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Joeys - Ralph und Natalie
Wenn man von der Stadt aus auf der Landstraße Richtung Westen ging, kam man hinter der ersten Kurve zu einem großen Gasthof, der früher einmal die Diskothek Roadhouse war und der im Jahr 2001 zu Joeys Billard and Bowling Center wurde. Der Laden wurde hauptsächlich von den Jugendbanden und Raufbolden aus der Gegend besucht, die an den Türstehern des neueröffneten New Roadhouse im Osten der Stadt nicht vorbeikamen.
Joe Moretti, der Ladenbesitzer, verstand sich jedoch sehr gut darauf, für Ordnung zu sorgen. Moretti, ein untersetzter Mittfuffziger mit grauem Haar und Stirnglatze, trug gern teure italienische Anzüge, und in der Stadt munkelte man, er hätte Verbindungen zur Mafia. Die meist jugendlichen Gäste im Joeys respektierten ihn, und kaum einer wagte, im Lokal Ärger zu machen. Tat man es doch, musste man damit rechnen, dass man von Moretti höchstpersönlich vor die Tür gesetzt wurde und für immer Hausverbot bekam. Wenn es zu Schlägereien kam, was regelmäßig der Fall war, fanden sie hinter dem Gebäude auf dem Parkplatz statt.
Es gab im Joeys einen hell erleuchteten Saal mit sechs Bowlingbahnen und einen weiteren, in dem gedämpftes Licht eine gemütliche Atmosphäre schaffte. Dieser Raum wurde beherrscht von neun Poolbillardtischen, über denen jeweils Lampen mit grünem Schirm hingen, die nur eingeschaltet waren, wenn an den jeweiligen Tischen gespielt wurde. Entlang einer der Wände befanden sich Nischen mit Sitzecken und kleinen Tischen, wo man es sich gemütlich machen konnte und trotzdem das Geschehen im Saal im Auge behielt. An der Stirnseite des Raumes gab es eine große U-förmige Theke, an der man Getränke und Pommes bekam und wo man sich Billardkugeln ausleihen konnte, um an den Tischen zu spielen. Die beiden Räume waren nur durch einen schmalen Durchgang voneinander getrennt. Moretti hielt sich meistens in seinem Büro auf, das sich in einem abgetrennten Bereich in der Bowlinghalle befand.
Ralph Rohwer begann im Alter von siebzehn Jahren einen großen Teil seiner Freizeit im Joeys zu verbringen. Einer seiner Freunde, Matthias Thomsen, war meistens an zwei Abenden in der Woche und fast immer am Samstagabend dort anzutreffen, weil er an Billardturnieren teilnahm und deswegen regelmäßig im Joeys trainierte. Der Grund, warum Ralph so viel Zeit dort verbrachte, war jedoch ein ganz anderer. Dieser Grund hieß Natalie, und Ralph Rohwer hatte sich unsterblich in sie verliebt.
Natalie war eines der Mädchen, die hinter der Theke standen und die Gäste mit Getränken versorgten. Die Mädchen, die für Moretti arbeiteten, waren ausnahmslos hübsch, und man konnte sie alle an ihrem einheitlichen Outfit erkennen: schwarzer Minirock und ein knapp geschnittenes, bauchfreies Top mit der Aufschrift Joeys.
Natalie Maslewsky war jedoch nicht nur das hübscheste Mädchen im Joeys, sie war die Ballkönigin. Sie hatte den makellosesten Teint, den Ralph je gesehen hatte, dazu langes blondes Haar, rehbraune Augen, volle Lippen und eine absolut atemberaubende Figur. In ihrem Joeys-Outfit sah sie so unverschämt sexy aus, dass ihm jedes Mal bei ihrem Anblick das Wasser im Mund zusammenlief.
Es gab jedoch ein Problem: Mike Godorr. Natalie war Mikes Mädchen, und Mike war nicht nur der Anführer der Lions, einer Bande von Glatzköpfen, die gern Ausländer aufmischte, er war auch drei Jahre älter und wesentlich kräftiger als Ralph. Gewöhnlich tauchte Mike im Laufe des Abends auf, stolzierte wie ein Gockel durch das Lokal und hielt Ausschau nach neuen Gästen, denen er bei einer Partie Billard das Geld aus der Tasche ziehen konnte. Diejenigen, die ihn kannten, hüteten sich davor, mit ihm zu spielen, da er als schlechter Verlierer galt und gern Streit provozierte. Fand sich niemand, der gegen ihn antreten wollte, setzte er sich an die Theke, kippte ein paar Biere und verschwand dann meistens um kurz nach elf mit Natalie.
Die Sache mit Natalie setzte Ralph zu. Er konnte unmöglich Mike Godorr das Mädchen ausspannen, ohne diverse Knochenbrüche zu riskieren. Da machte er sich nichts vor. Er war kein guter Kämpfer und ging Raufereien lieber aus dem Weg. Andererseits konnte er sich Natalie auch nicht aus dem Kopf schlagen. Also blieb ihm nur, von ihr zu träumen, so oft es ging ins Joeys zu kommen, und sie aus der Ferne zu beobachten. Manchmal, wenn Matthias nicht da war, setzte er sich an die Theke und bestellte eine Cola, nur um eine Weile in ihrer Nähe zu sein.
Nach einiger Zeit muss sie gemerkt haben, was mit ihm los war, und es muss ihr geschmeichelt haben, denn obwohl Ralph nicht der einzige männliche Gast war, der ihr verstohlen bewundernde Blicke zuwarf, war sie nett zu ihm, wenn Mike nicht in der Nähe war. Sie kam zu ihm und unterhielt sich mit ihm, wenn sie nicht gerade alle Hände voll zu tun hatte, und manchmal warf sie ihm einen dieser Blicke zu, die eine Sekunde zu lange dauern, um unverbindlich zu sein.
