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Chrissy (4): Warum Hasen nicht in den Himmel kommen
Papa sagt: „Wir bauen. Ihr Mädels bekommt euer eigenes Zimmer und es wird ein Badezimmer geben.“
„So eins wie bei Weitoma?“
Ich bin in den Ferien bei Oma in Bayern gewesen. Sie hat ein Bad … mit einer Brause, damit kann man sich die Haare abspülen. Sie braucht keinen Wurstkessel, um Wasser warm zu machen, es kommt aus der Wand.
„Ja, genau so eins“, bestätigt Papa.
„O-maaaa!“ Ich stürme die Treppe hoch. Oma Anna steht am Küchentisch und bügelt. Über ihrer Bettwäsche liegt ein Hemd von Opa. Sie stellt das Bügeleisen zurück auf den Holzofen und schaut mich an. „Warum schreist du denn so?“
„Oma, wir bauen!“
„Kind, dass weiß ich doch, dein Papa hat das Haus vom Maier Sepp gekauft, als der Rohbau fertig war, ist er bei einem Verkehrsunfall gestorben. Dein Papa baut jetzt weiter.“ Oma schüttelt den Kopf, „das ist nicht gut …“
„Was ist nicht gut?“
„Ach nichts, Kind.“
Mir fällt ein, dass ich dann nicht mehr hier im Haus wohne. „Oma du brauchst nicht traurig sein, ich komme dich jeden Tag besuchen.“
Sie schaut an mir vorbei, ihre Augen bewegen sich kein bisschen, nur die Lippen zittern.
„Es ist doch nicht weit weg und immer, wenn die Schule aus ist, komme ich zu dir.“ Ich streichle ihr über die Hand. Oma dreht sich um und nimmt das Bügeleisen von der Herdplatte.
„Es wird schon gut werden, meine Kleine.“ Sie presst das Eisen auf Opas Hemd.
Jutta muss es auch wissen.
Ich laufe über die Straße, da höre ich Frau Precht rufen: „Chrissy, Chrissy kannst du für mich einkaufen?“ Stumm schüttle ich den Kopf.
„Chrissy, bitte, nur schnell zum Bäcker, ich brauche Brot!“ Ich hebe den Kopf, sehe sie am Fenster, sie lächelt und winkt mir zu.
„Mein Mann ist mit Benno beim Arzt!“
„Ich darf nicht mehr für Sie einkaufen“, rufe ich nach oben.
„Wer hat denn das gesagt? Komm rauf, dass will ich jetzt wissen!“
Ich trete von einem Bein auf das andere, beiße mir auf die Lippen. Sie hat bestimmt Hunger …
Nur noch dieses eine Mal. Ich drücke die Türklinke hinunter und steige im Hausgang die dunkle Treppe hoch. Es riecht nach Eisen und Feuer, das Hämmern aus der Schmiede fehlt.
Der Geruch im Wohnzimmer ist anders: Wie, wenn Mama kocht und Anna neue Windeln bekommt.
„Hallo Chrissy, schön dass du doch gekommen bist.“
Sie steht mit ihrem Rollstuhl noch am Fenster. „Guten Tag Frau Precht“, ich weiß nicht, wo ich hinschauen soll.
„Warum darfst du nicht mehr für mich einkaufen?“
„Weil Mama und Papa es verboten haben.“
„Was war denn, hat Benno dir etwas getan?“
Ich schüttle den Kopf, „Benno nicht!“, flüstere ich.
„Du kannst es mir doch sagen, was ist los?“
Ich stehe stumm neben der Tür, drücke mich fest gegen die Wand. Wie die kleinen Häschen, die sich in die Ecke drücken, wenn man sie anfassen will. Ich denke an Papa.
