat! Wo kommen die alle her in letzter Zeit? Und was finden die nur auf einmal an mir? Sie muss erst mal die Rose nachher loswerden, er hat sie ihr gegeben, aber sie findet nicht, dass er ihr so was schenken sollte. Dass sie über so was nachzudenken hat.
Jahrelang waren die größten Ereignisse ihres Liebeslebens der verunglückte Engtanz auf Klassenfahrt, das Abschreibenlassen und die Mathe-Nachhilfe für den Klassen-Schönling, von dem sie dachte, sie wäre in ihn verliebt - und zwar nicht wie die anderen kichernden Gänse! Sondern auf eine andere, auf eine reinere Weise. Sie liebte nicht seine blauen Augen und die langen braunen Locken und die schmächtige Morrison-Gestalt, nicht nur zumindest, sondern vor allem sein ausdrucksvolles Schweigen, hinter dem sie einen geheimnisvollen, zärtlich-wilden Romantiker witterte. Mit ihren Smilla-Sensoren, sensibel wie eine Kojoten-Königin auf der Suche nach ihrem Lebenspartner. Bis sich in den endlosen Stunden des Mathe-Paukens, mit denen sie ihn durch die Nachprüfung kriegen wollte, der Eindruck aufdrängte, sein Schweigen hat mit Geheimnisschützen eher weniger zu tun.
Sie kannte ihn danach besser, als sie gewollt hätte. Judith presste an langen Sommernachmittagen mathematische Standards in seinen Kopf und er teilte mit ihr, was er hatte. Ihr blieben die Welten von GTA und WOW so fremd wie ihm die Mathematik, und sie war etwas bestürzt, wie wenig poetisch die Wirklichkeit dieses Jungen war, der aussah wie die Jungenversion eines Rockstars und redete wie ein Nerd.

Es war einmal, in einer kleinen hässlichen Stadt mit einem kleinen See und Wäldern und vielen Menschen, die alle noch leben, wenn sie nicht gestorben sind ...
Eine Judith, die alles richtig macht und sich nicht vom Weg abbringen lässt. Für die kein Durchschnittsleben in Frage kommt. Die will, dass ihr erstes Mal etwas besonderes wird.
Nicht wie die kichernden Gänse, die sich auf Scheunenfesten und in Dorfdiskos abfüllen lassen, um sich danach von einem lallenden und nervösen Typen, der insgeheim hofft, dass es beim Fummeln zu keinem vorzeitigen Erguss käme, deflorieren zu lassen. Nicht so! Ja, über so was denkt sie nach, während sie neben ihm sitzt und über seinen mathematischen Unverstand staunt. Etwas besonderes soll es werden, aber sie will es auch erledigt haben.
Als er gerade von einem Raid erzählt, gibt sie ihm ihren ersten Kuss. Nicht um ihn zum Schweigen zu bringen. Nicht nur. Auch um einen Anfang zu machen. Immerhin kennt sie Morrisson ganz gut, Romantik kann sie mit ihm wohl vergessen, aber dafür sieht er süß aus. Auf Küssen hat er Lust, das schmeckt sie. Und seine Hände wollen forschen. Eigentlich ist die ganze Sache schon gelaufen und geritzt, sie muss nur noch stattfinden. Im Nachhinein bedauert sie die Entscheidung, die Entjungferung nüchtern fällig werden zu lassen. Nüchtern, wird sie Jahre später denken, ist trocken, und trockener Sex ist nicht mal auf Papier gut.
Doch vorher denkt sie: Bloß nichts trinken! Man hört und liest da ja so einiges und immer wieder wird gewarnt: Von Mama und Papa, in Aufklärungsbroschüren des Bundesamtes für reibungslosen Sexualverkehr, von kichernden Gänsen, die es hinter sich haben und ihre fünf Minuten Paarungszeit zu einem abendfüllenden Abenteuer ausschmücken, um ihre fünf Minuten Ruhm mit möglichst vielen staunenden Zuhörern zu multiplizieren.
Irgendwo aus den Niederungen dieser Teenie-Fantasien und gutgemeint sorgender elterlicher Aufklärung stammt die diffuse Vorstellung, ihr kleiner Morrisson werde sich in einer eindeutigen Situation unter Alkoholeinfluss in einen Triebtäter verwandeln, der Sprache gegen Grunzen tauscht, ihre Kleidung am Körper zerreißt und sie gleich stehend nimmt, ihren zum Schrei aufgerissenen Mund mit einer schmutzigen Pranke verschließt, den zarten Rücken gegen ungeschliffene Holzbohlen gepresst.
Und nein, das ist nicht ihr geheimer Wunsch. Wenigstens nicht in dieser Lebensphase. Da ist auch die Horrorvorstellung, sich an nichts erinnern zu können, wenn man sich betrinkt, um diese Situation durchzustehen. Eine Situation, von der die eine oder andere Gans den Eindruck erweckt, es sei etwas wie eine Kriegserfahrung. Nur um mit lässigem Achselzucken und einem tiefen Lungenzug den eigenen Veteranenstatus anzudeuten.
Je mehr sie darüber redet, sich informiert und nachdenkt, desto heikler scheint die ganze Angelegenheit zu werden. Judith erwischt sich bei jäher Begeisterung dafür, eine Nonne zu werden, malt sich eine Welt aus, in der es eine Kaste erfahrener, gut riechender und einfühlsamer Männer gibt, die Mädchen in die Geheimnisse der Liebe einführen und schreibt eine Geschichte über das Liebemachen im Bootshaus ihrer Eltern, in der sie es jedoch vermeidet, explizit zu werden. Irgendwann hat sie die Nase voll von der Komplexität ihres Vorhabens und muss über die Absurdität des Kopfkinos lachen.
Judith wird Morrisson verführen, so wie sie es in ihrer Geschichte beschrieb, die versteht sie gerade als vorweg genommenes Protokoll oder eine private Prophezeiung.
Sie ruft Morrie an und lockt ihn mit rauchiger Stimme zum Bootshaus, gegen 21 Uhr soll er da sein, dann beginnt im Spätsommer die blaue Stunde. Im Telefonat lässt sie sich zum vagen Versprechen hinreißen, sie habe eine Überraschung für ihn. Das rutscht ihr im Eifer heraus, und sie könnte sich vor Ärger auf die Zunge beißen. Der laszive Ton. Sind es nicht genau solche Sätze, die handzahme Halbmänner mutieren lassen? Weil sie etwas anstellen, mit den Jungs, irgendwo in dem schmutzigen Bereich der Leibesmitte?
Judith sieht ihn vor sich, wie er Schwierigkeiten hat, sich auf Orktöten und das Lösen von Missionen zu konzentrieren. Weil er sich etwas wünscht, dem sie nur verschwommene Umrisse gibt und keine Namen. Wie er auf Toilette geht, um die Funktionsfähigkeit des Geschlechts zu überprüfen, sieht sie nicht. Sie ahnt nicht, dass er sich nach einem endlosen Tag zwischen unruhiger Vorfreude und nackter Angst vor dem Unbekannten auf sein Fahrrad schwingt. Wie ihm das Testosteron aus allen Poren und beiden Ohren läuft. Die schmerzhaft angeschwollenen Eier spüren jede Erschütterung des Fahrradsattels auf den Feldwegen, mit der empfindlichen Genauigkeit eines Seismografen.
Schön soll's werden. Judith hat Massageöl und drei Kondomsorten am Automaten gezogen. Jetzt sieht sie erst, dass die drei verschiedene Geschmacksrichtungen haben. Da fällt ihr auf, dass die ja irgendwie implizieren, der gummiummantelte Penis kommt in den Mund. Wofür sonst braucht so ein Teil Geschmack? Ihr stellt sich das Nackenfell auf, weg damit.
Sie zieht schwarze Spitzenunterwäsche an, betrachtet ihren Körper, bisschen Hüftgold, keine Modelmaße, aber, doch, sie findet sich ansehnlich und anfassbar. Sie übt "Nein!" sagen. Nur für den Fall. Pfefferspray – hat sie nicht dabei.
Die Stunden bis zum Abend verbringt sie mit Lesen, Musik und Schwimmen. Sie krault weit auf den See hinaus, betrachtet das waldgesäumte Ufer, lässt sich auf dem Rücken treiben und spuckt wie ein Wasserspeier halbe Ellipsen Richtung Sonne, die ziemlich bald wieder in den See fallen. Sie sieht die Schwalbeneltern zu ihrer Höhle fliegen, hört die Vogeljungen gierig nach mehr rufen und sich weit aus dem Nest lehnen. Ist in Sorge, dass ein Junges in seiner Dummheit und Gier sich zu weit vorwagt und ins Wasser fällt, das wäre nicht das erste Mal. Einmal haben sie eins gerettet, öfter konnten sie die nur tot bergen. Deswegen haben Judith und ihre Eltern ein Brett unter das Nest genagelt, aber einen zu allem entschlossenen Dummkopf hält auch das nicht auf.
Genug, beendet sie diesen etwas zu lang geratenen Gedanken, und taucht die letzten zehn Meter zurück, das klärt den Kopf und erfrischt, es ist Zeit, sie hat schon fast Schwimmhäute an den Fingern, und wenn ihr gleich ein Fischschwanz wüchse wie einer Meerjungfrau, dann würde sie keine Liebe machen können.
Als sie aus dem Wasser steigt, blinzelt die Sonne nur noch über die Baumwipfel, jetzt wird es auch kühl, sie trocknet sich ab, lässt die schicke Wäsche liegen, zieht Jogginghose an und Tank-Top, turnt auf die Motorjacht, die einen Meter über dem Wasser in der Hebevorrichtung hängt, öffnet die Persenning und schlägt sie um, klettert in die Kajüte und sucht eine CD heraus.
Zögert einen Moment, als sie den Kräuter sieht, der neben der Anlage steht. Sie mag ihn nicht schmecken, aber manchmal die Wirkung. Jetzt wüsste sie die Wirkung zu schätzen. Aber nein, so soll das nicht sein. Morrisson würde das riechen und auch was wollen und dann wäre der Geist aus der Flasche gelassen. Sie lacht über diesen Gedanken, jetzt, im beginnenden Halbdämmer, scheinen ihr die Ängste albern. Sie drückt auf Play und summt die ersten Takte von "Light my fire" mit. 20:58.
Morrisson kommt gleich, nein, erscheint, verbessert sie sich kichernd, und schlägt erschreckt die Hand vor den Mund. Sie selbst würde eher ein bisschen später kommen, ein paar Minuten nur, wie meistens. Aber ich werde ja von den Hormonen auch nicht so durchs Leben gescheucht, denkt sie
Das Klopfen klingt wie Tok-Tok-Tok. Sie klettert vom Boot, springt auf den Steg und spürt, wie sich auf dem Weg zur Tür ihre Hüfte wiegt. "Ist doch auf, Morrie", sagt sie, nachdem sie die Tür öffnete.
"Ja, ähm, sorry", sagt er. "Das wusste ich nicht."
Oh, denkt sie, das wusste er nicht. Bitte, sag keine Dummheiten. Sei lieber still. Sie nimmt ihn bei der Hand und zieht ihn in das Bootshaus, hält ihn auf, als er gleich weiter ins Innere hetzen will. "Lauf doch nicht gleich weg!", ruft sie. "Schau mal, der Himmel!" Er kuckt in den Himmel. "Wird dunkel langsam", sagt er vorsichtig, "Sterne sind noch nicht zu sehen."
"Nein, natürlich nicht. Aber das hier ist mindestens genauso schön. Die blaue Stunde."
"Blaue Stunde?"
Sie spürt leise Enttäuschung aufkeimen, kann sich nicht helfen, langweilige Gespräche will sie jetzt nicht führen, und paraphrasierte Gedankengänge sind ein Merkmal davon. Wenigstens wenn die von Morrie kommen, er wiederholt nicht, um ein eigenes Gefühl für das Gesagte zu bekommen, um eine Antwort aus sich hervorzulocken, bei ihm klingt es eher, als bemühe er sich nur, die Worte einzuprägen, als reiche ihm ihre äußere Gestalt. Sie legt ihm den Finger auf die Lippen.
"Ja, die blaue Stunde. Die Stunde der Liebenden." Judith hört ihn schlucken und lächelt, schließt die Tür und führt ihn aufs Boot. Er ist noch täppischer als sonst, fällt fast ins Wasser. Sie spürt keine Unsicherheit mehr, nicht den Hauch eines Zweifels, sie ruht ganz und gar in sich, als wären Körper, Geist und Libido eins.
Der erste Kuss neben dem Bordmotor. Viel zu hektisch, denkt sie und spielt mit seiner Zunge, beißt spielerisch in seine Lippen, deutet Küsse an und lässt den Mund doch geschlossen und lacht leise. "Komm", sagt sie. "Ich habe uns ein Nest gebaut." Die Hauptkajüte, in der normalerweise Tisch und Sitzecke stehen, ist zu einer riesigen Liegefläche umgebaut, auf der drei Menschen bequem nebeneinander liegen könnten.
"This is the end, my friend ..." Morrie lacht, als der Titel anklingt und rubbelt mit der rechten Hand über seinen linken Oberarm. Judith spürt, wie seine Unsicherheit nachlässt und lächelt strahlend. "Das ist nicht das Ende, keine Angst", sagt sie. "Sondern ein Anfang." Leicht geht der Satz von ihren Lippen, als wäre er wahr. Sie zupft an ihrem Top, streicht eine Falte glatt. "Schönes Nest", sagt er und wuschelt sich durchs Haar, streicht eine Strähne hinters Ohr. "Hm, ja. Aber irgendwas ist noch nicht perfekt." Sie überlegt einen Moment, neigt den Kopf und spitzt die Lippen. "Ja, klar. Kurz noch!" Judith geht nach oben, klettert die Leiter runter auf die Bade-Plattform. Sie macht sich lang und drückt einen Knopf, kurz darauf öffnen sich die Tore des Bootshauses. "Sieh, alles dunkelblau jetzt!", ruft sie und klettert zurück.
Morrie liegt halb versteckt in der Landschaft aus Kissen und Decken. "Das ist wundervoll!", ruft er. "Man kann von hier aus den Himmel sehen, den Wald und den See!" Endlich ein echtes Gefühl, denkt Judith, als sie vor dem Bett steht.
Nie wird sie den Ausdruck seiner Augen vergessen, als sie ihr Tank-Top über den Kopf zieht. Weihnachten, Geburtstag, Ferien, alles zusammen. Nur mit BH und Jogging-Hose robbt sie auf Knien über die Liegefläche auf ihn zu. Er kommt ihr entgegen, nimmt sie in den Arm, streicht über ihren Rücken, ihre Arme entlang, sieht ihr in die Augen, flüstert mit leichtem Kieksen in der Stimme, dass das der schönste Augenblick seines Lebens sei und küsst sie. Judith weiß, dass er die Wahrheit sagt, das ist, seltsam, befreiend, Judith schließt die Lider, öffnet die Lippen, spürt seine Zungenspitze ihre umspielen, spielt vorsichtig mit, ja, jetzt beginnt ein gemeinsamer Rhythmus, sie forscht unter dem Shirt nach Morries Herz, greift fester zu, kratzt leicht über die Haut und den Rücken hinunter, eine Änderung der Tonart, er antwortet mit einem leidenschaftlichen Kuss, sie geht mit, nimmt kein Tempo raus, rückt näher, sucht vollen Körperkontakt, seine Hände streifen mit festem Druck ihr Bein hinauf, schlüpfen unter den Bund, sie neigt sich ihm entgegen, flüstert in sein Ohr, knabbert an seinem Ohrläppchen und atmet tief und hörbar ein, als seine Finger den Saum der Hose entlang gleiten. Morrie drückt sie ins Kissen, sie zieht ihn mit sich, schließt wieder die Augen, fährt mit ihren Händen über seinen Rücken, spürt den Stoff über ihre Hüfte gleiten, sie öffnet sich, fühlt nach innen, hält ihn ganz fest und krallt sich ein. Als sie die Vögelchen hört, lässt sie endlich ganz los.

