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Joey
Überall Blut. Und diese Schmerzen!
Immer noch total perplex von der Leichtigkeit, mit der das Messer durch meine Haut, mein Fleisch, meine Muskeln gestoßen wurde, starre ich voller Ehrfurcht auf die blutende Wunde. Ich wurde noch nie ernsthaft verletzt. Auch diese Verletzung ist nicht lebensbedrohlich, aber das ändert nichts daran, dass es verdammt noch mal höllisch schmerzt. Ich weiß nicht, was ich tun soll, wo ich hin soll. Wie ich aus dieser Scheiße wieder rauskomme.
Langsam sehe ich mich um. Derjenige, der mir das Messer in die Schulter gestoßen hatte, ist weit und breit nicht zu sehen.
Noch nicht.
Das kann sich aber schnell ändern. Er sah wütend aus. Sehr wütend. Und dabei kenne ich den Kerl nicht mal. Bin ihm vor fünf Minuten an der Tankstelle um die Ecke begegnet, als er plötzlich anfängt, mit einer mitgebrachten Knarre die Leute abzuballern. Als die Munition alle ist, und rund um mich durchlöcherte Leichen in ihrem eigenen Blut baden, lässt er die Pistole fallen, schnappt sich das Teppich-Messer hinterm Verkaufstresen und noch bevor ich reagieren kann, hat er dem jungen Mädchen neben dem Regal mit den Zeitschriften, das den Kugel-Hagel interessanterweise überlebt hatte, die Kehle aufgeschlitzt. Und noch bevor die Leiche zu Boden ging, habe ich auch schon das Messer in der Schulter stecken. Es ging alles so schnell, dass ich nicht mal mitbekommen habe, dass ich mich nach draußen bewegt habe, immer schneller wurde, und schließlich nur noch daran dachte, zu laufen, rennen, sprinten – bloß weg von dem Kerl.
Und nun bin ich hier – in dieser dunklen Gasse, darauf hoffend, dass dieser Scheißkerl in die andere Richtung davon gerauscht ist.
Ich nehme all meinen Mut zusammen, verkrampfe meinen Kiefer so dermaßen, dass der Schmerz den anderen beinahe übertrifft und presse meine Hand auf die Wunde. Ich muss dringend in ein Krankenhaus. Aber zuerst muss ich weg von hier. Weg von dem Grauen, das mir immer noch eine Gänsehaut verursacht.
Und dabei wollte ich doch nur Zigaretten kaufen, verdammt!
Plötzlich höre ich ein Geräusch, das mich zusammenfahren lässt. Es kommt aus der Richtung, aus der ich gekommen bin.
Das ist er, das ist er, das ist er! Oh Gott, das ist er! Er wird mich töten! Was soll ich nur tun? Schnell sehe ich mich nach meinen Möglichkeiten um.
Ich befinde mich in einer schmalen Gasse, links und rechts kein Ausweg. Sämtliche Türen sind geschlossen, hinter den wenigen Fenstern ist es dunkel. Kein Wunder, es ist ja auch drei Uhr Nachts.
Vielleicht kann ich jemanden aus den Häusern um Hilfe bitten.
Nein, keine gute Idee. Er könnte mich hören. Es bleibt also nur der Weg nach hinten oder in die Arme des Killers.
Ich brauche nicht lange zu überlegen, denn wer ist schon so blöd und läuft geradewegs auf das Unheil zu? Langsam beginne ich, weiter in die dunkle Gasse hineinzuschleichen, immer darauf bedacht, nur ja kein Geräusch zu machen.
Ich kann seine schlurfenden Schritte hören, und obwohl er sich langsamer bewegt als ich, habe ich das Gefühl, dass er dennoch schneller ist. Mit jedem Schritt, den ich mache, macht er zwei und kommt immer näher. Ich spüre bereits seine Hand in meinem Nacken, als mich seine Stimme plötzlich innehalten lässt.
„Oh, Joooeeeeyyyy!“
Er kennt meinen Namen.
Woher, zum Teufel, kennt dieser Wixer meinen Namen?
