Jonas
Manchmal, wenn ich U-Bahn fahre, dann fühle ich das Meer nahen.
An der Afrikanischen Straße, U6, öffnen sich die Türen. Sand und heiße Luft strömen herein. In der Ferne die Bahnhofsansage - das Stöhnen der Kamele.
U-Bahnhof Seestraße. Endlich. Es ist da. Das Meer brandet an die Türen. Wasser dringt durch die Ritzen. Die Luft duftet nach Salz und Tang. Möwen umflattern die orangenen Waggons. Die Räder schieben sich nicht mehr gleichtönig über die Schienen in ewiger Wiederholung und gleichzeitiger Endlichkeit - sie knirschen im weißen Meeressand ziellos und frei. Und wenn man auf der richtigen Seite sitzt, dann kann man durch die Fenster nur Meer sehen - weite blaue Fläche, die einen lockt.
Die Bahnhöfe sind Dünen, die Uhren sind Gezeiten, die Schaffner Segel im Wind.
Später Bahnhof Stadtmitte. Umsteigen in die U2. Ein Bazar mit dem schweren Geruch von Fisch und Tang zwischen Gewürzduft. Menschen in Schweiß und Seide. Hunde, die Reste essen. Heilige Fischer, die Perlen verkaufen. Muscheln als Straßenpflaster.
Ich schlafe ein. Wache am Bahnhof Zoo auf. Draußen steht ein Elephant, der die Fahrscheine aus dem Automaten frisst. Ein einsamer Punk mit einem Leoparden an der Leine. Ein Kind im Schlauchboot auf der Rolltreppe. Es rutscht ein Stück hinunter und fährt wieder hoch, dann wieder hinunter, nur um wieder hochzufahren. Ebbe und Flut auch hier.
Ich fahre wieder zurück - Richtung Pankow, habe die falsche Richtung genommen, Irritation und Fatamorgana der Wüste.
Die U2 taucht nun endlich ein ins kühle Nass. Stößt in die Wasseroberfläche und springt wieder empor - wie ein Delphin. Sie ist in Bewegung, auf ewiger Wanderschaft. Taucht sie ein, dann begleitet sie manchmal ein Blaupunktrochen, der an meinem Fenster entlanggleitet. Er schaut neugierig in das Innere dieser großen Kreatur.
Und jeh tiefer die U-Bahn eintaucht, desto seltsamer die Tiere.
Ich lege meine Stirn ans Fenster und beschatte mein Guckloch mit den Händen, um in der Dunkelheit sehen zu können. Phosphorisierende Tierchen, Fossilien gleich, schwimmen gleichmütig direkt an meinen Augen vorbei - nur durch ein paar Millimeter Glas von mir getrennt. Dies sind die kleinen Tiere. Die großen aber leuchten nicht. Diese kommen als dunkle Schatten auf die Bahn zu. Manchmal treffen sie auch krachend auf einen der Waggons. Die Bahn kreischt dann verletzt auf und wirft sich herum, als wollte sie Haken schlagen - als wäre sie auf der Flucht...
U-Bahnhof Vinetastraße werde ich dann ausgespuckt. Langsam gehe ich die Treppe hinauf. Die Stufen sind noch nass von der letzten Welle.
Viel später, zu Hause angekommen, kämme ich mein feuchtes Haar und küsse meine Haut, um noch einmal die Erinnerung an das Meer schmecken zu dürfen.
Berlin, den 27. August 2002
(c) by Edda Hofmann