Konzert / Kleinstadt​

"Ja, hat mir gefallen! Gutes Konzert, lustige Typen, und viele Sachen, von denen sie singen, stimmen. Ist ja nicht alles perfekt in unserer Gesellschaft", sagt sie. "Und danke für die Einladung." Alex strahlt, als hätte er selbst auf der Bühne gestanden und gesungen, als hätte sie ihm persönlich ein ganz besonderes Kompliment gemacht. "Darf ich dir den Rucksack abnehmen?", fragt er. "Wir könnten uns ein Tetrapak Wein teilen und über Dinge reden, die nicht stimmen an unserer Gesellschaft."
Sie denkt, so was, einfach meinen letzten Gedanken paraphrasieren. "Nein, ich muss gleich weiter. Morgen fahren wir früh zu einem Geburtstag, familiäre Verpflichtung." Alex sieht aus, als hätte man ihn selbst zu diesem Geburtstag verpflichtet. Sie neigt den Kopf, lächelt freundlich und streicht sich eine Strähne aus der Stirn. Wow, denkt er, wie das Mädchen von Degas, und strahlt sie an.
Was hat er nur?, denkt Judith.
"Soll ich dich bringen?", fragt er.
"Nein", sagt sie, "bitte, keine Umstände."
"Sind keine Umstände, mache ich gern. Ist ja auch nicht weit."
"Du weißt, wo ich wohne?"
Alex überlegt einen Moment. "Wir sind hier auf dem Land, da ist nichts weit entfernt."
Er steht da wie eine Litfaßsäule mit einem einzigen Plakat. Judith sieht seine Stirn rot werden, legt ihm impulsiv die Hand auf die Stirn, "du glühst ja!", sagt sie.
Wie kühl ihre Hand ist, angenehm. Er denkt an die Rose, die sie ihm schenkte. Er will sie danach fragen, weiß aber auch, danach darf man nicht fragen. Es ist das unausgesprochene Band.
Judith zieht ihre Hand wieder zurück, er greift danach, sie lässt es zu.
"Aaaaaaampelphase!", ruft's von oben.
Beide sehen nach oben. Tinos Beine baumeln über die Dachkante des kantigen Klubhauses, neben ihm ein Mädchen mit Leopardenmuster auf Kopf und Jacke. Judith lacht und befreit ihre Hand. "Wenn du das schon kennst, dann weißt du ja auch, was man da tun muss, und ich muss mir keine Sorgen machen." Sie winkt fröhlich, dreht sich um und geht. Alex sieht ihr nach, sieht, wie ihre Gestalt immer schemenhafter wird auf dem Weg den Feldweg entlang, er weiß, es gibt dort hinten kein vernünftiges Licht, die Stadt hat dieses ganze Gebiet erst vor wenigen Jahren überhaupt ur- und begehbar gemacht, für Laternen reichte das Geld wohl nicht mehr.
Er sieht nach oben. "Ich muss da hinterher", sagt er. "Das ist gefährlich nachts allein."
"Ich weiß nicht, ob die Frau das gut finden würde", sagt das Leopardenmädchen.
"Wohl kaum", sagt Tino, da ist Alex schon weg.
"Meinst du wirklich, es ist gefährlich, hier nachts allein unterwegs zu sein?"
"Mir ist noch nie was passiert und ich bin ständig unterwegs. Andererseits haben die sich letztens Martin geschnappt und ihm Kippen auf den Armen ausgedrückt und ihn zusammengetreten, mitten in der Weststadt."
"Und keiner hat geholfen?"
"Martin gibt keinen Laut von sich, den könnte man wahrscheinlich hinter einem Raumteiler am Flughafen ermorden, und niemand bekäme was mit."
"Das müssten aber ganz schön viele sein."
"Ja, stimmt. Martin kann total psycho sein." Tino steht auf, geht am Dach entlang, lässt sich auf den Deckel der Mülltonne herunter, balanciert, damit sie nicht aufklappt, hält sich an der Regenrinne fest und springt. "Was ist?", fragt das Punkmädchen. "Rein?"
"Nein. Ich werde mal nachsehen, was Alex macht."

Es gab einen Moment, als Judith die Typen gerade entdeckte, da hätte sie noch ungesehen im Gebüsch verschwinden können, das die gesamte Strecke den Wegrand säumt. Die waren ins Gespräch vertieft. In dieser Situation wäre es von Vorteil gewesen, eine weniger direkte Persönlichkeit zu haben, denkt sie noch, als sie die drei entgegen kommenden Typen genauer erkennt.
Natürlich reagiert sie nicht, als einer "bleib mal stehen" sagt. Weicht nur aus, als ein anderer aus der Gruppe ausschert und ihr den Weg abschneidet. Im letzten Moment rennt sie los, kurvt um einen Jungen mit raspelkurzem Haar und Fliegerjacke rum. Schnell laufen ist nicht so ganz ihr Ding, aber es wäre bestimmt besser gegangen, wenn sie sich heute nicht schick gemacht hätte, für einen Vortrag, inklusive Schuhe, die nicht in erster Linie zum Laufen gemacht wurden. Die Schritte hinter ihr sind viel leiser, Turnschuhschritte. Das gleichmäßige Geräusch seines Atems kommt näher, das erste Mal spürt sie einen Hauch Angst und bricht in Richtung Ödland aus.
Nach wenigen Schritten spürt sie einen Zug. "Brrrr." Als sie begreift, was sie hält, muss sie fast lachen. Bis sie am Tragegriff ihres Rucksacks nach hinten gezogen wird. Judith hat Mühe auf den Beinen zu bleiben bei ihrem Rückwärts-Trab.

"Was haben wir denn hier?", fragt einer. "Judith Kohnen? Wusste gar nicht, dass es bei uns auch Juden gibt, das wird ja immer schöner." Sie kann kaum glauben, was sie da hört, ihr fällt jedenfalls nicht ein, was sie darauf sagen soll.
Während das Hirn ihr Portemonnaie durchsucht, wird sie von den Muskeln festgehalten.
Kinder, denkt sie, als sie ihnen ins Gesicht sieht. Beiden scheint das etwas unangenehm zu sein, sie kamen nur zögerlich auf sie zu, als ihnen das Hirn gesagt hat, sie festzuhalten. Er dachte wohl, sie müssten ermuntert werden und sagte, "Marsch, ihr kleinen Volksverräter!", in so einem komischen Ton, als foppe er sie.
Jetzt versuchen die beiden, böse auszusehen, wirken aber eher, als zögen sie Grimassen. Sechzehn, höchstens.
"Studentenausweis", wird die Bestandsaufnahme fortgesetzt. Sie überlegt fieberhaft. Sieht noch mal den einen an. Nee, ne. "Du bist doch der mittlere Mertens", sagt sie zu dem Jungen, der ihren linken Arm umklammert. Der sagt nichts, ist auch schon ein Weilchen her. Da hatte er noch längeres Haar und war ganz und gar Kind. "Was würde dein Vater zu dieser Aktion sagen?", fragt sie und sieht ihm ins Gesicht. Er sieht weg. "Ich sag euch was: Hier ist gar nichts passiert", sagt sie, "jeder geht in seine Richtung und wir vergessen das, ja?" Der Griff um ihren rechten Arm lockert sich.
"Halten sie bitte den Mund, jetzt reden wir, wenn's recht ist", sagt das Hirn.
"Wir haben uns mal unterhalten", sagt Judith schnell, "als ich meine Schuhe abgeholt habe, erinnerst du dich? Eigentlich haben wir uns doch ganz gut verstanden, oder?" Jetzt lässt der Junge los und geht einen Schritt beiseite. "Halt den Mund!", ruft der Typ hinter ihr, "lass sie doch nicht los, du Trottel."
"Tut mir leid", sagt der, "ich mache das nicht. War 'ne Scheißidee, ein Scheißspaß. Wenn mein Alter das rauskriegt, prügelt der mich windelweich." Sie spürt einen Ruck, als das Hirn den Reißverschluss zu zieht. "Kann die Judenbraut weiterziehen. Hast ja recht, war nur Spaß." Sie spürt, wie der Rucksack losgelassen wird, und der linke Arm, und sie spürt ihr Herz, das so heftig klopft wie noch nie. Sie dreht sich um, sieht das erste Mal dem Anführer der kleinen Clique ins Gesicht, noch so ein Junge, denkt sie, und sein Lächeln, so ein Heiratsschwindlergrinsen, aber er weist ihr den Weg mit einer Handbewegung, wie die Karikatur eines Gentlemans.
Judith will gerade gehen, da hört sie jemanden rufen. "Schweine!" Alex rennt. Mit einem knorrigen Ast, den er über dem Kopf hält. Auf sie zu. Die zwei Jungs, die Judith am Arm hielten, verschwinden in die Büsche, einer links, einer rechts. Judith und der Anführer-Junge bleiben stehen.

Judith wird sich später fragen, was sie davon abgehalten hat, einzugreifen. Wenn sie sich in den Weg gestellt hätte, wäre Alex sicher nicht weitergelaufen. So standen sie beide, das Hirn und Judith, bewegungslos da, und starrten auf Alex, der schnell näher kam.

Alex trifft den Jungen mit dem Ast am Kopf, aus dem vollen Lauf. Der geht zu Boden wie vom Blitz getroffen. Alex blickt wild um sich, irgendwo müssen die anderen beiden sein. "Kommt her!", brüllt er in die Nacht. Es antwortet nur das allgegenwärtige Zirpen der Grillen. Judith beugt sich zu dem Niedergeschlagenen und dreht sein Gesicht, aus einer Platzwunde fließt Blut.
"Kommt her! Ich mach euch fertig!"
"Jetzt sei endlich ruhig!", ruft Judith und bringt den Niedergeschlagenen in die stabile Seitenlage. "Ist ihm was passiert?", fragt Alex und sieht, wie es vom Knüppel auf seinen Schuh tropft. Nur ein, zwei Tropfen böses Blut.
"Das versuche ich gerade herauszufinden." Sie hält ihre Hand vor seinen Mund und spürt seinen Atem. "Zumindest atmet er noch." Judith tippt den Notruf in ihr Telefon.
"Hey, was ist los?" Tino läuft auf sie zu. Sie schirmt das Mikro mit der Hand ab und sagt wütend, "das erklärst du ihm jetzt, du Held."
"Weiß Gott, was die gemacht hätten, wenn ...", da fällt sie ihm ins Wort.
" ... du nicht aufgetaucht wärst? Ich war gerade dabei zu gehen, nichts wäre passiert." Sie hebt die Hand, als er antworten will, deutet auf das Telefon und spricht mit der Leitstelle.

Konzerte / Großstadt​

Bulimische Wesen mit schwarzen Caps unter schwarzen Kapuzen hocken auf Bierkisten und übereinandergestapelten Euro-Paletten an die Wände der alten Schuhfabrik gelehnt. Ein paar reden, die meisten beobachten mit ausdruckslosen Gesichtern, wer nach unten will. Hinter ihnen führen die Ziegelwände vier Stockwerke in die Höhe, zwischen ihnen, in der Sackgasse, ist kaum Platz für eine einzelne Person, der schmale Korridor starrt vor ausgestreckten Beinen. Licht fällt aus einem geöffneten Luk auf Kniehöhe: Konzert steht auf einem A4-Blatt, mit einem Pfeil -> Dort geht es hinunter.
Ein Typ mit Prinz-Eisenherz-Schnitt und beiger Stino-Jacke versucht an den ausgestreckten Beinen und Füßen vorbei zu staksen. Niemand macht Platz. Alex beobachtet seinen absurden Tanz. "Tino, halt doch mal an! Das ist die falsche Party." Er wendet sich an eins der zerbrechlich wirkenden Mädchen, die seinen Blick erwidert, kühl, als wäre sie ein Android. "Wir wollen hier zu Ska und Reggae", sagt Alex und überblickt noch mal die vielleicht fünfzehn Leute, die in der Sackgasse hocken. Ein paar Brocken sind auch dabei, ACAB und Good Night White Pride auf den Shirts, Türsteher-Fraktion. "Da müsst ihr lang", sagt das Mädchen mit netter Mädchenstimme und zeigt über den dunklen Hof, im Schein flackernder Sturmleuchten erahnt man Skulpturen und ein paar Bäume.
"Danke."
"Bitte."
"Komm, Mann!", ruft Alex und geht. Tino stakst den Weg über die Beine zurück, von kühlen Augen gemustert. Als er durch ist, geht ein Lachen durch die Gruppe. Muss ja nicht mich meinen, denkt Tino.
Durch den kleinen Skulpturen- und Baumwald. Alex hört Tino leise kichern, als er Äste aus dem Weg schiebt. Die nächste Tür, dreißig Meter Luftlinie vom Hardcore-Keller, wird nicht belagert. WOW steht da in klassischem Block-Style. Alex lächelt, als er eintritt und die Barbesatzung lächelt zurück. Außer der Band sind nur wenige da, unter anderem zwei Mädchen, die allein sitzen und ab und zu rübersehen, zu Tino und Alex an der Bar. Bier auf Spendenbasis, Small-Talk. Tino bequatscht Alex, zu den Mädchen rüber zu gehen.
"Geh doch."
"Komm schon mit. Wie sieht das aus, wenn ich allein rübergeh?"
"Verwegen", sagt Alex.
"Von wegen", sagt Tino und verzieht das Gesicht.
"Okay, wenn das Bier leer ist", sagt Alex und ordert die nächste Runde. Noch zwei Kurze auf Judith. Drei Bier später hat er sie und die kleine Nase vergessen, und der Laden ist rammelvoll. Mädchenüberschuss. Tinos Augen leuchten. Er flüstert-ruft Alex zu, wen er gerade besonders süß findet. Alex nickt, im Takt der Musik, und geht auf die Tanzfläche. Endlich Reggae. Es dauert nicht mal ein Lied, bis sich die Bewegungen aus der ersten Reihe vor der Bühne bis hin zu ihnen, in die letzte Reihe fortgepflanzt haben. Zwei Stunden abgehen. Swingen, schwitzen, schreien. Ich-Verlust.

Viel zu kurz. Obwohl alle "Zugabe" rufen, geht die Combo von der Bühne. Tino zieht Alex mit, "komm, zum Hardcore." Alex schüttelt den Kopf, "der Scheiß nervt. Dieses stumpfe Gebrülle ..."
"Egal", sagt Tino, "Einfach mal kucken, bisschen Zeit tot schlagen, später treff' ich Bärchen noch. Außerdem musst du auch mal an die anderen denken, schon wegen des Karma-Kontos. Allein die dunklen Elfchen! Mann, die warten nur auf dich."
Alex lacht und lässt sich mitziehen, er spürt, wie sich etwas in seiner Hose regt, steckt eine Hand in die Tasche, zieht das Handy raus und runzelt die Stirn. Sophie hat eine Nachricht geschrieben. Samstag will sie sich treffen. Irgendwo wird Electro-Punk gespielt, er überlegt, was das wohl sein soll. 'Keine Ahnung. Eher nicht', schreibt er zurück, während sie ihren Weg durch den von Fackeln erhellten Innenhof suchen, an den Grüppchen vorbei, die überall herumstehen. 'Wir können auch was kochen und einen Film sehen', schreibt sie zurück, 'wenn du einen chilligen Abend haben willst.' Alex schaltet das Handy aus, ohne zu antworten. Beim letzten Mal lief der Film zwanzig Minuten, bis sie sich wieder zwischen den Laken wälzten, er musste die ganze Zeit an Judith denken und bekam das Gefühl, beide zu betrügen.
Er sagte ihr das, aber sie meinte, das sei ihr egal, er solle sie hart ficken, und sich vorstellen, wen oder was er will. Judith, Gummipuppe, Tino, Froschkönig, das sei ihr völlig Banane. Wütend über ihre Gleichgültigkeit und aufgegeilt von ihrer Sex-Performance, hat er's getan, wollte ihr Schmerzen zufügen, und sie schrie nur nach mehr, immer mehr - und als sie danach aneinandergeklammert da lagen, Rücken und Hals zerbissen und zerkratzt, wagten sie kaum zu atmen, pressten sich aneinander, als wollten sie ein Wesen werden, hielten sich fest, als könnten sie sich halten.
Sie meinte vorher noch, sie habe Gummis dabei, und er sagte, da bräuchten sie aber XXL. Angeber, erwiderte sie mit süffisant-vorfreudigem Grinsen, aber als er dann fertig war, flüsterte sie ihm ins Ohr, das wäre ehrlich die geilste Minute ihres Lebens gewesen.

