Jonas
"Mami?"
Helen zuckte zusammen und ließ beinahe den Teller ins Spülbecken fallen. Sie hatte sich dermaßen in der Monotonie des Abwaschens verloren, dass sie Jonas Schritte gar nicht hörte.
Sein Gesicht kam ihr fremd vor. Einen solchen Blick hatte sie noch nie bei ihm gesehen. Er hatte wie so oft vergessen, seine Stiefel auszuziehen und brachte den halben Garten mit ins Haus. Wassertropfen glänzten auf der etwas zu großen Jacke. Der Regen hatte schon vor ein paar Stunden aufgehört. Er musste mal wieder auf allen Vieren durch das hohe Gras gerobbt sein, das Ralf schon vor drei Tagen mähen wollte. Mit einem Ausdruck von Schuld und Verlegenheit starrte er auf einen Punkt im Nichts und fummelte nervös mit den Fingern herum.
Zuerst dachte Helen, er hätte irgendetwas ausgefressen oder kaputtgemacht. Etwas, von dem er mit seinen sechs Jahren wusste, dass er es nicht unter den Teppich kehren konnte. Doch da war noch etwas anderes in seinem Blick. Es war die Angst vor Konsequenzen. Aber Helen sah sofort, dass er nicht vor IHR Angst hatte, oder vor dem, was SIE sagen könnte. Das, wovor er sich fürchtete, schien weit entfernt und doch bedrohlich nah.
"Was ist denn los, Schatz?"
Sie legte den Teller beiseite und trocknete die Hände am Geschirrtuch ab. Gerade wollte sie einen strengen Gesichtsausdruck wegen der frischen Schlammspur auf dem Fußboden aufsetzen.
"Da ist jemand im Garten." druckste er, ohne den Blick aus dem Nichts zu ziehen.
Schlagartig hämmerte Helens Herz bis an die Mandeln.
Sie sprang hinüber zur Fensterseite der Küche, von wo aus sie fast den ganzen Garten überblicken konnte. Ihre Augen jagten von einer Ecke zur anderen, aber alles, was sie sah, war zu langes, feuchtes Gras.
"Jonas, da draußen ist keiner. Komm her und sieh's dir an."
Seit knapp zwei Stunden war er im Garten zugange, hatte imaginäre Piratenhorden in die Flucht geschlagen und ging zwischen Gemüsebeet und Plastikstühlen auf Großwildjagd. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis die Phantasie mit ihm durchging. Verloren stand er in der Küchentür und wagte es nicht, ans Fenster zu treten, als wäre der Fußboden mit Bärenfallen übersäht.
Helen war irritiert. So hatte sie ihren Sohn noch nie gesehen. Sie ging auf ihn zu und kniete sich auf Augenhöhe zu ihm hinunter.
"Da ist wirklich keiner."
Seine Augen wichen ihrem Blick aus und zuckten kaum sichtbar hin und her. Da war mehr als nur Angst ... Da war ... Traurigkeit. Und die Gewissheit, dass etwas seinen Gang genommen hatte, das nicht mehr aufzuhalten war.
"Hey, was ist denn los mit dir?"
Besorgt legte sie ihre Hand auf seine zerbrechliche Schulter.
"Da ist jemand im Garten ..." wiederholte er fast flüsternd.
Sein Blick huschte zum Fenster und sofort wieder auf den Küchenboden zurück. Als sähe er dort drüben etwas, das er nicht sehen wollte. Für einen Sekundenbruchteil zweifelte Helen, ob ihr etwas entgangen war. Aber so groß war ihr Garten nun auch wieder nicht, dass sich jemand darin verstecken konnte.
"Pass auf." sagte sie. "Wir gehen jetzt gemeinsam raus, und dann zeige ich dir, dass du dir das nur eingebildet hast."