Er war am Abend beim Schmied gewesen. Ich lag schon im Bett und hörte, wie Mama schrie: „Ihr Männer habt das miteinander geregelt, das sehe ich und riechen kann ich es auch. Unsere Tochter hat also eine große Fantasie und darf sein Haus nicht mehr betreten.“ Du bist … ich hörte wie ein Stuhl umfiel und presste mein Kissen über den Kopf …
Beim Frühstück schreit Mama uns an. „Wehe ich sehe dich oder euch noch einmal am Haus des Schmieds, dann setzt es was …“
Frau Precht schaut nach unten, verschränkt die Finger wie beim Beten, sie hebt die Hände, „bitte Kind, sag es mir.“
In meinem Kopf ist es laut, Mama, Papa, Frau Precht, der Schmied …-…alle wollen etwas von mir. Ich halte die Luft an, dann erzähle ich ihr ganz schnell von der dunklen Ecke. Von den Fingern des Schmieds, dem Schmerz.
Ihre Hände bewegen sich, greifen nach beiden Seiten. Tränen laufen über ihr Gesicht.
Ich will ihr sagen: Bitte nicht traurig sein, nicht Weinen, es tut nicht mehr weh.
Sie rollt auf mich zu.
Kreischt: „Du kleines verlogenes Miststück, verschwinde!“
Es ist wie in der Schule: Hand ausstrecken, Schmerz, Kopf nach unten und laufen.
Ich renne in meinem Kopf ist alles durcheinander, warum sind die Erwachsenen so böse.
Vor dem Hasenstall bleibe ich stehen, Opa ist da.
Er dreht sich zu mir, legt einen leeren Sack über die Schulter und nimmt meine Hand. „Komm, Chrissy, ich habe keinen Löwenzahn mehr, wir holen Hasenfutter.“
Abends im Bett erzähle ich meinen Schatten von Frau Precht und das ich nie erwachsen werden will. Stumm hören sie zu. Gehen auf und ab, bis ich einschlafe.
Mama erzähle ich es nicht, sie wird sonst böse.
Zwei Tage später dürfen wir mit Mama auf den Bau kommen. „Es wird euch gefallen“, unser neuer Nachbar hat auch Kinder, elf Stück sogar.“
Marie und ich staunen, gleichzeitig wiederholen wir: „elf Kinder!“
„Mädchen oder Jungs?“ Will ich wissen.
„Beides!“ sagt Mama.“
Es klopft, Onkel Alex und Opa kommen herein. „Können wir?“
Papa und Opa steigen in das Auto von Onkel Alex. Nur er hat einen Führerschein.
„So Mädels, es ist nicht weit, wir laufen.“ Mama schiebt den Kinderwagen. Marie und ich nehmen Lotte an die Hand. Bei der ersten, niederen Mauer, reißt sich Lotte los, um darauf zu balancieren. Sie streckt ihre dünnen Ärmchen aus und wie ein Seiltänzer setzt sie einen Fuß vor den anderen und singt dabei: „Maikäfer flieg. Der Vater ist im Krieg. Die Mutter ist in Pommernland. Pommernland ist abgebrannt. Maikäfer flieg.“ Am Ende der Mauer hüpft sie herunter und wir nehmen sie an die Hand. Ein paar Häuser weiter, ist wieder eine kleine Mauer, Lotte reißt sich los. Maikäfer flieg dein Vater ist im Krieg … Mama dreht sich um „Lotte du gehst sofort von der Mauer.“
„Warum?“
„Weil man auf den Mauern fremder Leute nicht herumturnt.“
Lotte zieht einen Schmollmund, „ich will nicht mehr weiterlaufen!“
„Noch vier Häuser, schau, da vorne, wo Onkel Alex Auto steht, da ist Papa!“
Ich renne los, da ist es das Haus mit den vielen Kindern. Auf den Stufen vor der Haustür sitzen zwei blonde Mädchen. Sie schauen den Männern auf der Baustelle zu. Da ist Papa mit einem Schubkarren „Hallo Papa!“ Ich winke.
Jetzt drehen sich die Mädchen zu mir um. Mist, die sind älter als ich.
Er stellt die Schubkarre ab und kommt zu uns. Papa schiebt den Kinderwagen den Hang hinauf vor den Rohbau. Anna schläft. Mama schaut mit uns den unteren Stock an. Es gibt noch keine Türen und keine Glasfenster. Ich kann nirgends eine Treppe entdecken. „Mama, wo ist denn hier der Keller? Ich finde keine Treppe?“
„Das hier ist der Keller!“ Mama lacht,
Ich lache auch, ein Keller, der nicht unter der Erde ist und große Fenster hat.