Auf dem Weg zum Hardcore-Keller sitzen die gleichen Leute wie vor dem Reggae-Konzert. Und wieder lassen sie Tino Spießrutenlaufen, einer der Türsteher täuscht einen Tritt gegen seine Beine an, ein paar Hangarounds lachen. Und verstummen, als sie Alex' traurigen Blick sehen. Machen Platz, ein paar ziehen die Beine zurück. Eigentlich ist da genug Platz zum Durchgehen. Alex überlegt, warum Tino überall in seiner Stino-Uniform auftaucht, immer diese Situationen. Seine Mama macht Stress, wenn er sich was ordentlich abgerissenes anzieht, klar, aber er könnte sich vor den Konzerten umziehen, ist doch keine Schande, machen andere auch. Aber den Text hat Alex oft genug gebracht, er will nicht mit einer Mutter von Tino verwechselt werden, die es so nicht gibt.
Durch's Luk nach unten, enge Flure entlang, an denen antifaschistische Sprüche sich abwechseln mit dem Aufruf zum Widerstand gegen die Staatsgewalt. Etwas wie zwei Störgeräusche werden immer lauter, schwellen nach dem Öffnen einer Stahltür zu einem permanenten Klang-Tsunami an, der alle Gedanken wegspült. "Hörst du das?" liest Alex von Tinos Lippen, dessen Augen schon wieder oder immer noch leuchten.
Wie macht er das nur. Tinos Beseeltheit in dem schmutzigen Rattenrennen, das sein Leben ist. Seine Mama, der scheiß Job, die Einsamkeit, von der er nie redet. Tino ballt die Faust und schüttelt sie vor Alex Gesicht, der macht sich so langsam einen Reim auf diese wiederkehrende Geste.
Tino meint damit niemand besonderen und zugleich die ganze Welt. "Siehst du? Wir haben Spaß, du beschissenes Labyrinth der Lieblosigkeit!" Links und rechts und wieder um die Ecke, Alex bekommt eine Vorstellung, warum das alles Gängeviertel genannt wird. Klaustrophobisch, diese engen Korridore unter der Erde, es ist wie in seinen Träumen hier, Alex fühlt sich eingezwängt und atmet tief ein, und ja, hinter der nächsten Biegung weitet sich der Raum.
Bühne gibt's hier nicht. Ein Keller mit einem Malertisch in der Ecke, die improvisierte Bar, hinter der drei dunkle Elfchen Getränke ausgeben. Der Shouter kreischt wie vom wütenden Gott besessen, Basser und Drummer prügeln den Zuhörern ihr musikalisches Brett um die Ohren, unmöglich, die Instrumente voneinander zu unterscheiden. Schwarzgewandete stehen stumm und bewegungslos wie ein Bataillon Schaufensterpuppen. Ein paar Rastafaris, die Alex bei dem anderen Konzert sah, stehen amüsiert zusammen, geben Tüten in der Runde rum und nicken zu einem Beat, der hier nicht läuft. Tino drängelt sich nach vorn, steht jetzt zwei Meter vor dem Shouter und beginnt zu moshen, als hätte er die Mecke noch, auf die er so stolz war, die er sich stutzen lassen musste für seine Ausbildung, die er nicht wollte. Er ist der einzige, der sich zu der Musik bewegt, mit geschlossenen Augen. Alex stellt sich zu den Grasrauchern, lehnt die Tüte ab, Horror, denkt er, hier seine Sinne zu öffnen. Verschränkt die Arme, sieht sich um und stutzt – da ist sie!

Der Moment des Umdrehens: ihr Gesicht blitzt kurz auf und elektrisiert ihn. Er vergisst zu atmen, bis sie sich wieder bewegt: Mit einer beiläufigen Bewegung streicht sie ihr Haar aus der Stirn. Tiefes Einatmen. Alex schüttelt den Kopf, um sich aus diesem Bann zu befreien, doch gleichzeitig erforschen seine Augen, diese Verräter, ihre Halspartie. Der weiche Schwung zur Schulter, ja! Das muss sie sein. Nur den Arm, der um diese Schulter liegt, den hat er noch nicht gesehen. Doch nein, halt, was macht sie hier, auf diesem Konzert? Es ist unmöglich. Es ist nicht real. Es ist - ein Bild, das sein Herz sehen will. Es ist - die Neigung ihres Kopfes, ja, kein Zweifel, sie ist es!
Er muss lachen: Als betrachte sie ein Gemälde, das ihr unvermittelt etwas zuflüstert, auf das sie schon lange wartete. Degas Tänzerin. Völlig ungerührt von dem Sturm aus Geräuschen, der um sie herum tost. Ihr Interesse ist stärker, hier findet etwas statt, das sie interessiert, und nichts kann sie davon abbringen, sich damit zu beschäftigen. Sie lehnt ihren Kopf an eine fremde Schulter. Alex denkt: Nein, das darf nicht sein. Und gleichzeitig steigt Wärme aus dem Bauch auf, flutet seinen Kopf, bis der glüht.
Als die Musik abrupt stoppt, klingen seine Ohren. "Was halten wir von Nazi-Wichsern?", ruft der Shouter, "Zeit für'n Statement!" Da kommt Leben in die Schaufensterpuppen, vierzig Mittelfinger strecken sich über die Köpfe. Alex aber spürt dem Umriss einer immerkühlen Hand auf seiner Stirn, sieht auf den Boden, sucht einen festen Punkt - und sieht die Schuhe, die er in der Nacht trug, den roten Fleck, er spürt, wie es ihn mitreißt, jemand ruft: "Verräter!" Alex spürt einen heftigen Schlag, wird ein paar Meter durch den Keller geschleudert, prallt mit dem Kopf gegen den Malertisch, dann wird es dunkel.

"Jemand ist ausgerastet und hat alle umgerannt, die ihren Mittelfinger nicht oben hatten", sagt Tino. Alex sieht sich um, er sitzt auf dem Boden, mit dem Rücken gegen eine Wand gelehnt, um ihn herum brutaler Lärm. In ihm ist es ruhig. "Wo ist der Typ?", fragt er.
"Die Ordner haben ihn mit nach draußen genommen."
"Muss ich nicht kämpfen jetzt?"
Tino schüttelt den Kopf. "Wir können gehen, wenn du willst. Bärchen suchen, der muss hier irgendwo rumschwirren"
"Die Mucke nervt sowieso."
Tino reicht ihm die Hand und hilft Alex auf die Beine. Vor der Tür hören sie im Vorbeigehen, wie die Ordner den Typen auf Abstand halten, wie sie ihm nahelegen, nach Hause zu gehen. Alex findet das sympathisch, die scheinen keine von der Sorte zu sein, die einen Abend ohne Schlägerei als verlorenen Abend sehen. Er sieht den Troublemaker noch mal an, aber nein, zwischen ihnen sollte kein böses Blut sein, den hat er noch nie gesehen.
In dem dunklen Durchgang zur Straße kommt ihnen ein Typ mit Schrankmaßen in schwarz entgegen und greift sich Tino im Vorbeigehen, die Bewegung hat was von der Mühelosigkeit des Geckos, der mit seiner Zunge ein Insekt fängt.
Tino wird umarmt und hochgehoben und eine Weile im Bärengriff gehalten, etwas unsicher im ersten Moment, ob er heftig liebgehabt wird, oder ob man versucht, seinen Rücken zu brechen. Vorsichtig tätschelt er den Rücken und fragt, nachdem er die Wolke aus altem Schweiß, frischem Pils und Kippen schon nicht mehr wahrnimmt, ob man sich wieder trennen wolle, wenigstens vorübergehend.
"Erst mal Bierchen trinken", sagt Bärchen.

Alex drängelt, "der letzte Zug fährt in einer Stunde ... fünfzig Minuten ... vierzig ... wir müssen wirklich los jetzt, Tino ..." Der ärgert sich still, ist doch Wochenende, denkt er, was sollen wir in dem Kaff, sonst hat er's auch nicht so eilig. Das alles kann Alex in seinen Augen lesen, und recht hast du, bedeutet sein Lächeln, und das gleichzeitige Zupfen an Tinos Jacke, dass es trotzdem wichtig wäre, los zu kommen.
Um einer bärigen Verabschiedung zu entgehen, streckt Alex schnell die Hand aus und lächelt wie der eilfertige Nachtportier eines Stundenhotels, künstlich wie Ken, das bringt die Leute normalerweise lange genug aus dem Gleichgewicht, dass man davon kommt.
"Was soll der Stress? Hast du nicht gehört, was Bärchen gesagt hat? Können wir endlich mal zurückschlagen", fragt Tino draußen.
Sie gehen ein Stück die Straße hinunter und nehmen an der Ecke die Treppe in den Untergrund. Niemand außer ihnen ist da unterwegs so spät am Abend und früh in der Nacht. Eine kurze Phase zwischen den Zeiten, ihre Schritte klingen unnatürlich durch die leeren Hallen, die Rolltreppe abwärts scheint kein Ende zu nehmen.
"So ungefähr das Letzte, was wir brauchen, ist ein Haufen autonomer Steineschmeißer, die unsere Kleinstadtglatzen aufmischen, sich verpissen, und uns mit dem wütenden Wespennest allein lassen. Ich habe schon genug Ärger mit denen. Das Kid, dem ich einen verpasst habe, ist der Neffe von Hartmann. Der war vorgestern total besoffen in der Stadt unterwegs, mit zwei Renee-Girls und einer Axt und wollte wissen, wer seinen Jungen mit nem Baseballschläger überfallen und verprügelt hat."
"Wortlaut?"
"Was weiß ich, du fragst Sachen. So hat das Martin erzählt, der hat das von einer aus dem Punker-Haus. Die hat das von der Freundin des Mädchens, die zufällig dabei war. Hartmann hat mit seiner Axt halb die Tür eingeschlagen, bis sie, das völlig verängstigte Mädchen in dieser Axtirren-Geschichte, aus einem Fenster im zweiten Stock geschrien hat: Dass die Bullen unterwegs sind und was die Axtglatze überhaupt will. Hartmann war mit seinen Renees allein da, die Frauen in der Punker-WG gehören überhaupt nicht dazu und haben nur bei wem gepennt, 'ner Grundschulfreundin wahrscheinlich, lief wohl so unter Schnupperwochenende im linksradikalen Milieu. Und dann hat eine der Renees hoch geschrien, Hartmann sucht den Punk, der seinen Neffen überfallen und mit einem Basie verprügelt hat."
"Oh. Wow."
Alex schnaubt. "Wie kann man nur so fertig sein? Mitten am Tag, mit zwei Frauen und einer Axt! Normalerweise sind da mindestens zehn Leute in dem Haus."
"Klingt wie ein Film. Macht sich bestimmt gut in deinen Memoiren später."
"Tino, ey, ich hatte ja schon die Hosen voll, als die uns letztens nur so aus Spaß gejagt haben. Jetzt hab' ich richtig Angst. Seitdem ich das weiß, ist Hartmanns Fratze das letzte, was ich vor dem Einschlafen sehe und das erste, woran ich nach dem Aufwachen denke. Heute Nacht träumte ich, der ist in meiner Wohnung und zum Fliehen musste ich aus einem Fenster springen, auf einen Matratzenberg, dreißig Meter tiefer und zehn Meter entfernt. Dreimal die ganze Scheiße, kaum hatte ich's geschafft, war ich wieder oben. Und auf einmal war Judith da und wir hielten uns an den Händen und sprangen. Alter, meine Höhenangst reicht mir! Ich brauch' keine Hartmann-Angst dazu! Wenn der meinen Namen rauskriegt, bin ich geliefert. Dann muss ich auswandern oder den Geheimdienst um eine neue Identität anbetteln. Aber wofür bitte? Ich weiß doch nichts."
"Denk dir einen linksradikalen Untergrund aus, den du verraten kannst. Du bist der Märchenmann."
"Danke Tino. Was wäre das Leben ohne Freunde?"

Kleinstadt / Rache für Robert​

Willkommen in der Alten Mühle. Hier gibt's Bier und Schnaps, große Reden kleiner Leute, klare Hierarchien und eindeutige Ziele: Unsere Freund-Feind-Kennung ist noch nicht verwischt und aufgeweicht vom Konsensgewäsch. Wer reinen Herzens und Blutes ist, der verbrüdere sich mit Kumpanen und Vaterland, stimmt ein in den großen Gesang der Bruderschaft, auf dass uns die glorreichen Lieder zu glorreichen Siegen über minderwertes Blut und verschlagene Rassen führen. Nein, nein, wir haben doch gar nichts gegen die, sie sollen nur in ihre eigenen Länder zurück. Sonst wird's mal wieder Zeit für Happy Holocaust.
Ja, ist halt ein Spruch, eine Demokratie muss das aushalten, wir können drüber diskutieren, kommen sie doch mal vorbei. Schauen sie sich das an, wir trinken ein Bierchen und reden mal darüber, was bei uns in Deutschland so los ist. Wir nehmen ihre Sorgen ernst, und Spaß haben wir trotzdem! Als Kerl steht Ihnen sozusagen das gesamte Spektrum der Möglichkeiten zur Verfügung.
Herrenlose Weibchen dürfen sich an den Arsch fassen lassen, das ist ein Kompliment, und mit anderen Weibern Weibersachen besprechen, aber um des Führers willen nicht einstimmen in die völkische Rhetorik: Niemand möchte eine Olle am Tisch haben, die mit Schaum vor'm Maul vor sich hin geifert. Und das merke dir: Zuerst die Kameradschaft, dann das Weib. Ganz einfache Regel, halt dich dran, dann darfste hinten mit auf den Bock. Gefällt dir nicht - Hitler, kann das sein? Kleiner Scherz. Nicht lustig, sagst du. Fresse halten, jetzt rede ich. Hol' Bier, los, was kuckste schief? Kleiner Klaps zur Ermunterung? Siehste, läuft.
Sie befinden sich hier in Gesellschaft von Gleichgesinnten, leider nur in diesem abgeschlossenen Raum am Mittwochabend, aber immerhin. Vergessen Sie für einen Moment, dass in derselben Straße das Punk-Haus steht, dreihundert Meter weiter. Wo Pöbel und Gesocks hausen, das stinkt und faul ist und frech grinst, wenn man sie drauf aufmerksam macht - man muss sich dieses Haus als Brutstätte vorstellen, ein riesig ekliges Ektoplasma, das immer wieder verlauste Kids auf die Straße spuckt. Solange die vom globalen Finanzjudentum gelenkte Regierung an der Macht ist, können wir nicht viel dagegen machen. Schlägt man mal 'nen Zigeuner tot, 'nen Jud, Neger oder ne Zecke, da machen die gleich einen Aufstand!

Martin geht an der Alten Mühle vorbei auf dem Weg nach Hause in die WG. Die anderen meiden die Strecke, machen eher einen kleinen Umweg. Martin nicht, noch nie. Mittlerweile hat er schon vergessen, wovor die anderen Schiss haben.
Da geht er vorbei, der schmächtige Typ mit der nietenbesetzten Lederjacke und dem grünen Stachel-Iro. Klassischer geht's kaum.
Die Kameraden in der Alten Mühle sehen ihn durch den doppelten Schleier von bernsteinfarbenem Fensterglas und Suff, wahrscheinlich wäre der Moment vorübergegangen, wenn keiner etwas gesagt hätte, dachte der Willi später.
Man hätte den Kleinen ziehen lassen können. Nur wenige Minuten danach wäre er nur ein weiteres Gespenst gewesen, das an der Trinker-Runde auf dem Weg von Bierseligkeit zu sturzbertrunken vorüberzog. Ein Punkerschwein, kaum zu unterscheiden von den Kommunistenschweinen und Zigeunerschweinen und Judenschweinen. Ein Phantom, das alle möglichen Schrecknisse auf sich vereint und verschiedene Namen trägt. Nur ein weiterer aus der großen Herde aus Verschwörern und Gesindel, die über Zeit und Raum hinweg in diesen Raum beschworen und systematisch zerlegt werden von den tapferen Kämpfern der deutschen Nation. So hält man's hier, das hält zusammen, das tut normalerweise keinem weh.
Doch dann rennt dieser Gockel am Fenster vorbei, und dem Redner stockt die Sprache, und die anderen – folgen seinem Blick. Und der Hartmann sagt 'nen Satz.