Jonas Finger tanzten schneller. Endlich blickte er ihr in die Augen. Aber sein ganzes Gesicht schien bloß stumm "Bitte nicht!" zu rufen. Sie sah die Furcht und die Verzweiflung über das Unvermögen, ihr zu sagen, was wirklich los war.
"Ich will nicht rausgehen." flüsterte er, als hätte er Angst, jemanden aufzuwecken.
"Jonas..." beschwichtigte Helen ihn mit ernster Stimme.
"Mami, ich möchte nicht." Seine Augen begannen zu glänzen. Er presste die Lippen aufeinander, um sich die Tränen zu verbeißen.
"Jetzt hör mal ... Das ist nur in deiner Phantasie passiert. Ich verspreche dir, wenn wir uns jetzt im Garten umsehen, wirst du sehen, dass da gar nichts ist. Aber wenn du drinnen bleibst, wirst du immer Angst vor dem Garten haben. Das möchtest du doch nicht, oder? Kein Rumtoben mehr? Keine Geburtstagsfeiern? Keine Ostereier suchen? Das wäre doch wirklich schade."
Sein Gesicht blieb versteinert. Was auch immer er geglaubt hatte, gesehen zu haben - es schien schlimm genug, um für den Rest seines Lebens auf Ostereier zu verzichten. Aber es gab nichts, was er ihrer Logik entgegensetzen konnte. Sie würde darauf bestehen und nicht eher locker lassen, bis er sich vom Gegenteil überzeugt hatte.
"Also komm. Wir gehen jetzt gemeinsam raus, und dann mache ich dir einen großen Kakao."
Jonas ließ den Kopf sinken.
Sie deutete das als stummes Einverständnis. Helen schlüpfte in ein Paar Gummistiefel, nahm seine Hand und ging gemeinsam mit ihm über die Terrasse die kleine Steintreppe hinab und hinter das Haus, wo sich der Garten anschloss.
Es war nichts besonderes. Eine Grünfläche, auf der man provisorisch Fußball spielen konnte. Ein Weg aus Baumarkt-Steinplatten, die nach ein paar Schritten zu einer respektablen Fläche wurden, auf der sich einige Gartenmöbel aus Plastik tummelten. Grill und Sonnenschirm holten sie nur hervor, wenn das Wetter mitspielte. Inzwischen war es Oktober, und die Freilicht-Saison konnte man für dieses Jahr als beendet erklären. Dahinter erstreckte sich das Gemüsebeet. Ringsherum war der Garten mit einem breiten Streifen Erde abgegrenzt, auf dem Helen ihrer Liebe für Blumen und Zierpflanzen freien Lauf ließ. Dahinter eine Wand aus hohen, dichten Büschen, um den Maschendrahtzaun zu kaschieren, der ihr Grundstück von den anderen trennte. Nach Westen grenzte der deutlich größere Garten eines Mehr-Parteien-Hauses an. Zur Ost- und Südseite gab es nichts als endlos scheinendes, verwildertes Bauland, das noch keinen Abnehmer gefunden hatte.
Helen zögerte und ließ noch einmal ihren Blick über die ganze Kulisse huschen, bevor sie Jonas an die Hand nahm und sie sich in Richtung Gemüsebeet in Bewegung setzten. Das nasse Gras gab bei jedem Schritt glucksende Laute von sich.
Je weiter sie sich vom Haus entfernten, desto fester wurde sein Griff. Schweigend nahm er hin, wie sie in jeden Winkel spähte und demonstrativ in die dunklen Büsche spähte.
"Siehst du? Keiner da. Das hast du dir wirklich nur ausgedacht, Schatz."
Jonas schob verstohlen seinen Kopf in Richtung Grundstücksgrenze. Zur Süd-Ost-Ecke, wo frisch gepflanzte Rosen von den Schatten tropfender Büsche verschluckt wurden. Langsam hob er seinen kleinen Arm und deutete hinüber.
"Da hinten ... In der Ecke ... da ist jemand."