Damit jagte sie ihm jedes mal wohlige Schauer über den Rücken und weckte in Ralph die Hoffnung, dass sie Mike bald den Laufpass geben würde. Eines Abends, Ralph hatte sich gerade an die Theke gesetzt, kam Natalie direkt auf ihn zu. Es war noch nicht einmal acht, und das Joeys so gut wie leer. Sie beugte sich über die Theke, so dass ihr Gesicht seinem ganz Nahe war, und sah ihm lang und tief in die Augen. Dann sagte sie: „Du musst verrückt sein, wenn du dich mit Mike anlegen willst, aber ich mag dich.“
Ralph wurde für einen Moment ganz schwindlig, und so bemerkte er nicht, dass Kai Peters, ein Mitglied der Lions, sie aus einer der Nischen an der Wand aufmerksam beobachtete. Bevor Ralph etwas erwidern konnte, hatte Natalie sich auch schon zurückgezogen, um von einem pickeligen Jungen am anderen Ende der Theke eine Bestellung aufzunehmen.
Das Lokal füllte sich rasch, und Natalie schien an diesem Abend keine Zeit mehr für ihn zu haben. Ralph spielte eine Weile allein an einem der Billardtische, aber als um neun noch keiner seiner Bekannten aufgetaucht war, machte er sich auf den Heimweg. Dabei träumte er davon, wie es wäre, mit Natalie durchzubrennen.
Am nächsten Abend war Natalie nicht da. Ralph spielte eine Partie Billard mit einem jungen Burschen, der wie er oft allein ins Joeys kam und einen Spielpartner suchte. Ralph beugte sich gerade über den Tisch, um die Vier in einer Seitentasche zu versenken. Er war ganz auf das Spiel konzentriert und achtete nicht darauf, was um ihn herum geschah.
Er bemerkte Mike erst, als dieser ihn packte und quer über den Billardtisch schleuderte. Ralph landete hart auf dem Fußboden, und sein Billardqueue landete klappernd neben ihm. Benommen kam Ralph wieder auf die Füße. Vor ihm stand Mike Godorr und betrachtete ihn wie ein lästiges Insekt, dass er am liebsten sofort zerquetschen würde.
„Ich hab mit dir zu reden“, sagte Mike. Er sprach ganz ruhig, aber seine Augen blitzten vor Zorn. „In fünf Minuten - auf dem Parkplatz. Und wenn du nicht freiwillig kommst - “
Er zog ein großes Klappmesser aus der Tasche und drückte auf den Chromknopf. Eine etwa zehn Zentimeter lange Klinge blitzte vor Ralphs Nase auf.
„ - bekommst du das hier zu spüren.“
In der Billardhalle herrschte augenblicklich Totenstille. Alle Anwesenden beobachteten die beiden gebannt. In diesem Moment tauchte Joe Moretti im Durchgang zur Bowlinghalle auf. Er räusperte sich.
Mike, der mit dem Rücken zum Durchgang stand, ließ blitzschnell das Messer verschwinden, dann drehte er sich betont langsam um. Moretti musterte ihn streng, sagte aber kein Wort.
„Wir sehen uns gleich,“ zischte Mike Ralph zu und verließ dann, lässig gehend, das Lokal. Moretti sah ihm argwöhnisch hinterher, und als die Tür hinter Mike zufiel, warf er noch einen Blick in die Runde, ging dann aber zurück in sein Büro.
Die Anspannung der Anwesenden löste sich spürbar und wich leisem Gemurmel. Die Aufmerksamkeit der Gäste und des Mädchens an der Bar galt aber immer noch Ralph. Die Gäste tuschelten miteinander, und einige warfen ihm mitleidige Blicke zu. Ralph wäre am liebsten im Fußboden versunken. Er war sich nicht sicher, ob er das richtige tat, klopfte sich aber den Staub ab und folgte Mike auf den Parkplatz. Er würde so oder so Prügel beziehen, und wenn er sich Mike jetzt stellte, stünde er wenigstens nicht wie ein Feigling da. Zwar würde Mike sich vielleicht verziehen, wenn Ralph im Lokal blieb, aber früher oder später würde er ihn erwischen. Sei es im Park, auf dem Schulweg oder in einer dunklen Seitenstraße – Mike Godorr würde ihn finden. Und dann würde er vielleicht wirklich das Messer benutzen.
Mike machte keinen Gebrauch von seinem Messer, aber für Ralph wurde es auch so die schlimmste Tracht Prügel seines Lebens. Mike prügelte ihn windelweich, während Ralph nicht einen einzigen Treffer bei ihm landen konnte. Als er mit ihm fertig war, lag Ralph gekrümmt auf dem Boden und heulte.
„Okay“, sagte Mike schließlich, „lass dir das eine Lehre sein. Niemand macht mein Mädchen an!“
Er drehte sich um und stolzierte davon. Die Schaulustigen, die Ralph nach draußen gefolgt waren, zogen sich nach und nach ins Joeys zurück. Niemand half Ralph auf oder tröstete ihn, und so blieb er einfach eine Weile im Dreck liegen, heulte und wartete darauf, dass der Schmerz nachließ.
Er lag gute zehn Minuten im Dreck, doch schließlich rappelte er sich auf und schlich humpelnd nach Hause. Ralph erzählte seiner Mutter, er sei von ein paar Raufbolden verprügelt worden, die er nie zuvor gesehen hatte. In dieser Nacht lag Ralph Rohwer noch lange Zeit wach im Bett, und dachte über die Mike Godorrs dieser Welt nach.