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Jonas
JONAS
11:04 Uhr
„Bob? Kommen Sie mal mit.“ rief Gershwin dem Hausmeister zu. Der zuckte mit den Schultern und murmelte etwas. „Bob?“
„Nichts, Mr. Gershwin. Was gibt es denn...“ Bob deutete hinter sich zu den alten Schränken. „Ich habe viel zu tun.“
„Ja, das weiß ich. Sie kommen jetzt aber trotzdem mit!“ Gershwin war etwas lauter geworden.
Bob lächelte. „Ja, Mr. Gershwin.“
Auf dem Weg zur Halle 19, wo sämtliche Ersatzteile gelagert waren, fragte Gershwin: „Haben Sie heute Lieferungen entgegengenommen? Bauteile der Serie VP8?“
„Nein, Mr. Gershwin.“ sagte Bob verwundert. „VP8?“
„Ja.“
„Die kommen erst gegen Ende des Monats. So früh nie. Außerdem habe ich keinen Anruf erhalten.“
„Ja, okay. Ich glaube Ihnen.“
Sie hatten die Halle erreicht. Gershwin deutete zur Tür. „Sehen Sie?“
„Die ist nicht verschlossen.“ sagte Bob verwundert.
„Was Sie nicht sagen. Machen Sie mal auf, los!“ Gershwin nickte Bob zu. „Na los!“
„Wenn Sie meinen, Mr. Gershwin...“ Bob öffnete vorsichtig die Tür. Er sah zu Gershwin. „Und...“
„Gehen Sie rein!“
„Sir?“
„Nun gehen Sie schon!“
Mit einem unguten Gefühl betrat Bob Halle 19. Links neben dem Eingang befand sich der Lichtschalter. Nach und nach beleuchteten die vielen Neonröhren die große Halle.
Gershwin nickte. „Jetzt sagen Sie mir, was Sie sehen, Bob!“
„Sir...“ Bob schluckte. „Ich...“
„Nichts!“ sagte Gershwin. „Absolut nichts!“ Seine Worte erzeugten ein leises Echo in der leeren Halle. „Können Sie mir vielleicht sagen, was hier passiert ist?“ Gershwin sah zu Bob. „Bob?“
Bob konnte nichts sagen. Fassungslos starrte er auf den Betonboden, der bis vor kurzem mit Dutzenden von Ersatzteilen zugestellt war. „Ich... ich...“ stammelte er. „Sir... keine Ahnung.“ Ihm wurde schlecht.
Gershwin räusperte sich. „Eine offene Tür. Eine Halle ohne Ersatzteile. Und Sie können mir nicht sagen, wie das geschehen konnte.“ Er schüttelte den Kopf. „Es war wohl ein Fehler, jemanden wie Sie einzustellen.“
„Mr. Gershwin! Ich...“
„Holen Sie sich Ihre Papiere bei Mrs. Jennings im Büro ab, Bob. Und dann verschwinden Sie!“
„Aber...“ Bob sah Gershwin ungläubig an. „Aber...“
Zwanzig Minuten später wurde Bob von den Sicherheitsleuten auf die Straße gesetzt.
11:28 Uhr
Gershwin telefonierte. „Klar... Hat wunderbar funktioniert... Nein... nein! Ich denke... Nein, ich denke nicht... Ja, ganz einfach Diebstahl...“ Er sah aus dem Fenster. Zwei Männer vom Wachdienst begleiteten Bob zum Ausgang des Firmengeländes. Er lächelte und sagte: „Klar... klar haben wir einen Schuldigen... ja! Der Hausmeister, genau... ein Vollidiot! War mal im Knast... ja... Wie wir es besprochen hatten. Okay... ja. Bis dann!“ Zufrieden legte Gershwin auf und zündete sich eine Zigarette an.