Helen folgte seinem knubbeligen, ausgestreckten Zeigefinger. Dort war nichts. Nichts, als feuchte Erde, auf der ihre Rosen besser gediehen, als gehofft. Die fast drei Meter hohen Sträucher stahlen ihnen zwar ziemlich viel Licht, aber aus irgendeinem Grund sprossen die Rosen wie Pilze auf einem Komposthaufen.
Sie trat an den Erdstreifen heran und suchte nach etwas, das ihren Sohn so sehr in Aufregung versetzt hatte.
"Also wirklich ..." ächzte sie nun etwas entnervt und zog mahnend die Augenbraunen hoch.
"Ich sage dir doch, hier ist n..."
"Unter den Rosen", unterbrach sie Jonas.
"In der Erde unter den Rosen ist jemand."
Reflexartig wich Helen einen Schritt zurück. Der aufgeweichte Boden war vom Regen fast schwarz gefärbt. Ein paar Würmer ringelten sich zwischen Erdklumpen hindurch, und der schwere Herbstduft von schimmelnden Blättern stieg ihr in die Nase.
Ihr war klar, dass Jonas Unsinn redete. Sie merkte immer sofort, wenn er sie anschwindelte oder ihr einen Bären aufbinden wollte. Aber sie sah ihm an, dass die Angst vor dem, was er unter ihren geliebten Rosen glaubte, real war.
"Können wir jetzt wieder reingehen?"
Seine Stimme überschlug sich und klang fast flehend. Noch bevor sie antworten konnte, drehte er sich auf den Gummistiefel-Absätzen um, ging mit zügigen Schritten die Treppe hinauf und verschwand aus ihrem Blickfeld. Verwirrt sah Helen ihm nach. Dann beugte sie sich zu den zwei, drei Quadratmetern Erdboden hinunter, die ihn so in Aufregung versetzt hatten. Bestimmt hatte er nur irgendetwas entdeckt, das aus einem bestimmten Winkel, wie ein Mensch aussah. Das Beet hatte nichts außergewöhnliches an sich. Aber wenn man sechs Jahre alt war, kam einem der Garten vermutlich wie ein riesiger Dschungel vor, wo hinter jeder Ecke Raubtiere, Menschenfresser und andere Ungeheuer lauerten.
Helen betrachtete die prallen Rosenblüten, die sich unter dem Gewicht des Regens, das sich in ihnen gesammelt hatte, leicht nach unten bogen. Sehr gut möglich, dass sie vor seinen Augen zu einem weiß-roten Meer verschmolzen, in dem ein menschenähnliches Trugbild umherschwamm.
Sie ging zurück ins Haus und folgte ihm zu seinem Zimmer. Die Tür war geschlossen. Das machte er selten.
Helen klopfte.
"Jonas?"
Keine Antwort.
"Jonas, darf ich reinkommen?"
Wieder nichts.
Sie öffnete.
Er saß so regungslos und zusammengekauert auf seinem Bett, dass sie ihn beim ersten Blick durch das Zimmer gar nicht bemerkte. Wie Waldo auf dem Wimmelbild, den man auch beim dritten Versuch einfach nicht sah, obwohl man ihn direkt vor Augen hatte. Vor ihm auf der Matratze lag ein aufgeschlagenes Spiderman-Comicheft (Batman war ihm immer noch zu unheimlich), aber er schien es gar nicht zu beachten. Mit ausdrucksloser Mine starrte er durch die bunten Bilder einfach hindurch.
Helen war ratlos. Seine Aufregung war echt. Oder aber, er hatte für seine sechs Jahre ein beachtliches schauspielerisches Talent entwickelt, um dem Aufwischen seiner Schlammspur zu entgehen.
Wahrscheinlich musste er sich einfach nur etwas beruhigen. Bis zum Abendbrot würde er das, was er beim Rosenbeet gesehen hatte, wieder vergessen haben.
