Johannisbeere
Dunkelheit, obwohl ihre Augen weit geöffnet waren.
Der scharfe Duft von brennenden Kerzen, Schweiß und schwerem Moschus drang in ihre Nase.
War es wirklich so? So wie es sein sollte?
Die nasse Strasse glitzerte vom Schein der Laternen. Die Kühle des abendlichen Regens nahm die Hitze des Tages mit hinfort und gab ihm das Leuchten in seine Augen zurück. Er mochte die Hitze der Stadt einfach nicht. Langsam schritt er weiter, kein festes Ziel vor Augen, er wanderte gerne umher, sog die die Luft ein, schmeckte sie förmlich.
Diese Stadt, die ihn gleichzeitig erheiterte und anwiderte. Nirgends anders konnte er sein.
Er bog um eine Ecke, die ihn zum Park führte. Dieser Park war fast sein zweites Zuhause, jeden Tag kam er hierher, setzte sich auf die zimmergleiche Bank und starrte in sich hinein.
Hier war er frei, hier konnte er er selbst sein.
Mochten ihn die vorüber gehenden Menschen findet oder misstrauisch anschauen, hier war er frei.
Er schreckte auf.
„…strasse ist?“
Sein Blick wurde starr, eisig.
Er konnte es nicht glauben, wie sie vor ihm stand. Noch bevor die Worte verklungen waren hatte er sich wieder gefasst. Er durchblickte sie. Sah alles. Lächelte.
„Natürlich, entschuldigen Sie …!“, drang seine Stimme zäh wie aushärtender Karamell zu ihr.
„Einfach durch den Park und an der dritten Kreuzung links.“
Sie nickte unsicher lächelnd und ging.
Als er in seine dunkle Wohnung kam, drückte er langsam die Tür zu.
Er schloss die Augen und erstarrte.
Dieser fragile Duft …
Vorsichtig atmete er ein, vorsichtig, nicht ein einzelnes Molekül freigebend.
Johannisbeere.
Er öffnete seinen Mantel und zog ihn mit bedachten Bewegungen aus. Nachdem er ihn aufgehängt hatte, schritt er in das dunkle Wohnzimmer. Die Leuchtreklame auf der gegenüberliegende Seite des Hauses drang durch die halboffene Jalousie und brachte die Schatten zum Tanzen.
Er ging zu seinem Sessel und nahm Platz. Er schlug die Beine übereinander und legte die gefalteten Hände zu seinem Kinn.
Ruhig saß er da. Starrte mit geschlossenen Augen in die Dunkelheit und die Stille.
„Ich habe dich nicht so früh erwartet.“
Das Erklingen seiner Stimme schnitt durch die finstere Stille. Seine Stimme kam ihm wie ein Fremdkörper vor.
„Sie ist hier.“
Er öffnete die Augen.
„Sag das nicht. Wir beide wissen, dass sie es nicht wagen würde.“
„Und dennoch bin ich hier und sage dir, dass sie hier ist.“
Er schloss die Augen und ein kaum merkliches Lächeln umspielte seine Lippen.
Energisch stand er auf und eilte, seinen Mantel greifend aus der Tür.
Im Schatten des Vorhangs verschmolz eine Gestalt mir der Dunkelheit.
Sie biss ihre Lippe. Der süße, metallische Geschmack einzelner Tropfen Blutes erinnerten sie. Die Fesseln rieben an einander. Rieben an ihrer Haut. Sie zitterte. Und als sie plötzlich von dieser warmen, festen Hand berührt wurde, schmeckte sie das Salz eine einzelnen ihrer Tränen.
Sein Blick wand die Strasse entlang. Er kannte jedes Detail. Jede Unebenheit.
Es war, als ob es er vor einer halben Stunde hier gewesen wäre. 14 Jahre war es her … Lange Jahre.
Ihr Abschied war ein einzelner Blick über einen vollen Bahnsteig hinweg. Und dennoch so voller unausgesprochener Worte.
Sie würden sich nie wieder sehen. Das wußte er. Das hoffte er.
Und doch war er wieder hier. Starrte auf das erleuchtete Fenster.
Die Tür war immer noch so schwergängig wie zu jener Zeit. Die Erinnerungen an diese eine Woche miteinander blitzten vor seinen Augen auf. Ihre Stimme klang in seinen Ohren nach.
Es roch immer noch wie damals.
Er ging langsam die Treppe hinauf. Er kannte jede Stufe, jede lose Diele, jede Rauheit des Treppengeländers.
Er griff den Knauf der Tür und atmete tief ein.
Johannisbeere.
Es zog an ihr. Der Schmerz durchflutete sie. Wie von einem entfernten Raum hörte sie ihr Wimmern. Sie konnte nicht anders als knien. Die Fesseln hielten sie. Die Fesseln gaben ihr Sicherheit.
Die Dusche perlte den feinen Schweiß, den der Tag auf ihren Leib gebracht hatte, ab. Sie genoss das Prasseln, das Strömen des Wasser auf ihrem Körper. Genoss die Kühle, die ihren Kopf hinunter rann, an ihrem Brustbein entlang, über ihre Schenkel.
Sie öffnete ihren Mund und liess das Wasser hineinlaufen. Mit geschlossenen Augen spürte sie, wie ihr Mund überlief, das Prickeln und Kitzeln, dass die feinen Strahlen auf ihrer Zunge verursachten.
Sie stieg aus der Dusche und konzentrierte sich auf das Gefühl, wie die verbliebenen Tropfen haltlos an ihrer Haut herunterrannen. Sie verharrte einige Sekunden in ihrer Selbsterfahrung.
Das nasse Haar klebte an ihrem Kopf.
Er liebte es, wenn sie so vor ihm stand.
Sie hielt inne.
Er.
Sie spürte wie ihr Herz anfing zu pochen.
Wieso musste sie nun ausgerechnet an ihn denken? Sie wusste, dass sie nicht hier sein sollte. Nicht hier sein durfte.
Aber sie war erst vor einer Stunde angekommen und würde in zwei Stunden wieder fort sein.
Sie spürte das Spannen der Haut ihres Halses, zum Pulsieren ihres Blutes.
Sie schaute zu ihrem beschlagenen Spiegel hinüber. Sie sah sich an. Sah sich nackt, nass, die schwarzen Haare, die sich einem Wasserfall gleich über ihre Brüste ergossen.
Sie ließ ihren Blick wandern, sah sich in ihre Augen. In diesem flüchtigen Moment sah sie sich, wie sie nur jemand anders sehen konnte, wie man jemanden sieht, den man durch das Fenster auf der anderen Strassenseite sieht.
Sie sah eine hübsche Frau.
Eine begehrenswerte Frau.
In diesem flüchtigen Moment sah sie sich, wie er sie sah.
Sie spürte ihren Körper. Jeden einzelnen Zentimeter ihrer Haut. Jede Faser der Fesseln. Ihre Lider rieben gegen die Binde, während sie versuchte zu sehen. Ihr ganzer Körper war gereizt, empfindlich für die sanftesten Eindrücke. Spürte jeden Hauch von Luft. Sie war ganz ruhig.
Sie spürte seine Hand an ihrem Hals.
Sie fröstelte.
Sie musste sich beeilen. Ihr Zug würde nicht warten.
Sie drehte sich um und ging zur Tür. Ihre Kleider und ihr Koffer lagen bereit. Nicht mehr lange und sie würde wieder fort sein.
Sie öffnete die Tür.
Schwärze empfing sie.
Er war da.
Er holte sie zu sich.
Endlich.