11:47 Uhr
Jonas war ziemlich überrascht, als Bob in seinen Laden kam. Er sah zur Uhr. „Ziemlich früh heute, Bob!“
„Gib mir ein Bier!“ Bob winkte ab. „Alles Scheiße, Jonas! Alles Scheiße...“
„Hm.“ Jonas stellte Bob eine Flasche auf den Tresen. „Was ist los?“
„Nichts!“ sagte Bob verärgert und trank die Flasche in einem Zug aus. „Noch eines!“
Jonas kratzte sich an seinem Arm. „Wirklich alles in Ordnung mit dir?“
„Ja.“ Bob sah ihn böse an. „Alles... bestens!“ Er trank einen Schluck. „Alles... Scheiße!“ Er sah sich um. Außer ihm saßen noch zwei Pärchen an den Tischen und ein Mann am anderen Ende des Tresens. „Nicht viel los heute, was?“
„Um diese Uhrzeit? Ich bitte dich!“ Jonas goß sich einen Kaffee ein. „Hast du vor, dich zu besaufen?“
Bob betrachtete die Flasche. „Ich weiß nicht... möglich.“ Er nickte. „Ja, warum eigentlich nicht!“ Bob grinste. Schwach konnte er sich an seinen letzten Absturz erinnern. Wie lange war das her? Acht Monate? Zehn? Scheiß drauf, Bob! „Warum eigentlich nicht!“
12:15 Uhr
Jonas stellte Bob eine neue Flasche hin. Er tat es nicht gern, aber andererseits...
„Sir?“ rief ihm der andere Mann am Tresen zu.
Jonas drehte sich erstaunt um. Die ganze Zeit hatte der Mann wortlos auf dem Hocker gesessen und ab und zu einen Schluck aus Tasse Kaffee getrunken. „Sir? Möchten Sie noch etwas bestellen?“
„Nein, danke.“ sagte der Mann freundlich. „Aber Sie könnten mir eine Frage beantworten.“
„Eine Frage...“ Jonas kratzte sich wieder an seinem Arm. Gott... diese Schmerzen!
„Dieser Mann dort... Bob... kennen Sie ihn gut?“
Jonas sah den Mann überrascht an. „Eine sehr... ungewöhnliche Frage. Warum wollen Sie das wissen?“
Der Mann schob die Tasse Kaffee zur Seite. „Es interessiert mich einfach. Sie haben vorhin so erstaunt zur Uhr gesehen, als... als Bob das Lokal betrat.“
„Nun, normalerweise kommt er erst gegen Abend... so sieben rum. Und auch nur auf ein oder zwei Bier. Aber heute...“ Jonas sah zu Bob, der langsam die Flasche ansetzte und dabei grimmig nach oben sah. „Heute... hat wohl einen schlechten Tag erwischt, schätze ich.“
„Ja... man hat ihn entlassen.“ sagte der Mann.
„Was haben Sie gesagt?“
12:19 Uhr
Der Mann sah rüber zu den zwei Pärchen und lächelte. „Und der dort...“ Er zeigte auf einen jungen Farbigen. „Er hat seine Freundin betrogen... und sie ihn auch.“ Grinsend sah er zu Jonas. „Nun... und Bob hat seinen Job verloren.“
Jonas nickte. „Klar, wenn Sie das sagen.“ Noch so ein Spinner, dachte er.
„Nein, Jonas! Kein Spinner!“ sagte der Mann. „Ich bin kein Spinner, Idiot oder... was auch immer Sie sagen würden.“
Jonas sah vorsichtig zur Kasse. Direkt unter ihr...
Der Mann lachte laut. „Oh Jonas! Warum wollen Sie mich mit einer Waffe bedrohen? Was habe ich Ihnen getan? Nichts! Ich rede bloß mit Ihnen... mehr nicht.“
„Sie reden, als ob Sie wissen würden, was mit denen da los ist.“ sagte Jonas und sah dabei zu Bob. „Und vor allem mit ihm.“ Er schüttelte den Kopf. „Woher wollen Sie wissen, daß Bob seinen Job verloren hat?"
„Fragen Sie ihn!“ forderte der Mann Jonas auf. „Nur zu!“
„Also ich weiß nicht.“ Jonas zögerte, doch dann ging er zu Bob. „Bob?“
Der sah ihn wütend an. „Ll...llaaß mmich in Ru... Ruhe!“
„Hat man dir gekündigt?“
Bob wollte nach der Flasche Bier greifen, die vor ihm stand, doch Jonas nahm sie ihm weg. „He... ddas... nicht f...ffair!“
„Hat man dir gekündigt?“
„Pah...!“ Bob langte nach der Packung Zigaretten. „Na und? Uund we... wenn schon.“ Er gähnte. „Das kann... ddir do... doch schscheißegal sein.“
Jonas sah entgeistert zu dem Mann und gab Bob die Flasche wieder. Zehn Minuten später verließ eines der Pärchen das Lokal.
