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Jorska
Natürlich gibt es in meiner Heimatstadt dieses Kaffeehaus nicht, zumindest nicht an dieser Hausecke, zumindest nicht in diesem Viertel. Und natürlich biegt auch keine Straßenbahn um diese Ecke. Denkbar wäre es, doch allein die Topografie, dieser zum Meer hin abfallende Hügel, lässt mich an andere Städte denken, an Städte, die sich an küstennahe Berge ducken, aneinander gedrängte Häuserreihen, ein Häusermeer gewissermaßen, als wäre die Brandung das Steilufer hoch gefegt und zu Stein erstarrt. An Lissabon fühle ich mich erinnert und an Chañaral und an Macondo … als würde das irgendeinen Unterschied machen, so groß wie unsere Welt ist, diese so wunderbare und so grausame Welt mit ihren vielen Städten und ihren vielen Menschen. Aber immer wieder träume ich von diesem Kaffeehaus in dieser Stadt, die nicht mehr die meine ist und deren Namen ich nie wieder aussprechen werde.
Jedenfalls spielten wir Billard in diesem Café, Jorska und ich, in einem seltsam ockerfarbenen Licht, einem goldenen … fast möchte ich sagen, in einem güldenen Licht, das aus kristallenen Lustern fiel. Die Fenster staubig, die Wände vergilbt und rauchig, sienabraun, in den Ecken fast dunkelbraun, fast pompejanischrot, so rot wie die Plüschbänke, und unter all dem ein in Jahrzehnten gealterter, getretener, pechschwarzer Parkettboden, ölig glänzend und unter meinen Chucks knarrend, als wollte er Geschichten von früher erzählen, von irgendwann. Alles, wirklich alles hier, wirkte alt und schäbig, selbst der Kellner mit seinen eisgrauen Haaren.
Wir spielten Karambol mit einer weißen und zwei roten Kugeln. Jorska, ganz Kavalier, ließ mich beginnen, doch schon den dritten Stoß vermasselte ich und rechtfertigte das mit einer Haarsträhne, die mir ins Gesicht gefallen sei, nein, mit dem Zigarettenrauch, der sich in meine Augen gekräuselt hatte. Jorska nahm mich in die Arme und küsste mich. - Du solltest mal wieder zum Friseur, mein Schatz, meinte er, und außerdem rauchst du zu viel.
Aber dann war’s vorbei mit Kavaliersein. Von seinem ersten Stoß an kam ich kaum noch an den Tisch, nahezu fehlerlos spielte Jorska und zauberte ein imaginäres Liniengewirr auf den Filz. Währenddessen sprach er wieder von seinen beiden Töchtern, die er so lange nicht mehr gesehen hatte und die er so sehr vermisste, mit seiner wunderbar tiefen Stimme sprach er, in diesem Singsang, in diesem Idiom, das ich so mochte, das ich liebte, seit ich als Kind einen Sommer bei meiner Patentante in Chișinău verbracht hatte, dieser von mir vergötterten Grande Dame, dieser vollkommen meschuggenen Alten, der verrückten Modeschöpferin mit ihrem betörenden Frauenduft, einem Duft, der mir schon als achtjährigem Mädchen eine Ahnung vermittelt hatte von meiner Zukunft in dieser großartigen Welt.
Jorskas Töchter, Anyana und Carmen, sechs und neun Jahre alt, lebten bei der Oma in Tiraspol, das wusste ich. Sie seien ihrer verstorbenen Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, zum Glück, sagte er, und soweit er das überhaupt noch beurteilen könne aus tausend Kilometern Entfernung. Jedesmal, wenn Jorska sich über den Tisch beugte und die Kugeln längs des Queues anvisierte, wurde seine Stimme leiser und seine Stirn legte sich in Falten und wenn sich der Hemdärmel über das linke Handgelenk schob, zeigte sich sein bescheuerter Glücksbringer, dieses Bändchen aus geflochtenem Elefantenhaar. Ob es denn in Moldawien überhaupt Elefanten gäbe, hatte ich ihn nicht erst einmal gefragt. Soviel ich weiß, schon in unserer ersten gemeinsamen Nacht, damals, als ich ihn als klitschnasses, frierendes Bündel Mensch in dem Park, dessen Namen ich nie mehr nennen werde, aufgelesen hatte, in diesem gottverfluchten Park, wo er unter einer Platane gekauert war, leise singend und mit einem Taschenbuch von Neil Stevenson über dem Kopf, Snow Crash in der Originalfassung. Er könne es ohnehin beinahe auswendig, sagte er, so oft habe er es auf seiner Odyssee gelesen, und als er mich dabei spitzbübisch angrinste und seine dunklen Zigeuneraugen Blitze schleuderten, spürte ich zum ersten Mal dieses Ziehen im Schoß und meine Beine zitterten. In jener Sommernacht vor eineinhalb Jahren, die so regnerisch und stürmisch war, dass Jorska lachend meinte, er sei wohl in Patagonien gestrandet und nicht in … in dieser elendigen Stadt, deren Namen ich nicht mehr weiß. In dieser Stadt, in der ich siebenundzwanzig Jahre glücklich lebte, und deren Namen ich nicht mehr weiß, deren Namen ich nie wieder aussprechen werde.