Ich verharre in meiner derzeitigen Position, darauf wartend, was er als Nächstes vorhat.
„Es hat keinen Sinn, davonzulaufen“, setzt er fort. „Du musst wieder zurück zur Tankstelle. Dort ist dein Platz.“
Wovon zum Teufel redet er da? Auf keinen Fall gehe ich wieder zurück zur Tankstelle. Da liegen überall Leichen rum. Es war schon schlimm genug, dabei sein zu müssen, als all diese Menschen den Tod fanden. Dorthin wieder zurückkehren zu müssen kommt gar nicht in Frage.
„Komm schon, Joey. Tu dir selbst einen Gefallen. Ich weiß, dass du hier bist. Der rote Faden folgt dir überall hin.“
Er beginnt zu kichern. Wie ein kleines Kind. Fuck, was stimmt mit dem Kerl nicht?
Nach einem Blick auf meine Schulter erkenne ich, dass meine Hand das Blut nicht wirklich daran hindert, weiter meinen Körper hinab zu fließen. Es ist mir bis jetzt gar nicht aufgefallen. Muss wohl am Schock liegen. Aber er hat Recht; wenn ich weiter so blute, kann ich mich auch gleich ergeben – früher oder später würde er mich finden. Lautlos ziehe ich mein Hemd aus und presse es auf die Wunde. Es schmerzt höllisch aber ich beiße die Zähne zusammen und unterdrücke ein Stöhnen.
Nachdem der Schmerz etwas nachgelassen hat, bewege ich mich langsam weiter. Nur weg von ihm. Ich weiß nicht, ob er – wieder – bewaffnet ist, aber ich will es, ehrlich gesagt, auch gar nicht erst herausfinden.
Eine Weile schleiche ich die Gasse weiter nach hinten. Ich entdecke eine Nebengasse, die nach einigen Metern auf die Hauptstraße führt. Und die Hauptstraße bietet bessere Fluchtmöglichkeiten. Nach einem kurzen Blick hinter mich, mache ich einen Satz und sprinte durch die Nebengasse auf die Hauptstraße zu. Ich verschwende keine Gedanken mehr daran, ob er mich hört oder sieht, sondern laufe, wie ich noch nie zuvor gelaufen bin. Bereits nach wenigen Metern beginnt meine Lunge zu brennen. Liegt wohl an den zwanzig Zigaretten pro Tag, aber das kümmert mich nicht, da ich meine Freiheit bereits förmlich riechen kann. Nur noch wenige Meter trennen mich von der Hauptstraße, als plötzlich eine Gestalt am Ende der Gasse auftaucht. Noch bevor ich registriere, um wen es sich handelt, versuche ich, abzubremsen, um in die andere Richtung davonzulaufen. Es gelingt mir nicht. Ich stolpere über eine am Boden liegende leere Getränkedose, falle in vollem Lauf auf die Knie und rutsche noch ein paar Meter auf dem rutschigen Boden, bis ich schließlich kurz vor der Gestalt, auf allen Vieren, zum Halten komme. Ich blicke nach oben und erkenne ihn. Den Hurensohn aus der Tankstelle. Der mehrere Menschen umgebracht hat. Der meinen Namen kennt.
Resigniert, und mit Tränen in den Augen frage ich ihn, was er von mir will, denn ich habe einfach nicht mehr die Kraft, mich jetzt nochmal aufzurappeln und in die andere Richtung davonzustürmen.
Er kommt mit seinem Gesicht ganz nah an meines. Ich kann seinen fauligen Atem riechen und doch, obwohl er so nah ist, kann ich nicht erkennen, wie er aussieht, mit welchem Ausdruck er mich anblickt.
Eine Weile verharrt er so vor mir, sagt kein Wort.
Plötzlich richtet er sich ruckartig auf und sagt: „Du hast deine Brieftasche vergessen. Hier.“
Er wirft mir die Brieftasche in den Schoß. Irritiert blicke ich auf das kleine, blutbefleckte, Lederquadrat.
Das kann doch wohl nicht sein Ernst sein, oder? Diese ganze Scheiße weil er mir die Brieftasche zurückgeben will?