Jonas war kein ängstliches Kind, das nur bei Licht einschlafen konnte oder sich vor Schatten unter seinem Bett fürchtete. Üblicherweise überwog bei ihm die Neugier.
Helen ließ die Tür zu seinem Zimmer offen stehen und ging zurück in die Küche, um ihm den versprochenen Kakao zu machen. Und einen Doppelkeks sollte er auch bekommen. Sie stellte den dampfenden Becher und die kleine Untertassen mit dem Keks auf seinem Nachttisch ab.
"Warte noch ein bisschen. Er ist ziemlich heiß." sagte sie ruhig.
Jonas reagierte nicht. Helen beobachtete ihn mit einem aufkeimenden Anflug von Sorge. Er starrte weiterhin auf das Comicheft, aber seine Augen bewegten sich nicht.
Wo auch immer er gerade war - Helen konnte ihn nicht erreichen. Sie versuchte es mit einer Portion pädagogischer Realität.
"Aber wenn du ihn ausgetrunken hast, machst du den Matsch wieder weg, den du mit ins Haus geschleppt hast, okay?"
Ihr war klar, dass sie wieder gründlich nachwischen würde. Aber auch ein sechsjähriger musste schließlich lernen, Verantwortung zu übernehmen und seinen eigenen Dreck wegzumachen.
"Okay", flüsterte er so leise, dass sie nicht sicher war, ob sie es sich nur eingebildet hatte. Aber sie ließ es gut sein. Sie, machte die Tür hinter sich zu und ging zurück in die Küche, um den leidigen Abwasch zu Ende zu bringen.
Keine fünf Minuten später schlurfte Jonas hinter ihrem Rücken vorbei zum Küchenschrank. So leise, dass sie ihn erst hörte, als er zwischen den Putzmitteln herumhantierte und einen Eimer mit Putzlappen hervorzog.
Wortlos und ohne sie anzusehen füllte er den Eimer und machte sich daran, die angetrockneten Schlammspuren wegzuwischen.
Er gab sein bestes.
Helen biss sich auf die Lippen. Vielleicht war es wirklich das beste, ihn erst einmal völlig in Ruhe zu lassen. Als er "fertig" war, leerte er den Eimer aus und marschierte wie eine mechanische Aufzieh-Puppe zurück in sein Zimmer.
Helen hörte, wie seine Tür zufiel.
Sie überlegte kurz, ob es wirklich gut war, ihn so ganz alleine mit der Angst in seinem Zimmer zurück zu lassen.
Nein, das war es nicht.
Sie klopfte an und öffnete dann langsam einen Spalt breit.
Jonas hatte sich wieder hinter dem Spiderman-Comic zusammengekauert. Die Zimmerecke im Rücken, so dass ihm nichts entgehen konnte. Die Tasse mit dem dampfenden Kakao stand unberührt neben ihm. Auch den Keks hatte er nicht angerührt.
Gerade als Helen ihn zum zweiten Mal aus seiner lauernden Position reißen wollte, hörte sie, wie jemand den Haustürschlüssel im Schloss versenkte.
Ralf hatte Feierabend.
Sie schloss Jonas Zimmertür so geräuschlos sie konnte und begrüßte Ralf, der sichtlich erfreut über das frühe Heimkommen strahlte.
"Hallo, Schatz. Wie war euer Tag? Gehen dem Kurzen die Ferien schon auf den Zeiger?" scherzte er.
"Hallo. Ganz gut."
Helen atmete scharf durch die Zähne ein und stemmte die Hände in die Hüften, um zu signalisieren, dass sie gleich zu einem umfangreichen Bericht ausholen würde.
"Jonas hat sich heute beim Spielen im Garten irgendetwas eingebildet und sitzt jetzt etwas verstört in seinem Zimmer. So ängstlich habe ich ihn ehrlich gesagt noch nie gesehen."
Ralf kniff verdutzt die Augen zu, während er seine Jacke an die Garderobe hängte und die verdreckten Schuhe auszog.