12:25 Uhr
„Woher haben Sie das gewußt?“
„Was habe ich gewußt, Jonas?“
„Ach kommen Sie!“ sagte Jonas verärgert. „Sie wissen, was ich meine!“
Der Mann nickte. „Natürlich weiß ich das.“ sagte er freundlich.
„Und woher?“
„Nein!“ Der Mann hob abwehrend die Arme. „Nein! Das ist doch völlig unwichtig! Es ist doch völlig unwichtig zu wissen, warum ich das weiß!“
Jonas nickte anerkennend mit dem Kopf. „Ein toller Satz!“ Er trank seinen Kaffee aus und goß sich neuen ein.. „Wollen...“
„Nein, danke!“
„Okay!“ Jonas rührte etwas Zucker in den Kaffee. Der Mann sagte nichts. Jonas trank einen Schluck. „Trotzdem hätte es mich interessiert... nein, ich meinte... woher wissen Sie das, verdammt!“ Er trank einen Schluck. Er hörte, wie Bob ein paar leere Bierflaschen umstieß... Egal! „Wie um alles...“
„Wie spät ist es?“ unterbrach ihn der Mann.
„Oh... es ist...“ Jonas sah zur Uhr. „Kurz vor halb...“
„Sie werden jetzt gehen!“ sagte der Mann und nickte in Richtung eines der Pärchen.
Jonas sagte nichts und wartete ab. Es tat sich nichts. „Ja, das...“ Plötzlich stand das eine Pärchen, welches am Fenster gesessen hatte, auf und verließ das Lokal. „Verdammt!“ Kopfschüttelnd sah er den Mann an. „Sie haben es wirklich gewußt!“
„Ja.“
„Oh man... Sind Sie Hellseher oder was?“ fragte Jonas.
„Hellseher gibt es nicht, Jonas!“ antwortete der Mann bedächtig. „So etwas gibt es nicht. Es gibt keine Menschen, welche in die Zukunft sehen können. Wie soll das auch gehen? Stellen Sie sich das mal vor!“
„Ja... aber!“
„Was würde denn passieren, wenn es das tatsächlich geben würde?“
„Was?“
Der Mann sah zu Bob und sagte dann zu Jonas: „Ich habe Sie gefragt, was passieren würde, wenn es Menschen gibt, die in die... Zukunft sehen könnten.“
Jonas trank einen Schluck Kaffee. „Tja... ich weiß nicht. Die könnten doch einiges verhindern, oder?“
„Was denn zum Beispiel? Das, was jetzt passieren wird?“
12:33 Uhr
Gerade wollte Jonas den Mann fragen, was denn passieren würde, als das zweite Pärchen, welches nahe an den Toiletten saß, sich anfing zu streiten.
„Sehen Sie? Das meinte ich!“ sagte der Mann.
Jonas sah zu dem Paar, welches sich ein heftiges Wortduell lieferte. „Wußte gar nicht, daß die solche Wörter kennen...“
Bob stand wankend von seinem Hocker auf und ging direkt auf das Pärchen zu. als er bei ihnen war, schrie er den Mann an. „Bll... blööd... Nigger! Halt deine ver... vdammte Fresse.. se!“
„He Bob!“ rief Jonas. „Laß sie in Ruhe, okay!“
Bob drehte sich mühsam um. „Si.. ssind doch nur... pah!“ Er spuckte auf den Boden und torkelte zu den Toiletten.
Jonas sah freundlich zu den beiden Farbigen, die am Tisch saßen. „Verzeihen Sie mir bitte. Normalerweise ist er recht freundlich... auch zu Ihnen!“
Der Mann begann zu lachen.
„Was?“ fragte Jonas.
„Passen Sie auf!“
„Ich...“ Jonas schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. Im selben Moment stand das Paar auf und verließ entrüstet das Lokal. „Was...“
„Sehen Sie.“ sagte der Mann. „Mann kann es nicht verhindern, selbst wenn man es weiß. Verstehen Sie?“
„Ich verstehe überhaupt nichts mehr.“ Jonas winkte ab. Einige Minuten später kam Bob fluchend zurück und setzte sich auf seinen Hocker. „Alles okay, Bob?“
„Kll..ar... Gib mir noch ein... da... das da!“ Bob stieß eine der leeren Flaschen um.