Ein Keller, der vier Jahre später zu meinem größten Albtraum werden sollte.
„Ich gehe raus, vielleicht sind jetzt mehr Nachbarskinder draußen?“
Marie und Lotte bleiben bei Mama.
Nur die beiden Mädchen sind da und schauen Onkel Alex und Opa zu. Sie laufen über zwei Dielen in den oberen Stock des Hauses und tragen Bretter auf den Schultern.
Ein Mädchen ist aufgestanden und kommt an den Gartenzaun. „Hallo, ist das euer Papa, der ist ganz schön mutig“, sie deutet mit dem Zeigefinger auf Onkel Alex. „Da geht es weit runter!“
Ich gehe zu ihr an den Zaun.
„Das ist mein Onkel, mein Papa ist das mit der Schubkarre.“
Das zweite Mädchen kommt zu uns, „wie heißt du?“
„Christiane!“
„Chrissy, hol mal für mich und Onkel Alex ein Bier aus dem Keller und für Opa eine Limo!“
„Ich komme gleich wieder.“
Die beiden Mädchen setzen sich zurück auf die Stufen und ich laufe in den Keller. Die Kisten mit Bier und Limo habe ich bei meiner Treppensuche gesehen.
Papa und Onkel Alex machen eine Pause. Sie sitzen neben Mama und meinen Schwestern im Gras. Ich bringe ihnen das Bier. Mit der Limo in der Hand suche ich Opa. Er läuft über die Dielen und zieht auf der Schulter Bretter hinter sich her. Sie rutschen über die Dielen und hängen in der Luft. Opa lässt sie nicht los. Ich höre sein H-i-l-f-eee er fällt mit den Brettern …
Ich schreie noch immer, als Onkel Alex mich auf den Arm nimmt.
Mama und Papa sind zu Opa gerannt. Mama weint.
„Du passt auf deine kleinen Schwestern auf, ich muß den Krankenwagen rufen.“
Er setzt sich ins Auto und fährt zur einzigen Telefonzelle im Dorf.
Anna ist aufgewacht und brüllt, meine beiden kleinen Schwestern stehen neben dem Kinderwagen und weinen. Ich fahre den Kinderwagen hin und her, vor und zurück. Höre Mama schreien.
Vor und zurück …
Onkel Alex kommt, er schiebt den Kinderwagen den Hang hinunter. „Chrissy ihr geht nach Hause du nimmst Marie und Lotte auch mit.“
Ich habe Angst, diesen Weg bin ich noch nie alleine gelaufen …
Drei Tage später wird Opa beerdigt. In einem offenen Sarg liegt er in der Friedhofskapelle. Sein Kopf ist ganz weiß, mit viel Verbandszeug eingewickelt. Viele Menschen wollen an den Sarg. Zu meinem armen Opa der doch am liebsten alleine war. Ich würde gerne seine Hand nehmen und sie halten, wie er meine immer gehalten hat.
Der Pfarrer kommt und erzählt von Opa. Vom Krieg in Ungarn, wie er seine Familie vor den russischen Soldaten beschützt hat. Wie er 1948 die Heimat, den Bauernhof, seinen heiß geliebten Weinberg verlassen musste, weil er keinen ungarischen Namen annehmen wollte. Als Flüchtling ging er in die russische Besatzungszone nach Sachsen in die Nähe von Chemnitz. Kam dort mit seiner Familie in ein Lager. Bis ihm eine Wohnung in Ottendorf zugewiesen wurde. Im Rahmen der Familienzusammenführung wurde er hier im Dorf ansässig. Er war ein fleißiger Mann und ein fürsorglicher Vater. Er war der jüngste von vier Brüdern und jetzt hat ihn unser Herr im Himmel …
Der Herr Pfarrer wußte soviel über meinen Opa, doch von seinen Tieren hat er nichts erzählt.
Vielleicht waren Opas Hasen jetzt mit ihm zusammen im Himmel … Nein … Das geht nicht, sie werden zerkaut und hinuntergeschluckt.
Der Sarg wurde geschlossen.