"Was hat er sich denn eingebildet?" fragte er mehr neugierig als besorgt.
"Ich schätze, er hat etwas in den Rosen gesehen, das ihm wie ein Mensch erschienen ist. Er meinte, es wäre dort jemand in der Erde begraben."
"Soll ich mal mit ihm reden?" schlug Ralf nach einer kleinen Denkpause vor.
"Ich glaube, mit reden kommen wir hier nicht mehr wirklich weiter." seufzte Helen.
"Würdest du mir vielleicht einen großen Gefallen tun? Also eigentlich ihm?"
Ihrem Dackelblick konnte Ralf nichts entgegensetzen.
"Es ist ja noch relativ früh und hell. Würdest du vielleicht das Beet unter den Rosen etwas umgraben? Am besten mit einem schönen tiefen Loch, damit er sehen kann, dass da gar nichts ist. Die Rosen kann ich neu pflanzen."
Ralf schnaubte wehleidig.
"Och Helen ... Muss das wirklich jetzt sein? Ich bin gerade erst von der Arbeit gekommen ..."
Damit hatte er auch schon sein Pulver verschossen.
Sie trat einen Schritt näher auf ihn zu.
"Schau mal ... Er ist wirklich aufgebracht. Wenn wir die Sache nicht klären, bevor er ins Bett geht, wird er mit Sicherheit Alpträume haben. Er wäre bestimmt total froh, wenn du das für ihn machen würdest."
"Also gut." seufzte Ralf und rollte übertrieben die Augen, um die Ironie seines Gejammers zu unterstreichen.
"Danke dir."
Helen drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
Eine knappe halbe Stunde später schaute sie aus dem Küchenfenster. Die Sonne hatte ihren Abstieg Richtung Horizont begonnen und den Nachmittag in diffuses Gold getaucht. Ralf stocherte mit seinem Spaten zwischen den kuppelförmigen Sträuchern herum. Genau dort, wo Jonas ihr die Stelle markiert hatte.
Die Rosen lagen an grüne Plastikstöcker gebunden kreuz und quer auf dem Rasen verteilt.
Helen klopfte gegen sie Fensterscheibe. Ralf drehte sich um und signalisierte, dass sie Jonas Bescheid geben könne.
Sie hob den Daumen, zog sich Gummistiefel an und pochte gegen seine Zimmertür.
"Jonas? Kommst du mal bitte? Papa ist da und möchte dir gerne etwas zeigen."
Eine Reihe von gedämpften Geräuschen drang aus dem Inneren. Dann waren kleine Schritte zu hören, die sich der Tür näherten.
Jonas öffnete. Seine großen, grünen Augen blickten Helen fragend an.
"Zieh dir mal deine Schuhe an. Papa ist im Garten. Keine Angst. Wir sind ja bei dir und passen ganz doll auf dich auf."
Schweigend blieb Jonas auf der Türschwelle stehen und sah zögerlich zur Terrassentür hinüber. In seinem Kopf arbeitete es.
"Und du kommst auch mit?" fragte er.
"Na klar." lächelte Helen zurück und hielt ihm ihre Hand hin.
Er nahm sie und folgte ihr in den Garten.
Ralf stand breit grinsend und triumphierend am Rosenbeet, als hätte er gerade den Nobelpreis gewonnen. Einen Fuß lässig auf den Spaten gestützt.
Wild winkend rief er: "Da ist ja mein Großer!"
Schüchtern winkte Jonas zurück. Wieder schlossen sich seine kleinen Finger immer fester um Helens Hand, während sie auf das Beet zugingen. Als er sah, dass die Rosen wie erschossene Gefangene auf dem Gras herumlagen, wurde sein Gesicht leichenblass. Blankes Entsetzen fraß sich durch sein Gesicht.
Ralf bemerkte es sofort.