"So ein Schwein hat meinen Robert niedergeschlagen", sagt Hartmann. Es klingt, als wäre er von etwas milde überrascht worden. "Mein Robert, der ist ein guter Junge. Aus dem Hinterhalt ist er von zweien überfallen worden und dann haben sie ihm 'ne Baseballkeule über'n Schädel gezogen. Was sind denn das für Tiere, die so was tun?" Er sagt das ohne Betonung, es klingt, als hätte es keine Bedeutung, fast ein wenig träumerisch, aber als die Worte erst einmal ausgesprochen sind, wollen sie sich nicht zerstreuen wie der übliche Dunst, sie hängen über dem Stammtisch wie eine düstere Wolke, aus der Bedeutung in die Hirne tropft.
Und irgendwann auch durch einen Riss in Hartmanns Dickschädel. Da treibt's ihn hoch. "Den schnappen wir uns", ruft er und läuft aus der Tür, hinter Martin her, der nichts hört. Kopfhörer über den Ohren, mit ordentlich Basskraft, die das Trommelfeld massiert und die Welt aussperrt.
Der erste Schlag ist kein Schmerz, eher brutale Überraschung. So wie nichtsahnend gegen eine Glastür rennen. Voller Stopp des Films. Scharfer Schnitt: Martin wird von der Wucht ein paar Schritte nach vorn getragen, stolpert die Straße entlang, hält sich an der Hauswand fest, dreht sich um, und kriegt die nächste Faust. Er hört noch die Rufe und das Johlen der anderen, als seine Mucke vom Schädel geschlagen wird, er hört die aus der Alten Mühle kommen, aber nur wie von sehr weit weg. Ganz nah sind die Schläge, die Hartmanns Bauarbeiterarme austeilen. Hartmann findet das gut, egal wie wütend er ist, seine Schläge sind immer gezielt. Martin nimmt die Arme hoch und versucht einen Schwinger, der an einer Schulter verpufft. Vor ihm die Schlagmaschine, hinter ihm die Wand aus Ziegeln.
Willi bekommt Angst beim Näherkommen, dass er den kleinen Punk erkennt. Der Bengel vom Rodenstock oder die süße Kleine vom Nachbarn zum Beispiel. Und nachher kommt raus, der Willi war dabei und hat nichts gemacht. "Hartmann, du schlägst ihn ja tot! Mach dich nicht unglücklich!", ruft er. "Kommt!", sagt er zu seinen Kameraden und sie laufen auf die beiden zu. "Hör auf jetzt!", ruft Willi. Hartmann reagiert nicht, setzt weiter Schläge auf den Zusammengerollten. Willi greift nach seinem Arm, kriegt selbst eine verpasst, heult auf, hält sich die Nase, sieht Blut in seiner Hand, Schmerz pocht durch seine Fresse. Die anderen, die mit ihm gelaufen sind, treten jetzt auch auf Martin ein.
"Ich habe die Polizei gerufen!", ruft da jemand, von oben, aus einem Haus. "Verschwindet!"
"Der lügt doch", grollt Hartmann, greift aber nach Martin und schleppt ihn mit. "Komm, fass mit an", fordert er einen auf, der sich prompt Martins anderen Arm schnappt. Will keinen Ausflug machen, denkt Martin, als er durch die Straße geschleppt wird. Er glaubt, ein paar Zähne weniger zu haben, möchte aber mit der Zunge nicht nachfühlen, ansonsten spürt er gerade nichts, sein Körper ist eine einzige pulsierende und pochende Masse, die sich anfühlt wie Kartoffelpüree. Das kann richtig ernst werden, denkt er, als er hört, wie sich eine Autotür öffnet. Er spürt, wie sie ihn reinstoßen, in die Mitte wird er geschoben, rechts und links zwei freundliche Aufpasser, damit er nicht aus dem Auto fällt. Während der Fahrt muss er an die Melodie von "Always look an the bright side of life" denken. Martin schweigt und schließt die Augen.

Krankenhaus / Kleinstadt

"Könnten sie bitte Herrn Kraskow nach der Identität der Täter befragen? Oder Tathergang, irgend etwas – wir wären ihnen sehr dankbar für alles, was sie herausfinden könnten! Mit uns will er nicht zusammen arbeiten."
"Herr Kraskow?", fragt Alex.
"Na Martin, Mann", sagt Tino. "Er wird nicht wollen, dass wir weitergeben, was er uns erzählt."
"Blödsinn", sagt Alex, "der wird uns gar nichts erzählen."
Die junge Polizistin schüttelt den Kopf, ihr kurzer blonder Pferdeschwanz schwenkt mit. "Ohne seine Mitarbeit fassen wir die Verantwortlichen vielleicht nicht."
"Das nimmt er in Kauf."
"Hat er soviel Angst? Wenn man denen nicht das Handwerk legt, können die immer weitermachen damit, überlegen sie doch mal." Sie legt Alex die Hand auf den Arm und neigt ihr Gesicht nah zu seinem, in ihren Augen ehrliche Besorgnis. "Wir bringen den schnell vor Gericht, wenn ihr Freund aussagt, aber aussagen muss er ... Wir können sie beschützen, vertrauen sie mir. Ich würde es nicht sagen, wenn es nicht so wäre."
"Selbst wenn: Du verstehst da was falsch. Den zentralen Punkt sozusagen."
Sie runzelt die Stirn, geht wieder etwas auf Abstand. "Der da ist?"
"Tut mir leid", sagt Alex, "wir bearbeiten ihn, versprochen, wir sind nicht nur beim Schnorren und Nichtstun hartnäckig, nee. Trotzdem, Martin? Die härteste Nuss. Verlasst euch nicht zu sehr auf seine Aussage."
Sie nickt, greift in die Innentasche ihrer Jacke und holt eine Visitenkarte heraus. "Wenn was sein sollte, oder falls sich was ergibt: Ihr könnt immer anrufen, jederzeit."
"Cool", sagt Alex, "vielen Dank. Du bist echt in Ordnung für einen Bull-, Polizisten."

Martin ähnelt mehr einer Mumie als einem lebenden Menschen. Infusion gelegt, der Kopf ist fast komplett bandagiert, nur zwei grüne Strähnen hängen über das Weiß des Verbands und erinnern Tino an einen traurigen Scheitelrest, unter dem Martins Kohle-Augen Löcher in die Wand brennen. Sein "Tagchen" klingt wie jeden Tag.
Der Tisch ist vollgestellt: Mit Unkräutern und Gräsern, die in leeren Bierflaschen ohne Banderole stecken. Gebastelte Kärtchen mit Lippenstift-Kussmündern. Ein Foto seiner Freundin mit dem Porzellanpuppengesicht, die von unten, mit weit aufgerissenen Augen, in die Kamera lächelt. Eine aufgeklappte A3-Karte, mit bestimmt vierzig Unterschriften, freundliche Smileys mit Fuckfingern und der wiederholten Aufforderung, Martin möge sich bessern.
Wie kommt jemand, der so scheiße aussieht, bloß an so ein Mädchen, denkt Timo, als er den Blick über das Zeug hin zu dem Kranken schweifen lässt.
"Scheiße", sagt Alex.
"Selber Scheiße", sagt Martin. "Na ja. Hab wohl Glück gehabt. Nichts dauerhaft beschädigt wahrscheinlich, tut nur weh so ziemlich alles. Zahnreihen komplett vorhanden." Er zeigt etwas, das Tino an RDJ oder das Grinsen eines animierten Haifischs erinnert.
"Die Polizistenfrau fragte, wer das war."
"Legen sich ja richtig ins Zeug, die Staatsdiener, hetzen mir so eine kommunikationsstarke Empathin auf den Hals. Und ich kann nicht weg. Die hat ihren ganzen Psychoscheiß an mir abgespult."
"Sie will, dass der Typ hinter Gitter kommt. Das ist nicht verkehrt, der ist gemeingefährlich."
"Für dich vielleicht. Ich ruf nicht fuck the system und dann den Staat um Hilfe, wenn ich einen in die Fresse bekomme."
"Lächerlich, absolut lächerlich. Wie ein bockiges Kind." Alex spürt eine Hand auf seiner Schulter.
"Ruhig", sagt Tino, "bitte, Freunde, nicht diese Töne! Wir wollen uns nicht streiten."
"Du lässt dich von jeder bequatschen, die ein hübsches Gesicht hat und besorgt tut, Alex, das geht mir immer auf die Ketten mit dir."
Alex geht ans Fenster und sieht auf die Flachdächer der Krankenhausgebäude. Sieht Regen in Pfützen fallen. "Was willst du tun? Gesund werden, dich wieder verprügeln lassen? Dein Schwert ziehen?"
"Wie lange schon jagen uns Hartmann und seine Spießgesellen? Seit zwei, drei Jahren sind wir entweder auf der Flucht oder leben in ängstlicher Erwartung, dass die uns schnappen wie Raubvögel die Kaninchen. Ich bin aber kein Karnickel, nur zufällig zwanzig Jahre jünger und fünfzig Kilo leichter als der Typ. In meinen Träumen läuft sein völkischer Lebenssaft die Blutrinne meines Bastardschwerts herunter. Seit Jahren ducken wir uns weg. Mir reicht's. Ich will Hartmann das Schwein aufschlitzen. Einen, der das Schwert zog, durch das Schwert umkommen lassen."
Tino hört den nüchternen Tonfall einer düsteren Prophezeiung, und eine Welle schaudert seinen Rücken hinauf und geht als Schütteln durch seine Gliedmaßen. Alex spürt es wie eine elektrische Entladung und dreht sich erschreckt zu Tino um. Der achtet nicht darauf, blickt starr auf Martins Gesicht. "Ich verstehe deinen Zorn", sagt Tino. "Und hoffe, dass du bald wieder gesund wirst. Haben die Ärzte eine Prognose gestellt?"
"Ein bis drei Monate. Da ist komplizierter Scheiß im rechten Fuß."
"Halt durch", sagt Tino. "Wir denken an dich. Ruf an, wenn du was brauchst. Lass uns, Alex."
Sie küssen Martin auf die Stirn, bevor sie den Raum verlassen.
In der Cafeteria treffen sie die Polizistin, die vor leerem Geschirr sitzt und schreibt und kuckt. "So ein Zufall, wie schön!", ruft sie und rückt eilig zwei Stühle zurecht. "Ich habe gerade Mittagspause und ..."
"... spar dir das", sagt Alex. "Namen gibt's keine. Wir wissen auch nichts, Martin hat wohl nur Sterne und Dunkelheit gesehen, keine unterscheidbaren Hassfratzen. Könnt ihr nach Sternen fahnden? Wahrscheinlich war's ein krimineller Ausländer, Mafia oder so." Das erste Mal verschwindet ihr Lächeln vom Gesicht.
"Vor gar nicht langer Zeit hat mitten am Tag jemand mit einer Axt die Tür eines Hauses eingeschlagen, in dem welche aus der linken Szene wohnen. Kurz danach dieser Gewaltausbruch, kaum zweihundert Meter weiter. Wo sind die Limits dieser Leute? Machen die vor Mädchen halt? Wissen sie das? Wollen sie das verantworten, nur weil sie Angst haben zu reden?"
Alex spürt, wie sie an ihm reißen, er soll platzen wie ein Knallbonbon – und ein Zettel mit dem Namen des Täters herausfallen. Er schüttelt nur den Kopf. "Geh bitte, hier gibt's nichts mehr zu reden."
"Wir melden uns", sagt Tino, "Wenn wir etwas herausfinden, melden wir uns."
Auf dem Weg in die Stadt sagt Tino, "wir müssen etwas tun, um diesen Wahnsinn aufzuhalten. Die drehen alle total durch gerade. Wir haben einen Monat."
"Und was?"
"Hartmann muss wieder dahin, wo er hingehört. Bevor Martin draußen und fit ist. Wir müssen den einknasten lassen, bevor Martin auf Killbill macht."

Einbruch / Kleinstadt​

Hartmann ist ein harter Mann. Ein starker Mann mit Talent zum Angstmachen. Kein besonders cleverer oder vorsichtiger Mann. Wahrscheinlich ist er eine riesengroße Pfeife, die außer Hartsein überhaupt nichts kann, aber niemand weiß es, weil niemand es wagen würde, auch nur einen Furz zu bringen, der Hartmanns völkische Krawatte verwehen könnte.
Wenn man die Dinge so sieht, ist das schon ein großes Ding, denkt Alex, während er Hartmann und seine Mannschaft in den weißen Golf steigen sieht, mit dem sie zur Alten Mühle fahren werden, wie jeden Mittwoch.
Das Fenster neben der Balkontür im Erdgeschoss ist angelehnt, wie jeden Mittwoch. Zur Not hätte Alex noch den Glasschneider dabei, Heimwerker-Quali von Praxxan, aus dem Baumarkt geklaut, würde reichen. Sie warten noch eine Minute, dann gehen sie, um das Haus herum, durch die Büsche und kleinen Bäume, die zur Begrünung der Weststadt gepflanzt wurden, um sie zu einem freundlicheren Ort zu machen. Alex macht Räuberleiter für Tino, der zieht sich am Geländer hoch, genau wie Michel, Martins Bruder. Der kuckt ernst, spricht sehr wenig und ist hochkonzentriert, geht in allen Handlungen voll auf.
Alex denkt, den kenne ich gar nicht. Das Gesicht kommt mir bekannt vor, aber da steckt ein neuer Mensch drin. "Schnell jetzt." Tino greift durch das aufgeklappte Fenster und öffnet die Balkontür von innen. Sie sind drin. "Schnell, weg vom Fenster", sagt Tino und macht selbst einen Schritt zur Seite, behält die Straße von dort im Auge.
Wohnzimmer: Schrankwand, Eiche rustikal, ein gekachelter Tisch mit Tabakresten, einem Stopfgerät und Hülsen. Ein Tittenposter an der Tür, ein anderes von einem Actionfilm über der Couch. Eine kleine Anlage, ein großer Röhrenfernseher an der üblichen Stelle in der Schrankwand. "Schnell, schnell", sagt Alex. "Durchsuch die anderen Zimmer, Michel, nimm mit, was ihm schaden könnte, sack alle Datenträger ein, die du kriegen kannst. Alles, was ihn vielleicht mit dem Überfall in Verbindung bringt. Los, los, los." Er selbst beginnt im Wohnzimmer, reißt die Schubladen auf, leer, leer, eine angefangene Schachtel Marlboro. Gibt's doch nicht. Unter dem Beistelltisch – nichts. Tino steht am Fenster und sieht nach draußen, beobachtet die Straße. Auf der Anlage liegen ein paar CD's, Bryan Adams, Phil Collins, Joe Cocker. Versteckte Kamera hier oder was. Alex rennt in die Küche und reißt die Schränke auf – Billig-Kaffee, ein Pfund Zucker, alle Bestecke genau einmal vorhanden. Nichts, nichts, nichts was man gebrauchen könnte. "Wie sieht's aus bei dir?", ruft er.
"Nichts", antwortet Michel. "Keine Fotos, kein Computer, kein Tagebuch. Nur ein Bett, Hanteln, Tittenhefte."

"Sie kommen zurück", Tinos Stimme ist ganz ruhig.
"Verarsch mich nicht." Alex kommt zurück, der weiße Golf fährt gerade in die Kehre. "Schnell, schnell, Michel, wir müssen raus hier."
Michel rennt zur Wohnungstür, drückt den Griff nach unten: "Mist, die ist verschlossen."
"Wir gehen vorne raus. Wenn die im Haus sind, über den Balkon", sagt Tino. "Zehn Sekunden."
Alex läuft zur Wohnungstür, spürt den Widerstand, zieht mit Gewalt und – reißt sie auf. Michel rennt gleich los, zur Kellertür, die nach hinten rausführt.
"Nicht unten raus", ruft Alex. "Hinten ist meistens abgeschlossen. Nach oben. Und warten."
Ein Stockwerk höher bleiben sie stehen, als sie hören, wie die Haustür geöffnet wird: Das Quietschen der Angeln. Wie Wachsfiguren verharren sie mitten in der Bewegung. Kein Schlucken, kein Wimpernzucken, als spielten sie ein Spiel mit sehr strengen Richtern. Gerede, Stiefelschritte, etwas von einem vergessenen Portemonnaie und die Stille, in der jeder andere Vergessliche etwas gehört hätte wie "Idiot" oder wenigstens "was man nicht im Kopf hat ...", bei Hartmann ist's nur Stille. Die drei Einbrecher hören das Kratzen des Schlüssels über das Metall, bevor er im Schloss gedreht wird. Weitertrampelnde Schritte, die Tür wird hart zugeworfen, ihr Startsignal. Sie flitzen die Treppe hinunter und durch die offene Tür nach draußen, drehen sich nach rechts und laufen zur Ecke des Wohnblocks, dann wieder rechts in die Büsche. Und weiter, weiter, weiter.

