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Jonas und die Apfelfee
„Natürlich, es geht hier ja immer nur um dich!“
Jonas, der sich gerade in der Küche ein Glas Orangensaft eingießen wollte, erstarrte als er Mutters Kreischen vernahm. Seine Eltern stritten nun schon, seit Vater nach Hause gekommen war.
„Um mich?“ Vater schrie vor Wut. „Ich reiße mir für euch den Arsch auf. Ich maloche mich halb zu Tode, damit wir uns all das hier leisten können!“
„Vielleicht brauchen wir ‚all das hier’ aber gar nicht!“ Mutter sprach nun leiser. Jonas hatte Probleme, noch alles zu verstehen. „Vielleicht tust du ‚das alles’ ja auch nur für dich. Damit alle sehen, was für ein toller Typ du doch bist. Darüber schon mal nachgedacht? Um uns geht es hier doch schon lange nicht mehr!“
Jonas verstand zwar nicht warum die Beiden stritten, wusste aber genau, dass er es hasste.
Stille.
Dann ergriff Vater wieder das Wort. Der Tonfall war nun ruhiger, klang aber noch immer zornig, sehr zornig: „Wenn du das so siehst, dann ist eine Trennung wohl tatsächlich das Beste.“
Jonas war zur Tür gehuscht, um seine Eltern besser verstehen zu können.
„Wahrscheinlich ist es das“, Mutters Stimme klang nun leise und erstickt.
Dann sah Jonas wie sein Vater aus dem Wohnzimmer stapfte, geradewegs auf die Haustür zusteuerte, diese öffnete und mit einem lauten Knall hinter sich zuschlug.
Jonas, halb hinter dem Türpfosten verborgen, hatte er nicht bemerkt.
Draußen startete der neue BMW, auf den Vater so stolz war, und brauste davon.
Im Wohnzimmer schluchzte Mutter.
Jonas war wie erstarrt.
„Trennung“, hatte Vater gesagt. Jonas wusste genau, was Trennung bedeutete. Karlos Eltern lebten in Trennung. Das hieß, Karlo hatte entscheiden können, ob er lieber bei seinem Vater oder seiner Mutter bleiben wolle. Nun wohnte er allein mit seiner Mutter. Seinen Vater bekam er seitdem nur noch selten zu sehen.
Das wollte Jonas nicht! Er wollte nicht zwischen Vater und Mutter wählen müssen. Doch was konnte er schon dagegen tun?
Angestrengt dachte er nach und meinte schon bald sein Kopf müsse explodieren.
Da fiel ihm eine von Großvaters Geschichten ein. Großvater war der beste Geschichtenerzähler der Welt!
Einmal hatte er von einem Waisenjungen erzählt, der von seinen Stiefeltern sehr schlecht behandelt worden war. Eines Tages hatte er einen Apfel gestohlen. Als er ihn gerade essen wollte, war die Apfelfee erschienen. Mit ihrer Hilfe hatte der Junge seine wahren Eltern wieder gefunden.
Großvater hatte damals erzählt, wenn kleine Kinder in Not seien, erscheine die Apfelfee manchmal noch immer. Man müsse nur fest genug daran glauben.
Vielleicht würde die Apfelfee ja auch ihm helfen!
Jonas drehte sich um. Aus dem Obstkorb lachte ihm ein dicker, roter Apfel entgegen.
Er griff danach. Dann schlich er leise zur Haustür.
Noch immer klang Mutters Schluchzen aus dem Wohnzimmer.
Jonas hielt kurz inne. Sollte er sie trösten? Nein, er hatte Wichtigeres zu tun.
Ganz leise öffnete Jonas die Haustür ein wenig, schlüpfte hinaus und zog sie mit einem sanften „Klick“ wieder ins Schloss.
Es war Freitagabend. In den sauberen Vorgärten der Nachbarshäuser zischten Rasensprenger vor sich hin.
Jonas begann zu rennen. Er rannte die Straße hinunter, überquerte den Spielplatz am Ende der Straße und verschwand im dahinter gelegenen Wäldchen.
Als er die kleine Lichtung, seinen Geheimplatz, erreicht hatte, war er völlig außer Atem. Auf einem verwitterten Baumstamm ließ er sich nieder. Den Apfel legte er vor sich auf den Boden und fixierte ihn mit starrem Blick. Was musste er nun tun? Wie der Junge in der Geschichte es geschafft hatte, dass die Apfelfee erschien, hatte Großvater nie erzählt.
Jonas verharrte einige Minuten - keine Apfelfee erschien.
Vielleicht glaubte er nicht fest genug. Er erhob sich wieder und griff nach dem Apfel. Er nahm ihn in beide Hände und schloss die Augen.
Ganz fest dachte er nun an die Apfelfee. Wieder passierte nichts.
Enttäuscht starrte Jonas auf den Apfel in seinen Händen.
Warum erschien die Fee nicht? War vielleicht die Situation in der er sich befand nicht schlimm genug? Oder war das mit der Apfelfee ein Schwindel?
Er setzte sich wieder auf den Baumstamm. Wie lange er so da gesessen hatte, wusste Jonas nicht. Die Grillen zirpten, und es begann bereits zu dämmern.
Wenn er nun in den Wald hinein blickte, wurde ihm ein wenig mulmig. Überall krochen Schatten hervor und begannen alles in Dunkelheit zu hüllen.
Da hörte er aus der Ferne plötzlich eine Stimme. Es war Mutter, sie rief nach ihm. Kurz überlegte er, einfach sitzen zu bleiben. Aber dann vernahm er eine weitere Stimme - die seines Vaters!
Nun vergaß der Junge die drohenden Schatten, stand auf und rannte auf die Rufenden zu, die er nun deutlich als die seiner Eltern erkannte. Den Apfel hielt er immer noch fest in Händen.
Einige Male wäre er fast im Halbdunkel des Waldes über herumliegende Äste gestolpert, konnte sich aber immer noch fangen.
Da waren seine Eltern. Sie gingen auf dem schmalen Jogger-Pfad, der sich durch den Wald schlängelte, spähten zu allen Seiten und riefen Jonas’ Namen.
„Mama, Papa!“, stieß Jonas freudig hervor.
„Da bist du ja, mein Junge!“ Vater hatte den heranstürmenden Jonas zuerst entdeckt. Er drückte ihn fest an sich: „Du kannst doch nicht einfach weglaufen. Wir haben uns solche Sorgen gemacht! Wir werden nie wieder streiten. Versprochen!“
Mutter streichelte Jonas sanft über das blonde Haar. „Versprochen“, sagte auch sie und blickte Vater dabei tief in die Augen.
Vater und Mutter unterhielten sich in einem ruhigen Tonfall als die Drei zurück nach Haus gingen. Als sie das Dunkel des Waldes hinter sich gelassen und den Spielplatz erreicht hatten, ließ Jonas sich etwas zurück fallen.
Fest nahm er den Apfel in die rechte Hand, sah ihn an und sagt leise: „Danke!“
„Jonas du trödelst!“, hörte er Mutter einige Schritte vor sich rufen. Dann eilte er seinen Eltern hinterher.