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Jonas

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16.07.2002
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Jonas

Manchmal, wenn ich U-Bahn fahre, dann fühle ich das Meer nahen.

An der Afrikanischen Straße, U6, öffnen sich die Türen. Sand und heiße Luft strömen herein. In der Ferne die Bahnhofsansage - das Stöhnen der Kamele.

U-Bahnhof Seestraße. Endlich. Es ist da. Das Meer brandet an die Türen. Wasser dringt durch die Ritzen. Die Luft duftet nach Salz und Tang. Möwen umflattern die orangenen Waggons. Die Räder schieben sich nicht mehr gleichtönig über die Schienen in ewiger Wiederholung und gleichzeitiger Endlichkeit - sie knirschen im weißen Meeressand ziellos und frei. Und wenn man auf der richtigen Seite sitzt, dann kann man durch die Fenster nur Meer sehen - weite blaue Fläche, die einen lockt.

Die Bahnhöfe sind Dünen, die Uhren sind Gezeiten, die Schaffner Segel im Wind.

Später Bahnhof Stadtmitte. Umsteigen in die U2. Ein Bazar mit dem schweren Geruch von Fisch und Tang zwischen Gewürzduft. Menschen in Schweiß und Seide. Hunde, die Reste essen. Heilige Fischer, die Perlen verkaufen. Muscheln als Straßenpflaster.

Ich schlafe ein. Wache am Bahnhof Zoo auf. Draußen steht ein Elephant, der die Fahrscheine aus dem Automaten frisst. Ein einsamer Punk mit einem Leoparden an der Leine. Ein Kind im Schlauchboot auf der Rolltreppe. Es rutscht ein Stück hinunter und fährt wieder hoch, dann wieder hinunter, nur um wieder hochzufahren. Ebbe und Flut auch hier.

Ich fahre wieder zurück - Richtung Pankow, habe die falsche Richtung genommen, Irritation und Fatamorgana der Wüste.

Die U2 taucht nun endlich ein ins kühle Nass. Stößt in die Wasseroberfläche und springt wieder empor - wie ein Delphin. Sie ist in Bewegung, auf ewiger Wanderschaft. Taucht sie ein, dann begleitet sie manchmal ein Blaupunktrochen, der an meinem Fenster entlanggleitet. Er schaut neugierig in das Innere dieser großen Kreatur.

Und jeh tiefer die U-Bahn eintaucht, desto seltsamer die Tiere.
Ich lege meine Stirn ans Fenster und beschatte mein Guckloch mit den Händen, um in der Dunkelheit sehen zu können. Phosphorisierende Tierchen, Fossilien gleich, schwimmen gleichmütig direkt an meinen Augen vorbei - nur durch ein paar Millimeter Glas von mir getrennt. Dies sind die kleinen Tiere. Die großen aber leuchten nicht. Diese kommen als dunkle Schatten auf die Bahn zu. Manchmal treffen sie auch krachend auf einen der Waggons. Die Bahn kreischt dann verletzt auf und wirft sich herum, als wollte sie Haken schlagen - als wäre sie auf der Flucht...

U-Bahnhof Vinetastraße werde ich dann ausgespuckt. Langsam gehe ich die Treppe hinauf. Die Stufen sind noch nass von der letzten Welle.

Viel später, zu Hause angekommen, kämme ich mein feuchtes Haar und küsse meine Haut, um noch einmal die Erinnerung an das Meer schmecken zu dürfen.

Berlin, den 27. August 2002

(c) by Edda Hofmann

 

Hallo,

diese Phantasiereise hat mich begeistert, dennoch stellte sich mir die Frage, wie Du zu diesen Assoziationen gekommen bist. Hätte mir als Leser da etwas Hilfestellung gewünscht. Ansonsten... Langeweile in der U-Bahn kennst Du sicher nicht :-)

Bin gespannt auf weitere Geschichten von Dir.

LG... Mona

 

Hallo nikto.

Monas Frage stellt sich mir nicht, vielleicht weil ich selbst gerne wild assoziiere und phantasiere. Eine wundersame Fahrt durch Berlin schilderst Du, so reich an Details, Farben, Geräuschen, Düften. Ein Lesegenuss.

Ein einziges, kleines Manko, dass ich im Text zu sehen glaube: An manchen Stellen benutzt Du kaum Verben, was ich schade finde, ist doch das Verb die stärkste Wortform, und setzt Du es an anderen Stellen doch so geschickt und ausdrucksstark ein.

Ansonsten...habe den Text wirklich gerne gelesen, mal wieder was Neues im sonst doch so tristen Alltagssektor.

San

 
Zuletzt bearbeitet:

danke für eure schnellen antworten...

@mona
langeweile in der u-bahn kenne ich wirklich nicht - dort begegnen mir oft viele gedanken, geschichten, menschen, wörter etc.
die assoziation ist nicht fern - ich weiss auch nicht - die namen der stationen fordern oftmals zu einer bilderreise auf, dann gesichter oder die bewegung der u-bahn an sich...

@rabenschwarz
ich fühle mich geehrt, von dir eine kritik zu bekommen. :)
ich könnte mich in bezug auf die verben rechtfertigen mit worten wie: "sie wurden von dem rhythmischen rattern der u-bahn verschluckt, was ich formal deutlich machen wollte."
nein. das ganze habe ich in der u-bahn assoziativ aufgeschrieben und in der eile meiner gedanken fehlten oft die verben...
(ich weiss, die grössten fehler von prosa-texten: der aufgedunsene adjektivüberhang oder der holprige verbverlust - ich übe mich in besserung.)

viele grüsse,
nikto

 

Hallo Nikto,

ein kleines Kunstwerk.
Leider kann ich so nicht schreiben, diese Assoziationen hätte ich nie, leider könnte ich mir sowas auch nicht ausdenken, aber... irgendwie

ein kleines Kunstwerk

liebe grüsse archetyp

 

Wunderbar, Nikto.

Du kannst mit Sprache umgehen, keine Frage. Vor allem den letzten Satz fand ich besonders schön.
Es ist deine Fantasiereise, deshalb müssen die Assoziationen für Aussenstehende keinen Sinn machen. Obgleich ich z.B. über die Schaffner als Segel im Wind gestolpert bin.

Trotzdem weiter so, du Wortakrobat.

 

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