Kleinstadt / Wache, Büro

"Ja, bitte", sagt sie, als es klopft. Die Tür geht auf.
"Ich habe hier jemanden für dich", sagt der Polizist, der Rezeptionsdienst schiebt und macht den Weg frei für einen älteren Mann, der sehr korrekt gekleidet ist und sich unsicher umschaut.
"Guten Tag", sagt sie, "was kann ich für Sie tun?"
"Sie sind mit dem Überfall in der Rosenstraße beschäftigt?"
"Überfall und Entführung wahrscheinlich. So hat das der anonyme Anrufer beschrieben. Ja, ich bin zuständig."
"Der anonyme Anrufer war ich. Ich habe alles gesehen und sie angerufen."
"Moment." Sie schließt die Maske in ihrem Computer und sieht ihren Besuch aufmerksam an.
"Das ist ja schon eine Woche her. Wieso melden Sie sich erst jetzt?"
"Ich war unsicher, wie ich mich verhalten soll. Wissen Sie, ich wohne in der Straße, und einige der Täter sind mir bekannt."
"Freunde?"
"Nein, nicht mal Bekannte. Aber man sieht sie häufiger, wenn die sich in der Alten Mühle treffen."
"Können Sie die Täter identifizieren?"
"Ja", sagt er. "Einige sind mir sogar namentlich bekannt."
"Gut. Lassen Sie uns das mal ganz in Ruhe von vorne durchsprechen. Wie sind sie auf die Situation aufmerksam geworden?"
"Da war viel Geschrei auf der Straße, deswegen bin ich an das Fenster gegangen und habe nachgesehen." Sie schreibt sich etwas auf einen Block.
"Was haben Sie gesehen?"
"Wie einer den kleinen Punker verprügelt hat. Dann die anderen, die dazu gekommen sind. Wie sie fast alle auf ihn eingeschlagen haben. Da habe ich gerufen, dass ich die Polizei angerufen habe, und sie haben den Punker mitgenommen. Dann habe ich die Polizei gerufen."
"Warum haben Sie ihren Namen nicht gesagt?"
"Ich weiß es nicht genau. Wahrscheinlich wollte ich in diese Sache nicht hineingezogen werden. Aber es hat mir auch keine Ruhe gelassen. Ich habe das Plakat in der Sparkasse gesehen, dass sie dringend Informationen suchen. Da habe ich mir gedacht, wenn ich es nicht sage, wird vielleicht keiner was sagen."
"Das war die richtige Entscheidung, das haben sie gut gemacht. Sind Sie bereit, ein paar Fotos anzusehen?" Er nickt. "Sehr gut, bitte, sehen Sie sich folgende Bilder genau an ..."

Kleinstadt / Alex' Zimmer

Das ist doch alles nichts, denkt Alex, geht ans Fenster und überlegt, was er wegen Martin und Hartmann tun soll, aber in seinem Kopf herrscht absolutes Chaos, das Rattenrennen in Hamsterrädern. Minutenlanger Ausnahmezustand.
Irgendwann flackert der Wunsch nach ein bisschen geistigen Freiraum auf, nach der Ruhe, die ein Warum entstehen lassen könnte. Seine Haut spannt, als wäre sie zu eng für ihn. Für Sekunden das starke Gefühl ein falsches Leben zu führen. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, sieht er vor seinem Fenster die Bäume im Wind. Alex sieht bei ihrem Tanz zu, während der sanfte Gleichmut der Nacht alles Gefühl aufsaugt.

 

Hallo Kubus!

Ich habe die Geschichte jetzt einmal gelesen. Das ist schon so eine typische Banlieue-Geschichte: Gewalt, Jugendbanden, Alkoholismus, Liebeleien, das EINE Mädchen, das anders ist, Musik, die alles unterlegt, Ziellosigkeit.

Es ist auf jeden Fall eine gute, spannende, lesbare Geschichte, nur damit da kein Zweifel drüber aufkommt. Die Freundschaft und die Dialoge zwischen Tino und Alex haben mir am besten dran gefallen.

Obwohl die Geschichte kunstvoll gebaut und auf einen Höhepunkt hin erzählt ist, das Zusammenschlagen von Martin, zerfasert sie ziemlich. Das liegt zum einen an den häufigen Perspektivwechseln, zum anderen an den zahlreichen begonnenen Geschichten in der Geschichte, zum Beispiel Tinos Problem mit der Mutter, die Geschichte zwischen Judith und Alex. Das Leben ist so, ja, es beginnen Dinge, die nie zu einem Ende kommen, manche Ereignisse scheinen keinen Sinn zu haben, führen nirgendwo hin. Das Leben hat keinen Zusammenhang und so keinen Sinn, und es ist jetzt die Frage: Soll Literatur so weitermachen und genau das abbilden, oder sollte sie schön langsam wieder dahinkommen, dass sie wieder einen Sinn herstellt? Eine heikle Sache, ich weiß.

Und ich denke, damit hat es zu tun, dass man nicht richtig an die Personen herankommt, was noch durch den manchmal komplizierten und stellenweise penetrant poetischen und reflektierenden Stil verstärkt wird, bis auf den einen Dialog zwischen Tino und Alex, als Tino wegen seiner Mutter weint vielleicht.

Es ist nicht meine Welt, von der du da erzählst und trotzdem ist mir das alles bekannt. Ich würde mir wünschen, dass Texte dieser Art einmal in eine neue Richtung weisen. Du versuchst es ja, indem du Alex in die Hochkultur, ins Museum zu einem Degas, schickst und das Bild, das er sieht mit dem Mädchen verknüpft, das er liebt. Aber da ist auch die Gefahr, dass das zu einem schicken Versatzstück wird, das sich nicht richtig in die Geschichte einfügt.
Ich würde mir wünschen, dass so ein Mädchen wie Judith nicht so perfekt ist, die macht da ja nichts falsch, und dass auf der anderen Seite so ein Typ wie Hartmann als Mensch dargestellt wird und nicht als Halbaffe.

Wie gesagt, mein erster Eindruck, ich werde die Diskussion um die Geschichte sicher noch weiter verfolgen und vielleicht das eine oder andere noch dazu sagen.

Gruß
Andrea

 
Zuletzt bearbeitet:

Moin Kubus,
fast 80.000 Zeichen, ne ganze Menge. Für Detailkritik/arbeit zu lang, deshalb schreibe ich mal einfach meine Gedanken auf, unsortiert und spontan:

An diversen Stellen hatte ich das Gefühl, ein Drehbuch zu lesen. Das hängt sicher auf der einen Seite mit den vielen Dialogen zusammen, das du in Präsenz schreibst (find ich eigentlich gut, mach ich auch gerne) und das zwischen den Dialogen kurze, aneinandergereihte Beobachtungen oder sollte ich sagen Umgebungsbeschreibungen eingefügt sind. Drehbuch ist ja per se nichts schlechtes, aber es verhinderte hier immer wieder, dass ich in die Geschichte reingezogen wurde.

Trotz der Länge hatte ich am Ende nicht das Gefühl, Alex kennengelernt zu haben. Das fängt da an, dass ich nicht gelesen habe (vielleicht ja auch überlesen), was er genau macht, außer herumzulaufen und in verschiedenen Lokalitäten (nenn ich es mal) herumhängt. Studiert er? Macht er eine Ausbildung? Klar, nicht unbedingt so wichtig, nur ein Detail, aber es geht weiter mit der mir nicht klar gewordenen Motivation, mit Tino abzuhängen, mit ihm befreundet zu sein. Was genau findet er an Judith, mag sein, dass es irgendwo steht, will ich nicht bestreiten, aber mir als Leser ist ein nicht entgegengesprungen. Nicht einmal seine politische Orientierung wird mir klar.

Die hier und da eingestreuten Fremdwörter wie hier:

Sie denkt, so was, einfach meinen letzten Gedanken paraphrasieren.
haben mich irritiert, passten nicht, weder in die Geschichte noch wir beim Beispiel in einen Gedankengang.

Die Geschichte steht ja in Gesellschaft, gut, da ist die Auseinandersetzung verschiedener Subkulturen, die sich gegensätzlich politisch orientieren. Bis auf den Einschub über die dummen und plumpen Nazis oder Möchtegernnazis, der überhaupt nicht in die Geschichte eingebunden war, lese ich nur von sinnlos prügelnden Glatzen, die hinter andersdenkenden, linken Jugendlichen hinterherlaufen. Das ist mir zu klischeehaft. Da kommt nichts rüber, außer das, was ich, obwohl nicht mit der Szene vertraut, mir schon vorstellen kann, irgendwo in einem Artikel schon einmal gelesen habe. Letztlich oberflächlich.

Die Geschichten in der Geschichte, zum Beispiel von Judith, sind zu lang und es erschließt sich mir nicht, warum sie dort stehen. Es sind auch keine Rückblicke, die geschickt in den Fluss der Geschichte eingebaut werden, nein, eine Überschrift und dann geht der Bruch los. Dabei ist Judiths Geschichte gut, vielleicht auch sehr gut geschrieben, könnte fast eine eigene Kurzgeschichte sein, aber das reißt es dann nicht raus.

Die Geschichte kommt daher, als sei sie sehr intuitiv geschrieben. Finde ich per se super, aber wenn man so schreibt und sich treiben lässt, wird die Nacharbeit, das Kürzen, Feilen noch aufwendiger. Ich will dir keinesfalls unterstellen, dass du die Geschichte in ein paar Stunden heruntergeschrieben hast, sondern nur anmerken, dass es auf mich so wirkt wie ein Rohdiamant. Ordentlich was wert, aber noch nicht wirklich schick.

Mag sein, dass das alles so beabsichtigt war und es für dich zum Inhalt der Geschichte gehört sie in dieser Weise zu präsentieren, nur dann hast du mich nicht mitgenommen dabei (man kann es natürlich auch nicht jeden Leser rechtmachen, ist mir schon klar). Interessant finde ich das Thema allemal.

Den einen oder anderen Dialog fand ich zu gestelzt – das bleibt nicht aus, wenn man über die Dialoge eine Menge Handlung bzw. Geschichte mit transportieren will, aber ich denke, da ließe sich noch feilen.

"Ja, hat mir gefallen! Gutes Konzert, lustige Typen, und viele Sachen, von denen sie singen, stimmen. Ist ja nicht alles perfekt in unserer Gesellschaft"
"Wir könnten uns ein Tetrapak Wein teilen und über Dinge reden, die nicht stimmen an unserer Gesellschaft."
"Letztens suche ich im Keller was und kehre das unterste nach oben, ganz tief graben im Gerümpel. Irgendwann, neben einem Kleingebirge aus Zeitungsstapeln, find ich einen ungefähr armlangen Gegenstand, in schwarzes Samt gehüllt. Mein Alter meint, den hat der Großvater aus Japan mitgebracht, nachdem der seine Fabrik geschlossen hat, kurz vor dem Weltenbrand. Ein Schwert. Merkwürdige Waffe. Ungefär so lang wie ein Katana, leicht gebogen, aber mit einer geschliffenen Spitze und Blutrinne, hat was orientalisches. Es teilt Papier, wenn man es darauf legt und ganz leicht an den Rändern nach unten zieht."

So, dass waren ein paar lose Gedanken zu deinem Text. Losgelöst vom Inhalt war er durchaus gut geschrieben, da hat mir schon einiges gefallen.

Herzlichst Heiner

 

Hej Kubus,

mir gefällt besonders, wie Du erzählst. Als wärst Du von so vielen verschiedenen Themen überfordert gewesen und hättest aufgehört zu denken und einfach geschrieben (so liest es sich, ich behaupte nicht, dass es so war und ich meine auch nicht, dass es sich herunter geschrieben liest, eher so, als wäre da eine angezogene Bremse gelöst worden :p).

Nachteilig finde ich, dass die Geschichte in so viele verschiedene Teile zerfällt, die zwar einen Zusammenhang haben, aber für mich nicht immer eine selbstverständliche Funktion. Das Judith-Thema bietet mir nur wenig Spannung, eher stiehlt es dem Alex-Tino-Komplex die Aufmerksamkeit, obwohl hier mehr Potential steckt (meine Meinung).

Von außen betrachtet (was ja immer so viel einfacher ist) würde ich die beiden stärker betonen, ihre Wünsche (meinetwegen auch den Judith-Wunsch), ihre Unfähigkeiten, ihre Konflikte. Ich würde versuchen, sie zum Zentrum der Geschichte zu machen.

Ich hab ein paar Sachen aufgeschrieben, beim Lesen:

Sie gehen den Feldweg am See entlang, schweigend, unter den alten Eichen, ihre Laufstrecke, lassen den Hochstand links liegen, wo sie immer Raucherpause machen.
Das ist aus dem Später-Absatz. Geschickter wäre es mMn, wenn diese Beschreibung irgendwo früher untergebracht werden könnte, ich hab die beiden die ganze Zeit auf einem abgewetzten Kunstledersofa (umringt von leeren oder mit Kippen vollgestopften Bierflaschen) sitzen sehen, die Freiheit hast du mir gelassen.

wenn Tino an die Schmach erinnert wird, dass sie existiert, dass seine Mama eine Säuferin ist.
Wenn Tinos Mama schon lange Säuferin ist, warum zeigst Du, wie er darunter leidet und weint (weiter oben) weil sie bepinkelt auf dem Sofa liegt? Er kennt das längst, er müsste doch ziemlich abgestumpft sein oder einen besonderen Grund dafür haben, dass ihn stört, was zu seinem Alltag gehört.

Ich brauch' keine Hartmann-Angst dazu! Wenn der meinen Namen rauskriegt, bin ich geliefert. Dann muss ich auswandern oder den Geheimdienst um eine neue Identität anbetteln. Aber wofür bitte? Ich weiß doch nichts."
So richtig weiß ich auch nicht, was er meint. Wissen? Ging es nicht um den Schlag mit einem Ast? Was hat das mit Wissen zu tun?

kommen sie doch mal vorbei. Schauen sie sich das an, wir trinken ein Bierchen und reden mal darüber, was bei uns in Deutschland so los ist. Wir nehmen ihre Sorgen ernst, und Spaß haben wir trotzdem! Als Kerl steht Ihnen sozusagen das gesamte Spektrum der Möglichkeiten zur Verfügung.
Anrede oder nicht?

LG
Ane

 

Sie sieht die Schwalbeneltern zu ihrer Höhle fliegen, hört die Vogeljungen gierig nach mehr rufen und sich weit aus dem Nest lehnen. Ist in Sorge, dass ein Junges in seiner Dummheit und Gier sich zu weit vorwagt und ins Wasser fällt, das wäre nicht das erste Mal.

„DA Esau vierzig Jahr alt war / nahm er zum Weibe / Judith, / die Tochter Beri des Hethiters, / und Basmath, die Tochter Elon des Hethiters / Die machten beide Isaac und Rebecca eitel Herzeleid“ hat Martin Luther Mose 1, Kap. 26, Verse 34 f. in neuerer deutscher Rechtschreibung übersetzt, und mancher glaubt, wenigstens Luther hätte sich über seine Zeit erheben müssen, um keine antisemitischen Anflüge zu haben, war ein erster Reflex von mir auf den Titel zu 22 (in Buchstaben: zweiundzwanzig) einzeilig und somit eng beschriebene Seiten Manuskript unter Times New Roman zwölf Punkt. Da ist schon einiges zu lesen,

lieber Kubus,

dass ich schon geradezu Andreas Rede bewundere, wiewohl ich eher Distanz zu Figuren halte: Wer mittendrin steht, kann nicht alles sehen.
Aber schon im Titel fällt mir zweierlei auf: Judit[h], die es im Mythos auch zweimal gibt: als die Frau Esaus (Hethiter, die an andere Götter glauben als einen jhwh, was den Betrug um das Erstgeburtsrecht dann wieder relativiert), dessen Geschichte freilich hier ebenso bedeutsam ist, als die der Frau aus Jehud[a], die der Legende nach dem assyrischen und also übermächtigen Heerführer Holofernes zunächst als Beute zu Diensten stand für eine Nacht und dann enthauptete - zur Niederlage Assurs.

Eine Judith, die alles richtig macht und sich nicht vom Weg abbringen lässt. Für die kein Durchschnittsleben in Frage kommt. Die will, dass ihr erstes Mal etwas besonderes wird.
Selbst Nazis kennen die Bibel, selbst wenn sie die mit der nordischen Mythologie verwechseln
… Einen, der das Schwert zog, durch das Schwert umkommen lassen."