Als Jorska ein letzter Zweibander zum Sieg fehlte und er sich konzentriert über den Tisch beugte, trat ich hinter ihn und ließ mich mit dem Oberkörper auf seinen sinken, ganz behutsam, ganz leicht nur. Ich rieb meine Brüste an seinem Rücken und ich spürte, dass er das spürte. Dann glitt ich mit den Händen unter sein Hemd, fuhr ihm mit den Fingerspitzen über Bauch und Brust, küsste ihn hinters Ohr und schließlich einigten wir uns auf ein Remis.
Mein Gott, wie ich ihn liebte.
Als wir das Café verließen, war es stockdunkle Nacht, soweit man eine Nacht in der Stadt überhaupt als stockdunkel bezeichnen kann und wenn überdies der Vollmond am Himmel steht. Wir schlenderten Hand in Hand durch den Park, blieben hin und wieder stehen, um uns zu küssen, um uns in die Augen zu blicken und uns anzulächeln, und über das Singen und Grölen, das undeutlich zu hören war, zerbrachen wir uns nicht weiter den Kopf. Wir steckten in einem Kokon reinsten Glücks.
Und auch der Schlag zerbrach meinen Kopf nicht, nein, er ließ mich nicht einmal ohnmächtig werden. Sie rissen mich von Jorska weg und warfen mich zu Boden, schimpften mich Hure und Drecksfotze, stopften mir meinen Seidenschal in den Rachen und fesselten mich an eine Parkbank. Sie waren zu siebt und einer von ihnen hielt meinen Kopf fest und zwang mich, zuzusehen. Zuerst verschlossen sie Jorskas Mund mit Klebeband, wickelten es mehrmals um seinen Kopf und sprühten ihm aus einer Lackdose Farbe in die Augen. Dann brachen sie ihm die Finger, alle zehn, einen nach dem anderen, und noch heute meine ich, Jorskas verzweifeltes, rasendes Knurren zu hören, und dann ... oh Gott, dann stachen sie ihm mit einer Glasscherbe ein Auge aus und ich, ich konnte meine Blicke nicht von Jorska lassen, weil ich wusste, dass ich ihn jetzt zum letzten Mal lebendig sehe. Ich konnte nicht einmal wegschauen, als sie ihn kopfüber an den Stamm einer Linde hängten, als sie Gerüstnägel durch seine Fußgelenke trieben … ja, sie nagelten ihn an, als wäre er ein lebloses Stück Holz, und ja … da lebte mein Jorska noch.
Oh Gott, da lebte mein Jorska noch ...
Mehrere Stunden noch habe er gelebt, hieß es später. Doch ich war irgendwann ohnmächtig geworden. Oder gestorben, ich weiß es nicht, aber wo ist da der Unterschied? Denn Jorskas stummes Schreien hätte mich noch auf der anderen Seite der Erdkugel erreicht, selbst auf einem fernen Planeten, nicht einmal vom Lachen dieser Männer wurde sein stummes Schreien übertönt, sein ersticktes Wimmern, sein Stöhnen, das mir das Herz in Stücke riss … ich hörte sein lautloses Flehen, ihm zu helfen, ich hörte jedes einzelne Wort. Oh Gott, Lucie, hilf mir, hilf mir doch … nein, lauf weg, Lucie, lauf um Himmels Willen weg … oh Gott …
Oh Gott, was haben sie mit dir getan, Jorska? Wo bist du, mein Jorska? Wo sind deine zärtlichen Hände, deine Augen? Wo ist dein Lächeln jetzt?
Verrückte Drogensüchtige seien das gewesen, stand in den nächsten Tagen in den Zeitungen, und dass Jorskas Brust und Rücken und Gesicht mit hineingekratzten, hineingeritzten, hineingeschnittenen, hineingebrannten Schimpfwörtern und Hakenkreuzen übersät gewesen seien, und dass die Spurensicherung und die Gerichtsmediziner, schrieben sie, mehrere Stunden am Tatort verbracht und sich immer wieder abgelöst hatten, weil selbst diese hartgesottenen Typen von der Abscheulichkeit der Tat bisweilen die Augen abwenden mussten. Während Beamte des Sonderkommandos den Park abriegelten, ringsum die neugierigen Gaffer mit ihren Handykameras herumfuchtelten, während ein milder Frühlingsmorgen in einen ebenso milden Vormittag überging, während sich die Weltkugel also langsam weiterdrehte, lag meine Welt in Trümmern.
Warum wir den Weg durch den dunklen Park genommen hätten, fragten sie mich bei der ersten Einvernahme im Krankenhaus. Behutsam, liebevoll, beinahe zärtlich gingen sie mit mir um, wie mit einem verwundeten Rehkitz.
„Wegen des Vollmonds ... und weil es der kürzeste Weg war … und weil wir uns so liebten.“
Und dann begann ich zu weinen und ich weine bis heute. Und nur manchmal träume ich von einer Stadt, die nicht mehr die meine ist und deren Namen ich vergessen habe.