"Keine Angst, Spider-Boy." Er beugte sich zu ihm hinab. "Mami hat mir erzählt, was heute beim Spielen passiert ist. Siehst du - Da ist gar nichts unter der Erde. Nur Steine und ein paar Würmer."
Stolz präsentierte er sein frisch ausgehobenes Grab. Jonas starrte mit weit aufgerissenen Augen in die dunkle Leere, die sich vor ihm auftat. Einige Sekunden lang stand er wie versteinert über dem schlammigen Loch.
Dann sprang er kreischend zurück und krallte sich wie eine panische Katze in Helens Beine. Tränen schossen aus seinen hervorgequollenen Augen.
"NEIN!!!" schrie er immer wieder. "IHR HABT IHN RAUSGELASSEN!!!"
Vollkommen verblüfft und erschrocken sahen sich Ralf und Helen an. Jonas riss so stark an ihren Beinen, dass er sie fast aus dem Gleichgewicht gebracht hätte. Er warf sich brüllen auf den Rasen und schlug wild um sich. An den Fenstern des Nachbargebäudes tauchten die ersten neugierigen Gesichter auf.
"Jonas!" rief Helen immer wieder und versuchte ihren Sohn auf die Füße zu heben. Aber er wurde immer hysterischer.
"MACHT ES ZU!!! MACHT ES ZU!!!"
Dann riss er sich los und stürzte winselnd und ächzend zurück ins Haus.
Fassungslos blickten ihm seine Eltern nach. Ralf fand als erstes die Stimme wieder.
"Was um alles in der Welt war DAS denn?"
Helen schüttelte apathisch den Kopf.
"Ich habe keine Ahnung. Ich gehe und rede mit ihm."
"Okay. Ich schütte hier noch kurz alles wieder zu und komme dann nach."
Noch benommen und mit einem unbehaglichen Klingeln in den Ohren trat Helen durch die Terrassentür und hielt vor Jonas Zimmer.
Wieder klopfte sie, trat aber, ohne auf Antwort zu warten, sofort ein. Er hatte sich so weit in die Zimmerecke auf seinem Bett verkrochen, dass man glauben konnte, sein Körper würde aus der Wand herauswachsen. Er stierte mit bebenden Lippen und tränenüberströmtem Gesicht ins Nichts. Helen näherte sich vorsichtig und setzte sich zu ihm.
"Schatz ..." begann sie und wusste nicht, wie sie weitermachen sollte. Er reagierte nicht auf sie. Nicht auf ihre Worte, nicht auf ihre Hände, nicht auf ihre Umarmung. Ralf erschien in der Tür.
"Hey, Großer. Du kannst mir glauben. Da war niemand. Ich habe die ganze Zeit gebuddelt und nur Dreck und Erde gefunden. Ich habe das Loch gerade wieder zugeschüttet."
"Zu spät ..." antwortete Jonas mit erschreckend ausdrucksloser Stimme. "Jetzt ist es zu spät."
Sie versuchten noch eine geschlagene halbe Stunde lang ihn zu überzeugen, dass es keine begrabenen Menschen in ihrem Garten gab. Schließlich einigten sie sich, dass sie nachher Abendbrot essen und morgen etwas tolles unternehmen würden. Während des Essens sprach Jonas kein Wort. Er kaute auf den beiden Salamibroten herum und trank seine Milch. Dann ging er ohne Widerstand ins Bett. Helen setzte sich zu ihm aufs Bett als er in seinem Spiderman-Schlafanzug unter der Decke lag und geistesabwesend vor sich hin starrte. Sie strich ihm durch die blonden Haare.
"Wenn du heute Nacht schlecht träumst, kannst du zu uns kommen, okay? Dann legen wir deine Matratze zu uns ins Schlafzimmer."
"Ich werde nicht schlecht träumen." antwortete er, ohne sie anzusehen.