Ein wenig seh ich hier so etwas wie die Buchhaltung zu einem bestimmten Markenbewusstsein, das sich als linke (i. S. von links von rechts) Haltung gibt. Sind am Anfang noch poetische Züge wahrzunehmen, wie

Da läuten die Glocken der nahe gelegenen Kirche die zehnte Stunde.
oder auch
Noch glaubt er nicht an die Jahreszeit, noch hat er den Geruch von Sommernächten in der Nase.
… kehrt das Leben zurück, mit den Ideen im Gepäck.
Und auch märchen-legendenhafter Ton (der bei mir zu Ironier verkäme)
Es war einmal, in einer kleinen hässlichen Stadt mit einem kleinen See und Wäldern und vielen Menschen, die alle noch leben, wenn sie nicht gestorben sind ...
(wobei das erste Komma entbehrlich wäre) -
aber schon im Übergang
Im Soundtrack seines Lebens würde jetzt Fever Ray laufen, If I had a heart, wenn Gott wirklich ein DJ wäre.
Muss aber wirklich wirklich sein, wiewohl ein „wenn … wirklich … wäre“, dann isset aber so!

Oder es treten wie zum Kontrast kindlich-kindische Züge des Comics auf

… das Klack-Klack, Klack-Klack ihrer schicken Schuhe.
Reichte da nicht ein Klackern? Oder klickerts nicht, wenn gesteppt wird?
Oder Dylan’s Knock-knock-knockin’ germanisiert zu einem
Das Klopfen klingt wie Tok-Tok-Tok.
Und in der Tat, manchmal ist’s kindlich
Seine Mama hat's drauf und wird durch's leiseste Geräusch wach, setzt sich kerzengerade auf und ruft seinen Namen durch's ganze Haus, wovon Papa dann auch wach wird, und dann hat man die Bescherung, …
Und ich frag mich, wann ich angefangen hätte, meine Eltern mit Vornamen anzureden und die Hierarchie der Rollen in der Kleinfamilie über Bord zu werfen ...

Was sich hier vielleicht fortsetzt, denn was zum Teufel bedeutet

… Orktöten und das Lösen von Missionen …
Orkan kenn ich als spanisches Lehen indianischer Sprachen für heftige Winde von Stärke zwölf (ab 117 km/h) und als Vornamen einiger Söhne Osmans; aber ich hab das unbestimmte Gefühl, dass man da in der schönen neuen Medienlandschaft bewandert sein müsse … wie auch hier:
… Tino überall in seiner Stino-Uniform …
Stino-Uniform? Benannt nach Tino mit vorgestelltem Genitiv-s?

Flüchtigkeit​
- die sich bei einem Text dieser Länge in aller Regel nicht vermeiden lässt

Kommentarlos

… malt eine Armbanduhr auf sein Handgelenkt.
Einmal war er eine dreiviertel Stunde unterwges,

Der ganze Raum gröhlt.
Ein h entbehrlich: grölen!

…, von der die ein oder andere Gans den Eindruck erweckt, …
Die ein[e] oder andere …

Batallion
Kommt von der frz. Schlacht Bataille: Bataillon

Heute nacht träumte ich, …
Heute Nacht!

Kartoffelpürree
Püree

"Könnten sie bitte Herrn Kraskow nach der Identität der Täter befragen? …“
Junge Polizistinnen sind nicht nur freundlich, sie sind auch höflich: Anredepronomen sprechen sie groß!
Nun ja, jetzt kommt das Duzen gleich – aber wie versteht sich dann diese Rede mit den Personalpronomen „sie“?
"Vor gar nicht langer Zeit hat mitten am Tag jemand mit einer Axt die Tür eines Hauses eingeschlagen, in dem welche aus der linken Szene wohnen. Kurz danach dieser Gewaltausbruch, kaum zweihundert Meter weiter. Wo sind die Limits dieser Leute? Machen die vor Mädchen halt? Wissen sie das? Wollen sie das verantworten, nur weil sie Angst haben zu reden?"

"Hat er soviel Angst? …“
Besser „so viel“ statt der Subjunktion …

Wie kommt jemand, der so scheiße aussieht, bloß an so ein Mädchen, denkt Timo, als er den Blick über das Zeug hin zu dem Kranken schweifen lässt.
Der Dativ des Akkusativ Tino?

Modus

… und stellt sich vor, was sie gerade tut, dass sie aufsteht und sich Frühstück macht, bevor sie in die große Stadt fährt zu der Klausur, die er eigentlich auch hätte schreiben sollen.
Eine Vorstellung im Indikativ?

Da fällt ihr auf, dass die ja irgendwie implizieren, der gummiummantelte Penis kommt in den Mund. Wofür sonst braucht so ein Teil Geschmack?
Besser vielleicht
… implizieren, der gummiummantelte Penis [käme] in den Mund. Wofür sonst [bräuchte] so ein Teil Geschmack?

Wiederholungstäter

"Der anonyme Anrufer war ich. Ich habe alles gesehen und sie angerufen."

Jetzt dürstet mich ...

Schönes Restwochenende wünscht der

Friedel

 

Hallo Andrea,

zerfasert sie ziemlich. Das liegt zum einen an den häufigen Perspektivwechseln, zum anderen an den zahlreichen begonnenen Geschichten in der Geschichte, zum Beispiel Tinos Problem mit der Mutter, die Geschichte zwischen Judith und Alex.

Bei Tinos Mama und der Geschichte von Judith und Alex habe ich das auch so gesehen, das war mir bewusst. Das sind angerissene Themen, die nicht zu Ende geführt werden. Wobei es da einen Unterschied gibt (in meiner Wahrnehmung: Also warum der Judith-Alex-Faden ausläuft, das liegt mE im Geschichtenverlauf begründet. Tinos Ma ist Hintergrund, Atmosphäre, soll darüber hinaus ein bisschen Insight geben, warum Tino ist, wie er ist.)

Das Leben hat keinen Zusammenhang und so keinen Sinn, und es ist jetzt die Frage: Soll Literatur so weitermachen und genau das abbilden, oder sollte sie schön langsam wieder dahinkommen, dass sie wieder einen Sinn herstellt? Eine heikle Sache, ich weiß.

Die Frage bleibt aktuell und ich freue mich immer, wenn die gestellt wird. Ich kann das nicht mal für mich pauschal beantworten, das kann von Geschichte zu Geschichte unterschiedlich sein. Hier wollte ich in erster Linie die Gewaltspirale so realitätsnah wie möglich abbilden, aber darüber hinaus auch Lichtblicke und Auswege aufzeigen.

dass man nicht richtig an die Personen herankommt, was noch durch den manchmal komplizierten und stellenweise penetrant poetischen und reflektierenden Stil verstärkt wird

das war nicht geplant

Ich würde mir wünschen, dass Texte dieser Art einmal in eine neue Richtung weisen.

Aye, ist auch in meiner Sicht relativ konventionell die Geschichte.
Ich habe mir sehr viel Mühe mit Hintergrund und Konzeption gegeben, aber das war anscheinend mein Privatvergnügen.

Sowohl bei den zwei Szenen als auch bei der Figurenzeichnung kann ich deine Kritik bezüglich fehlender Stromlinienförmigkeit und Stereotypisierung absolut nachvollziehen.

Danke fürs Feedback und Grüße,
Kubus

Hallo Heiner,

Drehbuch ist ja per se nichts schlechtes, aber es verhinderte hier immer wieder, dass ich in die Geschichte reingezogen wurde.

schade. wenn die was können soll, dann reinziehen und spannend sein. habe noch nie ein Drehbuch gelesen, kann ich nichts zu sagen weiter.

Motivationen für dies und das. Kann ich nichts zu sagen, weiß ich nicht. Versteh nicht, wofür du da was brauchst, was du alles wissen musst anscheinend.
Seine politische Orientierung ist ihm wahrscheinlich selbst nicht klar. Das extreme linke Spektrum ist, soweit ich das mitkriege, in vielerlei Hinsicht extrem: in der ideologischen Aufladung zB, aber auch in der Zersplitterung. Da gibt es so viele Weltanschauungsbeauftragte, die ihrem erweiterten Freundeskreis vom korrekten Leben predigen.
Und die da unterwegs sind? letzlich meistens unpolitisch.

haben mich irritiert, passten nicht, weder in die Geschichte noch wir beim Beispiel in einen Gedankengang.

registriert

da ist die Auseinandersetzung verschiedener Subkulturen, die sich gesetzlich politisch orientieren

?

Das ist mir zu klischeehaft. Da kommt nichts rüber, außer das, was ich, obwohl nicht mit der Szene vertraut, mir schon vorstellen kann, irgendwo in einem Artikel schon einmal gelesen habe.

Letztlich oberflächlich.

Den einen oder anderen Dialog fand ich zu gestelzt

Danke fürs Feedback

Grüße
Kubus

Hi Ane,

mir gefällt besonders, wie Du erzählst. Als wärst Du von so vielen verschiedenen Themen überfordert gewesen und hättest aufgehört zu denken und einfach geschrieben

Danke! ;-) Einfach drauf los geschrieben stimmt - das ging schon schnell voran, als ich begonnen habe, die Geschichte zu spüren, da war nicht mehr viel mit bremsen, ja. mir war hier auch der Sound sehr wichtig.

so liest es sich, ich behaupte nicht, dass es so war und ich meine auch nicht, dass es sich herunter geschrieben liest, eher so, als wäre da eine angezogene Bremse gelöst worden

Ja, okay. Ich habe hier schon ziemlich lange dran gearbeitet und alles reingesteckt, was ich hatte.

Nachteilig finde ich, dass die Geschichte in so viele verschiedene Teile zerfällt, die zwar einen Zusammenhang haben, aber für mich nicht immer eine selbstverständliche Funktion.

selbstverständlich nicht, nein. schade dass du es nicht gut findest, aber danke fürs Bescheidsagen.

Von außen betrachtet (was ja immer so viel einfacher ist) würde ich die beiden stärker betonen, ihre Wünsche (meinetwegen auch den Judith-Wunsch), ihre Unfähigkeiten, ihre Konflikte. Ich würde versuchen, sie zum Zentrum der Geschichte zu machen.

oh, so was.

Geschickter wäre es mMn, wenn diese Beschreibung irgendwo früher untergebracht werden könnte, ich hab die beiden die ganze Zeit auf einem abgewetzten Kunstledersofa (umringt von leeren oder mit Kippen vollgestopften Bierflaschen) sitzen sehen, die Freiheit hast du mir gelassen.

sie gehen ja auch irgendwann. ich habe sie vorher auf einer Bank am Eichberg sitzen sehen mit Blick über den See, aber das habe ich wahrscheinlich auch nicht geschrieben. da mach ich noch was. danke.

er müsste doch ziemlich abgestumpft sein oder einen besonderen Grund dafür haben, dass ihn stört, was zu seinem Alltag gehört.

in meiner Sicht: sind das Sachen, die eher unterschwellig die Menschen begleiten, aber in bestimmten Situationen, Atmosphären, mit bestimmten Menschen um einen her, können sorgfältig verborgene harte Probleme hervorbrechen.

So richtig weiß ich auch nicht, was er meint. Wissen? Ging es nicht um den Schlag mit einem Ast? Was hat das mit Wissen zu tun?

bspw dass er dem BND nicht genug Geheimwissen anbieten kann, dass die ihm eine neue Identität verschaffen im Tausch. ich nehme an, das ist ein Scherz von Alex.

Anrede oder nicht?

Ja, Anrede. so ein unsichtbarer nationaler Agitator und Menschenfänger spricht zu den Unzufriedenen.

Danke für die Rückmeldung.

Gruß,
Kubus

 
Zuletzt bearbeitet:

Moin nochmals,

da ist die Auseinandersetzung verschiedener Subkulturen, die sich gesetzlich politisch orientieren


entschuldige, das sollte gegensätzlich heißen.

 

Hallo Friedrichard,

wiewohl ich eher Distanz zu Figuren halte: Wer mittendrin steht, kann nicht alles sehen.

okay. ich erzähle einfach gern aus dieser Perspektive, die bringt wohl eine gewisse Distanz mit sich.

Aber schon im Titel fällt mir zweierlei auf: Judit[h], die es im Mythos auch zweimal gibt

war mir beides nicht bewusst. meine Judith ist halb von einem realen Vorbild und halb von Ruth inspiriert, einer Figur aus Martin Eden.

Und auch märchen-legendenhafter Ton

eine rurale Legende aus dem Leben einer (fast) perfekten Judith

Muss aber wirklich wirklich sein, wiewohl ein „wenn … wirklich … wäre“, dann isset aber so

komm' wir nicht drumrum.

Oder es treten wie zum Kontrast kindlich-kindische Züge des Comics auf

so kindliche Züge passen doch an der Stelle, schließlich hört Alex da Judiths Schritten hinterher - und besonders erwachsen ist sein Verehren wohl nicht.

… Orktöten und das Lösen von Missionen …

Orks gehören zum Fantasy-Personal des Mainstreams, ursprünglich von dem Herrn Tolkien erfunden, meine ich.

Stino-Uniform? Benannt nach Tino mit vorgestelltem Genitiv-s?

wie stellst du dir das vor? ;-) Stino ist doch die Abkürzung für Stinknormal - das ist vllt mttlw so alt, dass es wieder neu ist. klingt so nach Siebzigern.

Ein h entbehrlich: grölen!

Mensch! keine Absicht.

Junge Polizistinnen sind nicht nur freundlich, sie sind auch höflich: Anredepronomen sprechen sie groß!

in einer früheren Fassung habe ich ihre Pronomina groß geschrieben! aber deswegen hat mir in einer Zeile die optische Anmutung nicht gefallen und schwuppdiwupp waren sie wieder klein. ist ja auch eine Geschichte über Radikale, da wird schon mal das ein oder andere Schreibgesetz gebrochen.

Der Dativ des Akkusativ Tino?

ich verstehe die Frage nicht.

Eine Vorstellung im Indikativ?

ja. der arme Konjunktiv, ich weiß.

Danke fürs Rauspicken und Feedback,
Kubus

 

Zitat:
Der Dativ des Akkusativ Tino?
ich verstehe die Frage nicht.

Tachchen Kubus,

Wie kommt jemand, der so scheiße aussieht, bloß an so ein Mädchen, denkt Timo, ...
der bis gerade noch Tino hieß ...

Schönes Wochenende wünscht der

Friedel

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Kubus,


Also mein absolutes Lieblingskapitel ist auf jeden Fall Judiths Geschichte, diese kleine Geschichte in der Geschichte mit Morrison und so.

Smilla-Sensoren, sensibel wie eine Kojoten-Königin

Keine Ahnung was Smila-Sensoren und Kojoten-Königin sind … aber sonst ja, echt schön das Kapitel, hab da viel schmunzeln müssen.

Zögert einen Moment, als sie den Kräuter sieht, der neben der Anlage steht.

Was für Kräuter? Meinst du jetzt Gras? Check ich nicht so ganz.

Aber sonst geht da dein Stil und das, was du erzählen willst, voll auf, finde ich, das hat so einen leicht ironischen Ton, aber trotzdem auch liebevoll und schön, es gibt da viele Stellen, "Ich habe uns ein Nest gebaut!" und das Alkoholtrinken und die anderen Gänse und ihre Abenteuergeschichten und so .. und dann der schweigsame Morrison. Und Das "Nein!" üben, habe ich alles echt gern gelesen, den ganzen Abschnitt.


Da laufen die auffälligsten Frisuren der Stadt. Ein grüner Stachelreif, zwei mitternachtsblaue Prodigy-Iros und ein Antennenkopf – Alex' Haare sind jetzt mit vielfarbigen Bändern verflochten. Getragen von stolzen Kindern, die "Kidpunks" an den Jugendclub sprühten, weil sie die Punks dort zu modisch und angepasst fanden.
Gerade jetzt klettern sie über einen Zaun,

Da springst du plötzlich ins Präteritum .. ich weiß nicht, warum, das passt für mich nicht.


An die Jungs komme ich ein bisschen schlechter ran. Mir fiel es manchmal auch schwer, zu verfolgen, wer eigentlch was sagt bei den Dialogen, und ich finde, das ist immer etwas, das sollte man so klar wie nur irgendwie möglich machen.

"Nichts, Mama. Nur ein paar Idioten, die Streit wollen." Er nimmt sie am Arm und führt sie aus dem Zimmer, "komm, ich mach dir einen Tee."
"Immer gibt's Streit. Warum ziehen sich deine Freunde nichts ordentliches an? Ihr provoziert die doch."

