- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
Johns Schicksal
John und der Mann mit der Waffe
John.
Um ihn herum war Stille. Obwohl tausende gekommen waren, nur um ihn und die anderen sechs zu sehen, hoerte er keinen einzigen von ihnen - und er sah sie auch nicht, da das grelle Licht der Scheinwerfer auf ihn und seine Leidensgenossen gerichtet war. Es blendete ihn, und er fuehlte sich, als wuerde er direkt in die Sonne starren, egal wohin er seinen Kopf drehte - ueberall die grelle Sonne der Scheinwerfer. John konnte nicht viel sehen, aber er sah, dass der Mann mit der Waffe sich nicht bewegte- noch nicht. Er stand nur da und beobachtete die sieben Maenner, in einer perfekten Linie aufgereiht, wie man es ihnen angewiesen hatte."Tu es endlich", dachte John, "dann ist es vorbei." Er wollte nicht laenger warten. Als er seinen Kopf kurz drehte, konnte er im vorbeihuschen das Gesicht seines Nachbarn sehen, und wusste , dass er genau dasselbe dachte. Ein Tropfen rann von seiner Stirn. Zwei. Drei. Jetzt konnte er das leichte kitzeln auch auf seinen Backen vernehmen, und nur zu gern haette er sich von diesem kribbelnden Gefuehl befreit und die Schweisstropfen weggewischt, aber er konnte nicht. Er konnte seine Haende nicht bewegen. Er durfte seine Haende nicht bewegen.
Wie wird es wohl sein, wenn alles vorbei ist? Was kommt danach? John musste an seine Familie denken. Seine Frau, seine drei Kinder. Wie wuerde es ihnen gehen? Er verdraengte die Gedanken, und stattdessen fing John an, das Vaterunser zu beten - er war schon als kleiner Junge christlich aufgezogen worden und hat seinen Glauben bis zum heutigen Tag nicht verloren. Er hielt es fuer das beste, in so einer Situation zu beten, auch wenn er nicht wirklich glaubte, das ihm Gott hier helfen koennte. Er hoffte nur, dass sie seine Lippenbewegungen nicht sehen konnten. Er war sich sicher, dass, wenn sie es konnten, auch verstehen konnten, was er tat.
Als John sein Heimatland vor zwei Wochen verlassen hatte, hielt er es alles fuer ein tolles Abenteuer. Aber jetzt, am anderen Ende der Welt, wurde ihm der Ernst der Lage bewusst, er wusste, dass ihm hier keiner seiner Kameraden mehr helfen kann. Niemand kann ihm jetzt noch helfen. John hoffte nur, das es schnell ging. So schnell wie moeglich.
Immer wieder warf er dem Mann mit der Waffe kurze Blicke zu. Er ruehrte sich immer noch nicht. Warum nicht? Eigentlich muesste es schon laengst geschehen sein. John sah ihn nur ab und zu etwas in sein Funkgeraet nuscheln - konnte aber nichts verstehen. Was ist faul? Warum tut er es nicht?
John dachte, er wuerde es nicht mehr laenger aushalten. Die Blicke, die er jetzt spueren konnte, mehr als je zuvor, schienen jede seiner Bewegungen zu beobachten- und er konnte jetzt eine Unruhe wahrnehmen, die sich im sensationsgierigen Publikum breitmachte. Jetzt ist es so weit, dachte er. Der Mann mit der Waffe wuerde gleich den Revolver heben und feuern.
Und er tat es. Langsam hob er seinen Arm, stets steif von sich, mit der Waffe in der Hand, den Finger auf dem Abzug. In John machte sich ploetzlich ein Gefuehl breit, dass ihm sagte:"Es ist zu frueh! Nein, bitte drueck nicht ab, noch nicht!" Aber er wusste, es gab keinen Ausweg mehr. Es ist zu spaet. John hatte inzwischen den Text des Vaterunsers vergessen und einfach nur frei aus dem Bauch raus irgendwas gebetet. Er musste nochmal an seine Familie denken, an seine Frau, die jetzt zuhause mit den Kindern war.
Der Mann schoss. John richtete sich auf und rann um Leben oder Tod. Er schaute nach links, wo eben noch sein Nachbar genau neben ihm war - er war verschwunden. John's Beine trugen ihn automatisch, er konnte sie nicht einmal fuehlen. Waren sie noch da? Die Blicke der Menschenmenge brannten wie Feuer, er konnte es genau auf den freien Flaechen seiner Haut fuehlen. Es schien sogar durch seine Kleidung zu brennen, zumindest durch die wenige Bekleidung, die man ihm gestattet hatte. "Verdammt John, du musst laufen!!!!" dachte er. Aber er tat es schon - so schnell er konnte, er musste einfach hoffen, dass es schnell genug war.
Nach 100m, er war sich ziemlich sicher das es jetzt 100m Meter waren, fing die Menge and zu schreien und zu kreischen - John konnte ihre Blicke immernoch spueren, aber er war jetzt sehr erleichtert. Er wurde langsamer und sank schliesslich in die Knie, riss dabei seine Haende in die Luft und stiess einen lauten Schrei aus. "Es ist vorbei" dachte er, "endlich vorbei."
Am naechsten Tag stand John frueh auf. Er liess sich vom Hoteljungen die Zeitung bringen , setzte sich auf die weiche, mit Kissen bedeckte Couch, legte die Fuesse hoch und betrachtete sein Bild auf der Titelseite, unter der Ueberschrift: "Neuer Olympiasieger im 100m Lauf betet Vaterunser vor dem Startschuss".
Mist, sie haben seine Lippenbewegungen gesehen.