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Jogger
In Bourgnon, einem kleinen Dorf, in der Nähe von Clermont-Ferrand gelegen, sieht man jeden morgen um Punkt 5 Uhr in der Früh eine junge Frau aus der Tür eines Bauernhauses treten. Meißt läuft sie über die Felder, manchmal verlässt sie aber auch über die Straße das Dorf um zum Wald zu gelangen.
Im Sommer ist es angenehm, so zeitig unterwegs zu sein. Die Vögel singen und die kühle Luft, die die Lungen durchströmt, bringt dem Körper ein grenzenloses Gefühl von Frische. In den anderen Jahreszeiten werden die Wälder der Auvergne oft unheimlich, durch den Nebel der sich zwischen den Bäumen seinen Weg sucht. Viele Sagen drehen sich um die Wälder und deren Nebelgeister.
Das Mädchen von dem ich erzähle, heißt Julie. Nachdem sie die Schule beendet hat, arbeitet sie in Clermont-Ferrand bei Michelin. Ihre Eltern besitzen einen Bauernhof, allerdings ist die Existenz der hierzulande lebenden Bauern bedroht. Julie nimmt deswegen die Strapazen auf sich, in der Stadt zu arbeiten. Das bringt sehr viel Stress und Zeitdruck mit sich. Aufgrund des alltäglich gewordenen Staus muss Julie sehr zeitig aufstehen, um noch die gewohnte Runde laufen zu können.
Seit kurzer Zeit joggt die Frau nicht mehr allein. Ein junger Mann, der, genau wie sie, um 5 Uhr seinen Marsch beginnt, kreuzt immer öfter ihren Weg. Er ist attraktiv. Julie wird von attraktiven Männern förmlich angezogen, so versucht sie, ihm näher zu kommen. Er heißt Julien so viel wusste sie. Er zog aus der Stadt in ihr kleines Dorf als seine Mutter erkrankte. Der Stress in der Stadt machte sie schwach. Hier wollte sie gesünder leben und wieder neue Kräfte sammeln, genauso wie es Julie jeden Morgen tat, um den anstrengenden Tag in der Fabrik zu überstehen.
Als sie den finsteren Waldweg betritt, blickt sie sich voller Vorfreude um. Und tatsächlich. Der muskulöse junge Mann joggt ungefähr hundert Meter voraus. Sie wird ihm also folgen. Immer mit diese paar Metern Abstand. Vielleicht legt er eine Verschnaufpause ein, dann könnte sie ihn ansprechen.
Nach einer Weile des Aufwärmens steigert Julie ihre Geschwindigkeit. Auch ihr Vordermann hat vor einiger Zeit das Tempo enorm angezogen, so dass Julie ihn jetzt kaum noch erkennen kann. Der Nebel ist recht dicht. Der Gesang der Vögel und Die Geräusche diverser Tiere die Äste zertreten oder im Laub scharren ist zu laut, um seine Schritte ausfindig zu machen. Jetzt muss sie sich nach den Fußspuren im Matsch richten.
Umso enger der Weg wird und umso weiter er in das Unterholz führt, desto matschiger wird auch die Strecke: Julies Schuhe sind kaum noch als ihre weißen Adidas Laufschuhe zu entziffern. Sie muss vorsichtig sein, denn jeder Schritt könnte mit einem Rutschen verbunden sein. Aber sollte sie jetzt umdrehen? Sie wollte sich keine Zerrung zuziehen und umgeknickt war sie schon, aber heute wollte sie ihn unbedingt ansprechen. Ihn. Wo war er überhaupt. Hatte er vielleicht eine Abkürzung nach Hause genommen? Das wäre doch sicher zu gefährlich?! Julie konnte sich nicht vorstellen, dass er das Unterholz aufgesucht hätte, um Zeit zu sparen. In der Auvergne waren die Wälder gefährlich. Vor allem dann, wenn es feucht und nebelig war. Man konnte sich verirren oder genauso gut von einer Schlange gebissen werden. Solche Unfälle waren hier recht häufig. Nur, wusste er das auch? Immerhin kam er aus der Stadt. ‚Ach quatsch, gerade er wird sich aus Ehrfurcht davor hüten.’
Im Gedanken versunken hätte sie fast die Stelle verpasst, an der sie sonst immer eine Pause machte. Ein altes kleines Forsthaus war oft Unterschlupf für Wanderer geworden. Bei diesem Wetter; es hatte mittlerweile begonnen zu nieseln; suchte aber auch Julie häufig ein trockenes Plätzchen um zu verschnaufen. Vielleicht war er auch hier?
Julie betritt die Hütte. Der Staub setzt sich schon seit Jahren ab. Der alte Förster hat hier seinen Lebensabend verbracht. Kaum zu glauben, er musste gelebt haben wie im Mittelalter.