Martin kommt ins Zimmer und sieht dem Golf hinterher, dessen Fahrer den Motor noch mal aufröhren lässt, bevor er um die Kurve fährt. "Wir müssen uns bewaffnen", sagt Martin, "die machen mit uns, was sie wollen, ohne dass es jemanden kümmert." Alex sieht auf die kleinen Hochhäuser und die schnurgeraden Straßen, zwischen denen Beete voller Stiefmütterchen blühen. Er denkt an sein Jagdmesser, das er vorhin benutzte, aber er weiß, das meint Martin nicht.
"Wir sind Freiwild", sagt Martin, "das in Hartmanns Revier lebt. Der wird nie aufhören damit."
"Der ist auf Bewährung und macht dauernd Ärger", sagt Alex, "den bringen die bald wieder in's Gehege zurück."
"Du willst warten, weglaufen und hoffen, dass er dich nicht kriegt. Dass er einen anderen schnappt, einen, der langsamer ist."
"Sachte, sachte. Ich will die Sache nur nicht eskalieren lassen."
"Du hast Angst."
"Ich will nicht von Hartmann zermalmt werden, stimmt. Seh ich aus wie der Wrestler, bin ich Jackie Chan?"
"Letztens suche ich im Keller was und kehre das unterste nach oben, ganz tief graben im Gerümpel. Irgendwann, neben einem Kleingebirge aus Zeitungsstapeln, find ich einen ungefähr armlangen Gegenstand, in schwarzes Samt gehüllt. Mein Alter meint, den hat der Großvater aus Japan mitgebracht, nachdem der seine Fabrik geschlossen hat, kurz vor dem Weltenbrand. Ein Schwert. Merkwürdige Waffe. Ungefär so lang wie ein Katana, leicht gebogen, aber mit einer geschliffenen Spitze und Blutrinne, hat was orientalisches. Es teilt Papier, wenn man es darauf legt und ganz leicht an den Rändern nach unten zieht."
"Ich mag keine Waffen, mein Messer ist ein Werkzeug, nichts zum Verletzen."
"Gehört zu meinem Erbe, hab ich dem Alten gesagt. Der sagte ja, kann ich haben."
"Dein Vater wieder."
"Idiot, ja."
Alex wendet sich ab, geht in Tinos Zimmer und hört den anderen beim Diskutieren zu.

Da reden Martin und Alex, die ganze Zeit. Und wo ist Tino? Der ist mit im Zmmer, oder?

Er sieht nach oben. "Ich muss da hinterher", sagt er. "Das ist gefährlich nachts allein."
"Ich weiß nicht, ob die Frau das gut finden würde", sagt das Leopardenmädchen.
"Wohl kaum", sagt Tino, da ist Alex schon weg.
"Meinst du wirklich, es ist gefährlich, hier nachts allein unterwegs zu sein?"
"Mir ist noch nie was passiert und ich bin ständig unterwegs. Andererseits haben die sich letztens Martin geschnappt und ihm Kippen auf den Armen ausgedrückt und ihn zusammengetreten, mitten in der Weststadt."
"Und keiner hat geholfen?"

Auch hier weiß ich nicht, wer spricht. Das muss ich mir im Verlauf zusammenreimen. Das ist anstregend und lenkt nur vom Text ab.


"Der ist auf Bewährung und macht dauernd Ärger", sagt Alex, "den bringen die bald wieder in's Gehege zurück."

Was ist das?

Warum ziehen sich deine Freunde nichts ordentliches an?

Schriebt man Ordentliches jetzt groß oder klein? Hab ich jetzt fünf mal gegoogelt und vergess es immer. Jeder schreibt's doch einfach wie er Bock hat.

Irgendwann schaltet er auf Durchmarsch, da kommt doch nie was bei rum. Und fragt in einer Nachricht an Judith, ob sie morgen zum Konzert käme. Das sei eine tolle Möglichkeit, etwas Wichtiges zu verpassen, Lernen zum Beispiel. Sie sitzen noch eine Weile rum und quatschen, so 'ne halbe Stunde, bevor sie sich auf den Weg machen.

Die Stelle da, Der Übergang hat mich auch verwirrt, da muss ein neuer Absatz her oder so. Wer ist sie? fragt man soch da beim Lesen doch zwangsläufig. Judith und Alex? Alex und und Tino? DIe Nazis im Auto?

Was mir auch auffällt ist das du gerne die Perspektive in derselben Szenen wechseltst … ist, sag ich mal, untypisch. Wer schreibt eigentlich so außer du jetzt und vielleicht Berg noch? David Foster Wallace? Aber sogar der dann auch nur stellenweise, oder? Der hat nie so kleine Sprünge, glaub ich. POV Jump würde man jetzt auf Englisch kreischen bei so was.

"Komm, Mann!", ruft Alex und geht. Tino stakst den Weg über die Beine zurück, von kühlen Augen gemustert. Als er durch ist, geht ein Lachen durch die Gruppe. Muss ja nicht mich meinen, denkt Tino.
Durch den kleinen Skulpturen- und Baumwald. Alex hört Tino leise kichern,

Ist auch anstrengender für einen Leser, da in Tinos Kopf zu sein, dann in Alex' Kop sein … ich hab das auch nicht so gern. Ist einfach angenehmer, wenn man das Ganze aus einem festen Blickpunkt heraus betrachtet. Zumindest innerhalb eienr Szene, danach kann man ja wechseln. Die Stelle, die mir so gut gefallen hat, Judiths Geschichte, das sind auch alles konsequent Judiths Gedanken, die mir geschildert werden, das ist irgendwie einheitlich, so habe ich häufug das Gefühl, in den Gesprächen, da passiert immer so viel hier und da und überall … und das Gespräch geht ein bisschen verloren.


Bulimische Wesen mit schwarzen Base-Caps und schwarzen Kapu-Pullis hocken auf Bierkisten und übereinandergestapelten Euro-Paletten an die Wände der alten Schuhfabrik gelehnt

Alter, sagt wirklich irgendwer KapuPullis? Oder Base-Cap. Base-Cap? Schwör? Das ist ne fucking Mütze, Mann. Oder ne Cappy vielleicht, Oder eine Basball-Mütze. Scheiße, ich weiß es nicht genau, aber doch kein Base-Cap. Und Kapu-Pulli klingt auch so verdammt uncool irgendwie. Ich trage entweder Hoodies oder Kapuzzen-Pullis. Oder ich trag halt gern so Pullis mit Kapuzze un so …
Aber keine Kapu-Pullis!

"Da", sagt Alex und zeigt auf das kreisende Fahrzeug. "Fascho-Mobil auf Jagd." Tino nickt, so ein schmutzig-weißer Golf mit fünf Glatzen drin, der ist in der Weststadt bekannt. "Ulkig, wie sie da sitzen", sagt er. Ja, denkt Alex, sieht albern aus, aber keiner lacht.

Ulkig. ALso ich weiß, dass das ein normales deutsches Wort ist … aber in so einer Situation, da hat man eig. Angst ... weiß nicht. Das ist nicht das beste Beispiel dafür, was ich sagen will, aber damit du vestehst …
ALso … du überträgst dein Stil, dass ich häufig sehr gern hab, auch auf das Gelaber der Jungs … und da weiß nicht immer genau, wie ich das annehmen soll. Ich meine, vielleicht hatte ich zu viel mit Ausländern zu tun, als ich noch häufger auf der Straße häufiger unterwegs war und so … aber …
Ich gehe jede Wette ein, ich geh morgen ins Basketballtraining und sag irgendwann, ganz spontan: Hey, das sieht doch voll ulkig aus. Bei ganz egal was. Hässliche Jordans oder so. Und sofort wird mich einer schief angucken und sagen: Ulkig? Jede Wette!

Richtig gut fand ich dagegen die andere Sex-Szene, da wo sie meint, denk an was du willst, ich mir scheiß egal, fick mich einfach hart. Da mag ich den Stil auch voll und so. Ist mir Banane und so. Da passt es irgenwie voll. Also deine Sexszenen sind echt gut beschrieben, die Gedanke da und alles … cool


Sie gehen ein Stück die Straße hinunter und nehmen an der Ecke die Treppe in den Untergrund. Niemand außer ihnen ist da unterwegs so spät am Abend und früh in der Nacht. Eine kurze Phase zwischen den Zeiten, ihre Schritte klingen unnatürlich durch die leeren Hallen, die Rolltreppe abwärts scheint kein Ende zu nehmen.
"So ungefähr das Letzte, was wir brauchen, ist ein Haufen autonomer Steineschmeißer, die unsere Kleinstadtglatzen aufmischen, sich verpissen, und uns mit dem wütenden Wespennest allein lassen. Ich habe schon genug Ärger mit denen. Das Kid, dem ich einen verpasst habe, ist der Neffe von Hartmann. Der war vorgestern total besoffen in der Stadt unterwegs, mit zwei Renee-Girls und einer Axt und wollte wissen, wer seinen Jungen mit nem Baseballschläger überfallen und verprügelt hat."
"Wortlaut?"

Da weiß ich auch nicht, wer spicht.


Also insgesamt ist das schon eine coole Kurzgeschichte, steckt ziemlich viel drin, mag ich, viel Arbeit und Schweiß und einige coole Formulierungen, wie immer bei dir, manchmal ist noch ein Tick zu viel für mich, ich weiß übrigens auch nicht, was eine Stino-Jacke ist, muss man das wissen? Wo hängst du eigentlich ab?
Das Kapitel mit Judith ist echt voll super und poetisch auch meiner Meinung nach, ich hätte mir echt mehr Judith gewünscht, vielleicht solltest du mehr über Frauen schrieben, wirklich, das hat was.
Hab wie Heiner auch das Gefühl, man könnte da noch viel dran feilen, also wenn ich jetzt dein Lektor wär, würde ich den Ton im Gespräch ein bisschen runterregeln wollen, ich weiß nicht, ob wirklich alles immer ein kluger, ironischer Spruch sein muss (Prof und Papa zum Beispiel, Prof und Papa, Prof und Papa, gefällt mir iwie nicht, und dann gleich "Mecker vom Meister" … weiß nicht), kürzen würde ich auch ein bisschen, diese langen Beschreibungen … wie da zwanzig Punks auf Kisten rumliegen und saufen … weiß nicht. Spar dir die Beschreibung für ne weitere Sex-Szene auf, find ich, oder wie eine hübsche Frau im Wasser schwimmt und das Wasser rumperlt, oder auch was Abstoßendes oder was weiß ich …
Aber hat auf jeden Fall Spaß gemacht beim Lesen! Schön.


MfG,

JuJu

 
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Hallo Juju,

woah noch ein Kommentar, habe ich Geburtstag oder was? obwohl nach dem Fensteröffnen denkt man eher an Weihnachten, brrr, deutscher Winter kommt und ich habe wieder keine Auswanderungs-Perspektive. grrrr

Keine Ahnung was Smila-Sensoren und Kojoten-Königin sind

Fräulein Smillas Gespür für Schnee?
Sensoren für Unterscheidung immerkalter Substanz und Kojoten sind ein Leben lang mit ihren Partnern zusammen habe ich gehört. Hab gehört, ne? jedenfalls wäre das doch total schön, in dieser Welt der Trennungen und Lebens-Abschnittspartnern. Lebens-Ab-Schnitt! gestern floh jemand hierher, dessen Ex gerade aus der gemeinsamen Wohnung auszieht, er wollte nicht da sein, wenn sie ihre Sachen aus dem ehemaligen Heim schleppt ... ist doch Mist das alles.

Was für Kräuter? Meinst du jetzt Gras? Check ich nicht so ganz.

Kräuter(schnaps) - bei uns kann man das so sagen.

freut mich jedenfalls sehr, dass da was aufgeht! natürlich würde mir auch heftigste Kritik gar nichts ausmachen, aber ein klitzekleines Bisschen schön ist es doch, wenn mal was klappt, da bin ich massiv ehrlich, Dikka. schwör.

Da springst du plötzlich ins Präteritum .. ich weiß nicht, warum, das passt für mich nicht.

ich habe später auch Sachen ins Präsens gesetzt, die eigentlich in die Vergangenheit gemusst hätten, aber das geht vielleicht noch, weil das dialogisch ist. ist auch schon komisch.
hier ist das nun mal Vergangenheit, dafür hat man das Präeteritum, weiß nicht, was ich da sonst machen soll. ich kann ja nicht alles in der ewigen Gegenwart erzählen? und dass dann als Stilmittel für peterpanige Generationen ausgeben ... die Chronologie der Geschichte ist eh schon bisschen demoliert.
zum Zeitpunkt der Geschichte sind die so neunzehn zwanzig und den Punkerclub haben die Jahre vorher besprüht natürlich, mit zwanzig sprüht man ja ganz andere Sachen. deswegen Vergangenheit.

An die Jungs komme ich ein bisschen schlechter ran. Mir fiel es manchmal auch schwer, zu verfolgen, wer eigentlch was sagt bei den Dialogen, und ich finde, das ist immer etwas, das sollte man so klar wie nur irgendwie möglich machen.

verstehe ich immer nicht, was man damit eigentlich meint. "kommt da nicht ran." die Kamera ist doch stets dabei. ich will jetzt nicht sagen, dass ich meine Geschichte toll finde, aber die Darstellung gefällt mir schon, deswegen habe ich mich ja vor Zeiten in sie verliebt und mach das immer wieder.

Da reden Martin und Alex, die ganze Zeit. Und wo ist Tino? Der ist mit im Zmmer, oder?

weil der nichts sagt meinst du? vorher habe ich das gefunden:

wird, dass sie existiert, dass seine Mama eine Säuferin ist. "Was los ist, will ich wissen!"
"Nichts, Mama. Nur ein paar Idioten, die Streit wollen." Er nimmt sie am Arm und führt sie aus dem Zimmer, "komm, ich mach dir einen Tee."

Tino nimmt Mama mit und macht ihr Tee. wäre ja schön gewesen, wenn das so gelaufen wäre damals. wie auch immer. jedenfalls sollten Dialoge eigentlich so laufen bei mir: wenn zwei sprechen, dann normalerweise abwechselnd. das heißt ich schreibe einmal: "...", sagt Martin. / "...", sagt Tino. und wenn es dann ohne Inquits weitergeht, dann ist das fortlaufend in der Reihenfolge.
und ich kriege es einfach nicht hin, dass man dem nicht folgen können soll, verzweifelt bin ich fast, dass ich da so oft drüber sprechen muss! das ist doch so logisch, das ist eine einfache Folge. genau wie das man einem Gespräch nicht folgen kann, wenn zwei in derselben Line reden? ich gebe ja zu, dass es so übersichtlicher ist, aber, ich meine, das begegnet mir in der Literatur andauernd, und ich lese ja auch nicht nur so komisches Zeugs, also in dem Fall bin ich wohl änderungsresistent. kann man mir gerne immer wieder sagen, aber ich glaube nicht, dass ich da ohne neue Infos irgendwas ändern werde.

"Ich weiß nicht, ob die Frau das gut finden würde", sagt das Leopardenmädchen.
"Wohl kaum", sagt Tino, da ist Alex schon weg.
"Meinst du wirklich, es ist gefährlich, hier nachts allein unterwegs zu sein?"
"Mir ist noch nie was passiert und ich bin ständig unterwegs. Andererseits haben die sich letztens Martin geschnappt und ihm Kippen auf den Armen ausgedrückt und ihn zusammengetreten, mitten in der Weststadt."
"Und keiner hat geholfen?"

fortlaufend: Mädchen / Tino / Mädchen / Tino / Mädchen

Was ist das?

in's meinst du nicht wirklich, oder? in das ... Gehege ... also das sind ja Übertragungen und die ganze Zeit sind das so Metaphern aus dem Tierreich in dem Bereich, Revier, Freiwild, Gehege (denk ich als Knast) ... von daher konnte ich das voll nachvollziehen dass Andrea H. u.a. bemängelt die Darstellung des Ober-Faschos.
habe mich auch ein bisschen geärgert im Nachhinein, dass ich die Geschichte nicht heute habe spielen lassen, das wird ja immer ärger und wäre wirklich aktuell und auch sehr interessant zum Recherchieren und unters Volk zu bringen, mit der optischen Ähnlichkeit von Rechts- und Linksautonomen, und das richtig Schlimme sind ja clevere Nazis und nicht so Halbaffen wie hier, da steckt viel Wahres in ihrer Kritik, aber dem urdummen Konflikt gehört ja die Geschichte auch nicht allein, sondern ebenso sehr der Liebe, die natürlich vergebens ist, wie sich das gehört in unserer Zeit. und dass sie von größeren Dingen verdrängt wird, von weniger fragilen Dynamiken, die keinen Raum lassen für emotionales Zueinanderfinden. ... vllt bissken viel ...
es ist eine spezifische Situation Ende der Neunziger in der mecklenburgischen Provinz, da habe ich diese Mimikry nicht erlebt. und unsere Nasen waren echt brutal und dumm wie Brot. ich weiß, was sich dagegen einwenden lässt und ich weise das auch nicht von mir. da hätte ich mglw was besseres erfinden sollen.

