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Jonas
„Wach auf Jonas!“ Der Schlag des Lineals auf dem Holztisch ließ mich abrupt aus meinen Tagträumen aufschrecken. Mit einem über die ganzen Lippen gezogenen, siegessicheren Lächeln begab sich die alte, schrullige Lehrerin wieder an ihren viel zu hohen Tisch, an dem die zierliche Person ziemlich verloren aussah. „Nun da du wieder unter uns weilst, kannst du ja sicherlich Aufgabe b) beantworten.“ Sie wusste genau, dass ich die Hausaufgaben von gestern nicht machen konnte. „Keine Ahnung. Ich hab die Aufgaben nicht!“ „Nun dann muss ich dir leider wieder ein F eintragen. Und ein Gespräch mit deinen Eltern werde ich dann wohl auch führen müssen. Wann ist deine Mutter so nüchtern, dass sie in der Lage ist mir zuzuhören?“
Der Satz hallte in meinem Kopf wider und wider und wider. Ohne zu überlegen nahm ich meine Federtasche und warf sie meiner Deutschlehrerin, Frau Levandowski, genau ins Gesicht. Das laute Klatschen der Federtasche, die ihr Ziel nicht verfehlte, ließ die Klasse verstummen. Ihre Brille war zerbrochen und einzelne Glassplitter hatten ihren Weg ins Auge gefunden, aus ihrer Nase lief Blut und aus ihrem Mund hörte man Geräusche, die man eher einem Tier hätte zuordnen können.
Man hatte mich verwarnt und für eine Woche suspendiert. Dem Schulpsychologen erzählte ich eine erlogene Geschichte von merkwürdigen Träumen die meine Nächte verkürzten. Keine krankhaften oder schädlichen Träume, sondern welche, die sich meist um meinen Vater drehten. Auf jeden Fall glaubte er mir und ich wurde von meiner Schuld freigesprochen und hatte ab dem Zeitpunkt einen Freibrief bei den Lehrern, weil man mich „schonen“ müsse.
Meine weitere schulische Laufbahn war von Enttäuschungen und Entbehrungen geprägt, doch schlechte Noten und Ausgrenzungen waren mein kleinstes Problem. Viel mehr zu schaffen machten mir meine krebs- und alkoholkranke Mutter und mein Erzeuger, der seit meinem 10. Lebensjahr keinen Penny an Unterhalt zahlte. Wegen der Krankheit konnte meine Mutter nur selten arbeiten gehen, weswegen ich nach der Schule immer in einer etwas ranzig aussehenden Burgerbude durch Toiletten putzen und Teller waschen etwas Zubrot in unsere Kasse bringen konnte. Dass ich des Öfteren unbemerkt einen Blick in die Kasse warf schadete auch nicht und so hatten wir im Monat immerhin 200$ mehr, die gerade für die Stromrechnung reichten. Hätte ich Mr. Brown, dem Schulpsychologen davon erzählt, hätte man mich direkt dem Jugendamt übergeben und meiner Mutter passiv das Todesurteil unterschrieben, weil sie außer mir niemanden mehr hatte.
Ich war nie früher als 10 Uhr pm zu Hause und hatte dementsprechend wenig Zeit für die Schule und Schlaf bekam ich auch nur im Bus, der mich ab und an zur Schule brachte, wenn ich von der Hausarbeit nicht zu erschöpft war.
Frau Levandowski, die durch meinen Federtaschenwurf einseitig blind wurde setzte sich dauerhaft dafür ein, dass ich in ein Heim gehen sollte. Am Todestag meiner Mutter erfüllte sich ihr Wunsch. Ich wurde in die St. Patrick's Cathedral für Waisenkinder gesteckt.
Im Auto, das mich zu dem Heim brachte, schwirrten mir Bilder von Vergewaltigungen und Schlägen im Kopf herum. In der Schule hatten wir „Das Heimkind“ als Schullektüre behandelt. Ich fand das Buch angsteinflößend. Der Protagonist hatte so wie ich eine kaputte Familie und durch die Schändungen in seinem Heim wurde er zu einem psychopatischen Kannibalen. Und nun hatte ich Angst, dass ich dem gleichen Schicksal erliegen würde.
Dieser Gedanke zerschlug sich jedoch sofort, als meine Heimmutter mich begrüßte. Die alte Nonne war die fürsorglichste Person die ich je getroffen hatte und sie unterstützte mich wo sie konnte.
Durch die enorme Entlastung, den zunehmenden Schlaf und die fehlende finanzielle Belastung ließen mich in der Schule aufblühen. Alles lief perfekt
Bis zu dem Tag als an meinem 16. Geburtstag mein Vater vor mir stand und mich mitnehmen wollte.