„Nur zu!“ sagte der Mann. „Geben Sie ihm noch ein Bier. Auf meine Kosten!“ Er legte einen Hunderter auf den Tresen.
„Oh Scheiße!“ murmelte Jonas. „Aber auf Ihre Verantwortung!“
„Selbstverständlich.“
Jonas nahm den Schein und steckte ihn weg. Anschließend gab er Bob eine weitere Flasche Bier. „Da hast du noch einmal Glück gehabt, mein Freund! Aber jetzt keine Dummheiten mehr, okay!“ Bob nickte. „Gut.“
12:41 Uhr
Der Mann und Jonas sahen Bob zu, wie der sich fast besinnungslos betrank. „Schon Scheiße!“ sagte Jonas und rührte mit einem Löffel in seinem Kaffee herum.
„Er wird Gründe haben.“ sagte der Mann.
„Ach was!“ Jonas lachte. „Er betrinkt sich, weil er seinen Job verloren hat!“
„Ja.“ Der Mann nickte. „Und dabei war Bob nur das Opfer...“
„Wie meinen Sie das?“
Der Mann schüttelte den Kopf. „Das ist unwichtig, Jonas. Wichtig ist nur, daß Bob hier ist.“
„Warum ist es das?“
„Warum nicht?“ fragte der Mann und schob Jonas seine Tasse rüber.
„Schon gut, Sie Schlauberger!“ Jonas nahm die Tassen und stellte sie in das Spülbecken. „Wer sind Sie eigentlich?“ Der Mann sah ihn erstaunt an. Ha, dachte Jonas. Hab ich ihn also...
„Nein!“ Der Mann schüttelte lächelnd den Kopf. „Haben Sie nicht!“
„Sie sahen so...“
„Ich wollte es! Aber um Ihre Frage zu beantworten. Mein Name ist.... Wie spät ist es?“ Der Mann beugte sich leicht nach vorn und sah zur Uhr. „Oh...“
„Oh?“ fragte Jonas.
Der Mann nickte. „In fünf Minuten sollten Sie nicht hier sein, Jonas!“
„Was?“
Der Mann stand auf. „Seien Sie einfach nicht hier. Es erspart Ihnen unangenehme Fragen.“ Er ging zur Tür.
„He!“ rief Jonas. „Was soll das!“
„Noch vier, Jonas!“ sagte der Mann freundlich und verließ das Lokal.
Jonas stöhnte. „Was für ein Spinner! Oh man!“ Er sah zu Bob. „He! Alles okay?“ Bob gähnte und griff zur Flasche. „Ja, war ja klar.“ fluchte Jonas. Er sah zur Uhr.
12:46 Uhr
Noch drei Minuten. Scheiße, dachte Jonas. Was soll das? Was geht hier vor? Verunsichert sah er zu Bob. Seien Sie einfach nicht hier. Das hatte der Mann gesagt. „Verflucht!“
12:48 Uhr
Er hatte sich in der Toilette eingeschlossen. „So eine Scheiße! Das gibt es doch nicht.“ Jonas zitterte.
12:49 Uhr
Erschrocken zuckte er zusammen, als er Schüsse hörte. Vier Schüsse. „So eine Scheiße!“ Jonas hatte Angst. Sehr viel Angst. „Mist!“
12:58 Uhr
Die beiden Leichname wurde für den Abtransport vorbereitet. Jonas war noch immer schlecht. „Verzeihen Sie, was sagten Sie?“ fragte er den Officer. Oh Gott, dachte er. Gershwin! Der kam immer zehn Minuten vor eins. Und hatte Bob nicht bei ihm gearbeitet? Er dachte an diesen komischen Mann... Seien Sie einfach nicht hier. „Ja.“ murmelte er.
„Was?“ fragte der Officer.
„Oh...“ Jonas lächelte. „Nichts.“ Es erspart Ihnen unangenehme Fragen. Arschloch, dachte Jonas. Wenigstens da hatte der Typ sich geirrt. Er sah zum Kalender. 19. Juli 1954. So ein Arschloch!
ENDE
30.11.2001
copyright by Poncher (SV)
[Beitrag editiert von: Poncher am 30.11.2001 um 03:24]