Schriebt man Ordentliches jetzt groß oder klein

wenn ich feirefiz richtig verstandn habe gehört das Substantiviert und also groß. aber ich sehe auch immer wieder klein solche Wörter bei Verlagen wie Rowohlt oder Suhrkamp, dann denk ich mir, geht das auch anders. groß sieht immer so aufmerksamkeitsheischend aus. erzähl bloß keinem meine Begründung. solche Fragen stellst du mir auch immer nur, weil du mal wieder lachen willst über meine Antwort.

Die Stelle da, Der Übergang hat mich auch verwirrt, da muss ein neuer Absatz her oder so. Wer ist sie? fragt man soch da beim Lesen doch zwangsläufig. Judith und Alex? Alex und und Tino? DIe Nazis im Auto?

ja. da habe ich nachträglich Husch-Husch was eingebaut und rumgemurkst.

Was mir auch auffällt ist das du gerne die Perspektive in derselben Szenen wechseltst … ist, sag ich mal, untypisch. Wer schreibt eigentlich so außer du jetzt und vielleicht Berg noch? David Foster Wallace?

aha. weiß nicht, ich achte auf so was eigentlich nicht. wäre vllt besser für meine Geschichten wenn ichs täte. abrrr ich habe was gegen Analyse von Literatur, ich habe sie einfach zu gern dafür.

Ist auch anstrengender für einen Leser, da in Tinos Kopf zu sein, dann in Alex' Kop sein … ich hab das auch nicht so gern. Ist einfach angenehmer, wenn man das Ganze aus einem festen Blickpunkt heraus betrachtet.

interessant.

Alter, sagt wirklich irgendwer KapuPullis? Oder Base-Cap. Base-Cap? Schwör? Das ist ne fucking Mütze, Mann.

Alter, Mann! :D
nee, eigentlich nicht. aber Hoodies oder Kapuzzen-Pullis, echt jetzt? haha, fashion-victim, das ist ja noch schlimmer! bei Pullis haste mich nicht überzeugt, aber in Sachen Cap, ja klar, das ist reingerutscht, sehe ich eig wie du. es folgt der Autoritäten-Beweis: ;)
[ame]http://www.youtube.com/watch?v=JHiz2JJzsyU[/ame]

Ulkig. ALso ich weiß, dass das ein normales deutsches Wort ist

also ich weiß nicht, ob das so normal noch ist. solche Sachen, die du bemängelst wegen schrägem Sprachstil, Papa und Prof, Mecker von Meister, Stino-Jacke, ulkig, das sagt alles die Königin meiner Herzen dieser Geschichte oder es wird über ihn gesagt, Tino da King, der auffällt, weil er nicht so zwanghaft auffallen will wie die anderen seiner Umgebung, der irgendwie die Stimme der Vernunft ist für mich, leider (von außen) langweilig und daher allein in dieser Umgebung, aber in einer besseren Welt hätte er eine tolle Freundin, bin ich sicher. der sagt halt auch so unkoole Sachen, was weiß ich weswegen, gefällt ihm wahrscheinlich, manche sind einfach bisschen kauzig, oder? Menschen sind halt verschieden, aber er ist der beste hier für mich.

Sexszenen so in der Form habe ich eigentlich nicht so richtig versucht bisher glaube ich. weil ich da nicht drüber schreiben wollte weil alle drüber schreiben und weil ich ja auch keine ahnung habe von so was, aber jetzt habe ich einen großen schritt gemacht und ... ja, ist gut, freut mich.
macht auch Spaß.
wie Pynchon sagt: echter Sex findet auf dem Papier statt! oder DFW nannte sein Stift wo er zehn Stunden am Stück mit schrieb: Orgasmus-Stift! Sex schreiben statt Sex machen! wenn man das versteht, ist man wahrscheinlich seit zehn Jahren Single und dann kann man nur hoffen für denjenigen, dass der ein bisschen Talent zum Schreiben hat.

Da weiß ich auch nicht, wer spicht.

abwechselnd Tino und Alex nehme ich an. bisschen kucken ist dem Leser zuzumuten, immer noch.

also wenn ich jetzt dein Lektor wär, würde ich den Ton im Gespräch ein bisschen runterregeln wollen, ich weiß nicht, ob wirklich alles immer ein kluger, ironischer Spruch sein muss

wunde Stelle - bin da auf deiner Seite gegen den Aspekt meiner Schreibe, aber ich schreibe nun mal so, das Zeug diffundiert in mich und ich spucke das wieder aus, wenn ich mal Zeit zum Schreiben habe. das ist ja auch kultivierter Gestaltungswille, ist wohl artifiziell, viele kleine Schreiber-Egos, die alle ganz laut schreien kann man drin sehen. vllt geht's mal anders. aber na ja. ist ja nur Schreiben.

kürzen würde ich auch ein bisschen,

das sagst du einfach so? hier könnte man noch viel machen, ja. weiß nicht, mal sehen. ich bin ja auch nicht unbedingt zufrieden mit meinen letzten Überarbeitungen...

Danke fürs Feedback und Grüße,
Kubus

 
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"Ich habe noch fünf Minuten", sagt sie. Blöder Satz, das weiß er doch
witzig.

Bis morgen, will sie sagen, denkt es aber nur, gegen diese Dunkelheit will sie nicht anreden, die saugt jedes Wort auf.
schön.

Im Soundtrack seines Lebens würde jetzt Fever Ray laufen, If I had a heart, wenn Gott wirklich ein DJ wäre.
Lass doch das mit Gott weg. Das ist eine Idee zu viel, finde ich.

Was auch immer. Er macht ein Foto, verstaut und verbannt all seine Sehnsucht in dieses Bild und schaltet die Kamera aus.
Also mir gefällt der gesamte erste Absatz sehr gut.

Im Wohnzimmer sind die gerade mit freundschaftlichem Pogen beschäftigt – da wird erst mal gekuckt, ob der andere bereit ist, bevor man sich anspringt
süß.

Als er die Flasche absetzt, ist ihm immer noch keine gute Antwort eingefallen, oder doch, er rülpst wie ein Künstler.
:-)

Ihr seid nicht kompatibel, das ist wie Neandertaler und Homo Sapiens.
Der Vergleich ist nicht so toll. Oder doch? Also er ist der Neandertaler? Naja, vielleicht ist es doch gut, weil so im Dialog zwischen Freunden. Doch, ist gut, hab mich entschieden.

"In meinen Träumen ist sie anders", sagt Alex.
"Anders?"
"Ja. Irgendwie hässlicher."
"Hm." Tino fallen ein paar Sätze ein, er sagt keinen davon. Von der Straße hinter der Kleingartenanlage hören sie ein frühes Auto, das den Buchholz hochfährt.
"Okay", sagt Tino, er fühlt sich wie ein Chirurg am offenen Herzen, der viel zu große Hände hat. "Was macht sie?"
Das ist wirklich klasse, Cube. Ich schreib jetzt mal nicht mehr so viel mit, will jetzt einfach mal weiterlesen. Gefällt mir sehr gut.

Alex dreht sich um, sieht einen Hundertkilomann am Zaun rütteln, wie ein durchgedrehter Silberrücken, der in den Zoo einbrechen will. Den kennt er, Hartmann, der alte Knastnazi
Gutes Bild, Alter!

Letztens suche ich im Keller was und kehre das unterste nach oben, ganz tief graben im Gerümpel. Irgendwann, neben einem Kleingebirge aus Zeitungsstapeln, find ich einen ungefähr armlangen Gegenstand, in schwarzes Samt gehüllt.
Nee, so redet der nicht wirklich, oder?

Danach auf dem Rückweg, kommt ein Eichhörnchen über die Straße geflitzt und das läuft Judiths Bein hinauf, die gerade stehen blieb, um etwas genauer zu betrachten. Kurz vor der Hüfte stellt es seinen Irrtum fest und sieht zu, dass es Land gewinnt.
:thumbsup:

Bis sich in den endlosen Stunden des Mathe-Paukens, mit denen sie ihn durch die Nachprüfung kriegen wollte, der Eindruck aufdrängte, sein Schweigen hat mit Geheimnisschützen eher weniger zu tun.
:lol:

Beim letzten Mal lief der Film zwanzig Minuten, bis sie sich wieder zwischen den Laken wälzten, er musste die ganze Zeit an Judith denken und bekam das Gefühl, beide zu betrügen.
Er sagte ihr das, aber sie meinte, das sei ihr egal, er solle sie hart ficken, und sich vorstellen, wen oder was er will. Judith, Gummipuppe, Tino, Froschkönig, das sei ihr völlig Banane. Wütend über ihre Gleichgültigkeit und aufgegeilt von ihrer Sex-Performance, hat er's getan, wollte ihr Schmerzen zufügen, und sie schrie nur nach mehr, immer mehr - und als sie danach aneinandergeklammert da lagen, Rücken und Hals zerbissen und zerkratzt, wagten sie kaum zu atmen, pressten sich aneinander, als wollten sie ein Wesen werden, hielten sich fest, als könnten sie sich halten.
Auch stark!

Ich mach später weiter.

Jetzt:

Bulimische Wesen mit schwarzen Caps unter schwarzen Kapuzen hocken auf Bierkisten und übereinandergestapelten Euro-Paletten an die Wände der alten Schuhfabrik gelehnt
Hier finde ich den Einstieg schwer. Weniger wäre mehr. Ich sehe das nicht direkt vor mir, weil es einfach zu viele Infos sind für mich sind.
Bulimische Wesen mit schwarzen Caps hocken auf Bierkisten, lehnen sich an die Wände der Schuhfabrik. Das würde reichen, finde ich.

bedeutet sein Lächeln, und das gleichzeitige Zupfen an Tinos Jacke, dass es trotzdem wichtig wäre, los zu kommen.
Jetzt hab ich mal ne Frage, ich hab da nämlich immer so meine Schwierigkeiten, wenn es um zusammen oder getrennt geht. warum schreibt man das los zu kommen und nicht loszukommen? Oder bist du dir da auch nicht immer sicher? Ist es nicht genauso wie aufzuhören? loszukommen, aufzuhören, einzusteigen ... Vielleicht kannst du mir das erklären?

Willkommen in der Alten Mühle. Hier gibt's Bier und Schnaps, große Reden kleiner Leute, klare Hierarchien und eindeutige Ziele: Unsere Freund-Feind-Kennung ist noch nicht verwischt und aufgeweicht vom Konsensgewäsch. Wer reinen Herzens und Blutes ist, der verbrüdere sich mit Kumpanen und Vaterland, stimmt ein in den großen Gesang der Bruderschaft, auf dass uns die glorreichen Lieder zu glorreichen Siegen über minderwertes Blut und verschlagene Rassen führen. Nein, nein, wir haben doch gar nichts gegen die, sie sollen nur in ihre eigenen Länder zurück. Sonst wird's mal wieder Zeit für Happy Holocaust.
Also die ganze Einführung in die Alte Mühle, das ist schon sprachlich sehr gut gemacht, finde ich. Das ist nicht langweilig, es ist plötzlich anders und trotzdem geht man mit. Respekt, Kubus. Sprachlich ist die Geschichte insgesamt sehr gut.

weißt du was, ich finde die Geschichte sehr gut. Dass sie zerfastert, wie Andrea sagt, das stimmt schon, aber es fühlt sich so echt an. und ob es die Aufgabe von Literatur ist, aus dem Chaos der Welt etwas Übersichtlicheres zu machen, das weiß ich ehrlich gesagt nicht. Ich hab mich damit nicht beschäftigt. Sicher ist es angenehmer für den Leser, wenn am Ende ein klares bild bleibt. Aber die Welt in ihrem Chaos so gut zu beschreiben, das muss man erstmal hinbekommen.

Mich hast du überzeugt mit deinen Worten. Du hast wirklich sehr viel Talent.

Lollek

 
Zuletzt bearbeitet:

Lollek,

Lass doch das mit Gott weg. Das ist eine Idee zu viel, finde ich.

ja, okay. mach ich.

Nee, so redet der nicht wirklich, oder?

nee, so redet niemand. in Wirklichkeit nicht und für künstliche Koolness holpert's zu sehr. da ist wieder die Crux. ich muss da was machen, wenn ich kann.
das habe ich mir vor zwei Jahren auch schon vorgenommen beim Marsipulami.

Bulimische Wesen mit schwarzen Caps hocken auf Bierkisten, lehnen sich an die Wände der Schuhfabrik. Das würde reichen, finde ich.

den habe ich doch schon reduziert. irgendwie muss ja rauskommen dass die Ganzkörperschwarz sind, kann man ja nicht als allgemein bekannt voraussetzen. aber ich mache da noch was. von Jujus Komm sind auch noch Jobs übrig, ich notier mir das gleich, damit es demnächst auch geschieht.

Jetzt hab ich mal ne Frage, ich hab da nämlich immer so meine Schwierigkeiten, wenn es um zusammen oder getrennt geht. warum schreibt man das los zu kommen und nicht loszukommen? Oder bist du dir da auch nicht immer sicher? Ist es nicht genauso wie aufzuhören? loszukommen, aufzuhören, einzusteigen ... Vielleicht kannst du mir das erklären?

ich bin mir da auch nicht sicher. ich speichere Bilder von Wörtern und gehe häufig nach dem Sprachgefühl. zB wann es indem heißt oder in dem, da sehe ich einen deutlichen Bedeutungsunterschied. was ich mir bei "los zu kommen" gedacht hab aber, weiß der Fuchs. das sieht eher falsch aus jetzt gerade.

aber das ist wirklich schwierig, als der Lektor sein Nachschlagewerk bestellte, meinte ich noch, du musst das doch alles kennen und wissen, aber er sagte auch, getrennt und zusammen, groß / klein manchmal, das ist einfach kompliziert. da kuckt man dann nach.
ich finds jetzt gerade nicht im Printmedium. google findet für beide Schreibweisen Beispiele. da könnte man dann die Quellen vergleichen. online Duden-Empfehlung ist loszukommen. würd ich das nehmen.

Dass sie zerfastert, wie Andrea sagt, das stimmt schon, aber es fühlt sich so echt an.

Großes Geschenk! ich habe manchmal so ein Gefühl von kreativem Furor während des Schreibens und wenn ich tief im Medium stecke ist das auch alles echt für mich. das ist so eine grundlegende Schreibmotivation mttlw, dieses Gefühl zu kriegen, aber das gibt's nur einmal jeweils und da steckt auch Arbeit hinter.
freut mich natürlich sehr wenn das beim Leser ankommt. du schreibst in der Empfehlung sinngemäß, dass die Geschichte auch empfehlenswert sei, weil sie zeigt, dass es lohnt die eigene Stimme zu entwickeln, sich dafür einzusetzen. das fand ich schön, weil das auch meine (spätere) innere Antwort auf die Frage von Andrea H. war, welche Aufgabe Literatur habe.

Danke für die Empfehlung, das ist schon besonders toll, von dir eine bekommen zu haben. Und es freut mich. Befinde mich jetzt im Zwiespalt, ich habe nämlich das Gefühl, auf dieser Seite nichts Produktives mehr beitragen zu können, sondern immer mehr ins Dickicht des Streits um Worte zu geraten, was ab einem gewissen Punkt für beide Seiten nichts mehr bringt. Plan war stiller und heimlicher Rückzug und Suche nach einem neuen Heim. Und jetzt krieg ich so viel positives Feedback. Kruzitürken, warum muss die Welt so kompliziert sein! :D
na, auf jeden Fall versuche ich noch paar konstruktive Kommentare anzubringen, um das Komm-Konto auszugleichen, das zumindest!

Danke für deinen Kuschel-Komm, voll schön und süß!

Kubus

 

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