Julie macht es sich auf einem sauberen Stuhl bequem. Seit sie im Herbst wieder jeden Tag hier hält, hat sie sich eingerichtet. Auch einen Tauchsiedler zum Tee kochen hatte sie in einer der Kommoden versteckt. Von zu Hause nahm sie jeden Tag eine kleine Dose mit selbst gemachten Tee mit. Gerade heute genießt sie die innere Wärme, die bei jedem Schluck wohliger wird.
Julie zuckt zusammen als sich die Tür öffnet. Julien betritt die Hütte. Er ist verschwitzt trotz der Kälte. Sein Geruch ist unangenehm, aber Julie machte sich keine Gedanken darüber. Sie selbst würde sicherlich auch riechen, zumal sie erst nach der Tour duschen gehen würde. Er betrachtete sie, sagte aber kein Wort. Seine Hose und seine Hände waren dreckig. Vielleicht ist er gefallen oder ausgerutscht. Seine Hose ist am Hintern aufgerissen. ‚Sexy’‚ dachte Julie. Die Jacke trug er offen, doch wie er die Hütte betreten hatte, zog er den Reißverschluss bis unter die Nase. Unter dem dicken Wollstoff zeichnen sich seine Muskeln ab. Verwundert betrachtet sie nun sein Gesicht. Es sieht zerkratzt aus und eine blutige Wunde ziert seine Augenbraue. Seine blauen Augen starren ins Leere. Er sieht unglaublich männlich aus wie er da steht, so verschwitzt, geschunden und trotzdem noch stark.
„Geht es dir gut, du siehst so…mitgenommen aus?“ Julie versucht ein Gespräch anzufangen. Sie wollte das Wort geschunden nicht verwenden. Das klang für ihn vielleicht abstoßend. Trotzdem spricht sie ihn in einer freundlichen Du-Form an. „Ich mache dir einen Tee wenn du möchtest.“
Fragend blickt sie ihn an. Doch er antwortet nicht. Geht einfach zur Tür wieder heraus. ‚Merkwürdig.’ Sie machte sich Sorgen. Sah er doch sonst immer sehr gepflegt aus. Vielleicht war er krank und daher schwach. So ließe sich der Schweiß, der seine Klamotten durchdrang und etwas übel roch erklären. Sonst war ihr dies nie aufgefallen. Er roch immer normal. Aber was war mit seinem Blick? Er sah verängstigt aus. So starr und verletzt. Auch dass der so freundliche Mensch nichts sagte verwunderte sie. Im Dorf war er doch immer so beliebt gewesen, durch seine muntere, hilfsbereite Art. Lächelnd grüßte er alle, auch wenn es ihm nicht gut ging. Seine Familie hatte Schulden am Hals. Er spielte manchmal mit den Kindern Fußball oder half für nur wenige Franc bei der Ernte, wenn es mal eng wurde. Mittlerweile kannte und mochte ihn jeder im Dorf.
Nachdem sie grübelnd ihren Tee ausgetrunken hat, begibt sich Julie wieder auf den nach Hause Weg. Sie hatte die Zeit ganz vergessen und war ziemlich spät dran.
Als sie gerade erst einige Meter unterwegs ist, hörte sie Schritte dicht hinter sich. Julie wird nervös und beginnt schneller zu rennen. Doch die Schritte bleiben wie Kletten an ihr haften. Sie wagt es nicht sich umzudrehen. Als ihr fremder Atem im Nacken sitzt beginnt sie panisch die Richtung zu wechseln. Eine Berührung! Jemand versucht sie festzuhalten! Sie will sich ins Unterholz retten. Zwischen den Bäumen hindurch schielt sie zur Seite. Sie hatte erst wieder ein wenig Abstand erlangen können, jetzt sah sie aber, wie Julien abkürzt und schräg in ihre Richtung rennt. Julien! Wieso er? Und was wollte er? Sie fängt an zu schreien. Lange werden ihre Füße sie nicht mehr tragen können, lange werden ihre Lungen dem Druck nicht mehr standhalten. Dann noch die Gedanken. Was hatte er vor? Hätte er gute Absichten, warum sagt er dann nichts? In ihrer finsteren Gedankenwelt versunken kommt Julie ins straucheln. War das wirklich das Ende? Sie ist ihm ausgeliefert. Als ein größerer Ast ihren Weg kreuzt ist es zu spät. Sie fällt. Noch einmal versucht sie sich aufzurappeln, doch auf dem matschigen Untergrund rutscht sie immer wieder aus. Doch Moment! Wieso tut er ihr nichts. Sie blickte sich um. Nichts. „J-Julien?“ Immer noch nichts.“ Tränen steigen ihr ins Gesicht. Sie blickt sich wieder und wieder um. „Scheiße. Verflucht!
Von diesem Zeitpunkt an geht eine Suche los. Julie hat den Waldweg und Julien nie wieder gesehen. Die Wälder der Auvergne waren groß und gefährlich. Vor allem, wenn sich der Nebel zwischen den Bäumen seinen Weg sucht…
[Beitrag editiert von: ['instin(c)t] am 08.04.2002 um 19:41]