Helen seufzte ratlos und küsste seine Stirn. Dann stand sie auf und verließ das Zimmer. Gerade, als sie die Tür anlehnen wollte, sagte Jonas:
"Mami? Du weißt doch, dass ich dich und Papa lieb habe, oder?"
"Natürlich wissen wir das, Schatz. Und wir haben dich auch ganz doll lieb." Es fiel ihr schwer, eine Träne zu unterdrücken. Sie schaltete das Licht im Flur aus und setzte sich mit Ralf noch ein wenig vor den Fernseher.
Mitten in der Nacht wachte Ralf von irgendetwas auf. Draußen ging ein markerschütternder Dauerregen nieder, der das benachbarte Baugelände in eine Moorlandschaft verwandelte. Schlaftrunken rappelte er sich im Bett zurecht und rieb sich ein paar verkrustete Krümel aus den Augen. Helen schlief weiter und schnorchelte auf ihre fast niedliche Art etwas.
Ralf verspürte Durst. Er sah auf die Uhr - 01:44. So lautlos wie möglich stieg er aus dem Bett und schlurfte hinüber zur Schlafzimmertür. Als er sie hinter sich geschlossen hatte, fühlte er, wie ein feuchter, kalter Wind seinen Rücken emporkroch. Das Prasseln des Regens klang, als würde jemand Eiswürfel auf einem Wellblechdach auskippen.
Irgendetwas stimmte nicht.
Ralf spürte, wie sein Adrenalinspiegel mit jeder Sekunde weiter ansteig. Plötzlich war er hellwach. Auf Zehenspitzen schlich er durch den in Schatten getauchten Flur. Noch bevor er das Wohnzimmer betrat, war ihm klar, dass die Terrassentür offen stehen musste.
Und so war es auch.
Durch den breiten Spalt wehte der Wind dicke Regentropfen auf den Fußboden. Die Gardinen blähten sich auf, wie viel zu dünne Segel an einem Schiff und fielen wieder in sich zusammen. Das Wohnzimmer war in kaltes, dunkelblaues Licht getaucht, das sich wie ein Ölfilm über Möbel und Wände legte.
Entnervt schaltete er das Licht ein und ging auf die Terrassentür zu. Nach dem dritten Schritt jagte ein namenloses Grauen durch sein Gehirn. Ralfs Herz setzte einen Schlag aus und donnerte dann mit doppelter Geschwindigkeit weiter. Ein dicker Klumpen Teig schien in seiner Kehle aufzuquellen.
Eine Spur aus schlammigen Fußabdrücken zog sich von der Terrassentür quer durch das ganze Wohnzimmer und verschwand in der Dunkelheit des Flures.
Mit hämmerndem Puls trat Ralf näher. Die Abdrücke waren riesig. Mindestens vier Nummern größer als seine eigenen. Einzelne Zehen waren in dem breiigen Matsch aus schwarzer Erde zu erkennen. Ralf sah, wie die Abdrücke in der Finsternis des Flures versanken und folgte ihnen zögernd. Direkt vor Jonas Tür endeten sie.
Er schmeckte Metall auf der Zunge. Seine Finger zitterten, als er nach der Klinke griff. Schnaufend schnitt sich sein Atem durch das ferne Trommeln der Regentropfen. Langsam öffnete er die Tür und fingerte blind nach dem Lichtschalter. Die Lampe ertrank den Raum in grellem Licht, und Ralfs Augen zuckten schmerzhaft zusammen. Nichts als tanzende lila Flecke ...
Das Fauchen der Farben löste sich auf. Konturen erschienen und schoben sich zu Jonas Zimmer zusammen.
Sein Bett war leer. Nirgendwo eine Spur von ihm.
Entsetzt sah Ralf, dass sich die Fußabdrücke bis zum Bett fortpflanzten.
Die ganze Nacht hindurch stellten er und Helen mit Hilfe der Polizei und Nachbarschaft die gesamte Umgebung auf den Kopf.
Jonas war verschwunden.
Und blieb es.