Ich blicke wieder auf, doch er ist weg. Keine Ahnung, wie er das gemacht hat, aber er ist weg. Weit und breit nichts von ihm zu sehen. Ich schüttle den Kopf, blinzle mehrmals mit den Augen, aber er bleibt verschwunden. Und doch kann ich immer noch seinen fauligen Atem riechen.
Ich stecke die Brieftasche in meine Hosentasche und richte mich langsam auf. Bevor ich auf die Hauptstraße gehe, drehe ich mich einmal um die eigene Achse, um zu prüfen, ob er vielleicht hinter mir lauert – Fehlanzeige.
Ich sammle mein Hemd, das ich während meiner tollen Stolpereinlage fallen gelassen hatte, wieder ein und presse es erneut auf meine schmerzende Schulter. Während ich auf die Hauptstraße zugehe, beginne ich mich zu fragen, ob ich mir das Ereignis an der Tankstelle vielleicht nur eingebildet habe, aber ein Blick auf meine blutende Schulter überzeugt mich davon, dass das alles tatsächlich passiert ist. Ich beschließe, auf schnellstem Wege von hier zu verschwinden, stelle aber fest, dass mein Wagen immer noch bei der Tankstelle parkt.
Fuck!
Was mache ich jetzt nur? Zurück kann ich nicht, denn er wird definitiv dort auf mich warten. Ich blicke mich um, auf der Suche nach einem sicheren Ort oder jemandem, der mir helfen kann.
Wo bin ich hier nur gelandet? Klar, es ist drei Uhr Nachts, aber deswegen muss dieses Kaff ja nicht zur Geisterstadt mutieren, oder?
Während ich mir die Gegend ansehe, entdecke ich plötzlich eine Tür, die einen Spalt weit offen ist. Ich laufe darauf zu, doch bevor ich sie erreichen kann, wird sie schnell geschlossen.
„Bitte! Ich brauche Hilfe!“, flehe ich denjenigen an, der hinter der Tür stehen musste.
Als niemand reagiert, klopfe ich an die Tür. Zuerst leise, damit der Killer mich nicht hört. Doch dann packt mich die Angst und ich hämmere heftig dagegen. So heftig es mit einer verletzten Schulter eben geht.
„Bitte! Jemand verfolgt mich! Er hat Leute umgebracht, und jetzt ist er hinter mir her!“
Keine Reaktion.
Ich blicke mich erneut um. Die Wunde schmerzt nun wieder stärker und die Angst beginnt, mich zu beherrschen. Ich spüre, wie sich meine Augen langsam mit Tränen füllen.
Wie komme ich hier nur wieder raus?
Auf der ganzen Straße ist weit und breit niemand zu sehen, kein einziges Licht brennt. Wie kann das sein? Irgendjemand muss doch den Krach bei der Tankstelle gehört haben. Gibt es hier keine Polizei-Station?
„Wir können dir nicht helfen“, höre ich plötzlich eine Stimme sagen. Es klingt dumpf und muss von der Person kommen, die anscheinend immer noch hinter der Tür steht.
Ich drehe mich um und frage: „Warum nicht? Sie brauchen mich doch nur hineinzulassen, damit ich die Polizei rufen kann.“
„Das geht nicht. Du gehörst nicht hierher.“
„Öffnen Sie die Tür! Bitte!“
Keine Antwort. Verdammt!
Ich blicke auf meine Schulter und stelle fest, dass die Blutung langsam nachlässt. Wenigstens etwas. Da ich zu frösteln beginne, streife ich mein Hemd wieder über und beginne, die Hauptstraße entlang zu laufen. Wenn mir hier niemand helfen will, dann muss ich eben irgendwie aus diesem Kaff rauskommen. Die Straße führt ja schließlich irgendwohin.
Panisch laufe ich, bis mir die Luft langsam ausgeht, dann trotte ich weiter.
Dieses Kaff scheint nicht enden zu wollen!
Plötzlich höre ich wieder die, inzwischen vertraute, Stimme.
„Oh, Joooeeeeyyyy!“
Verdammt.
Ich bin verletzt, habe keine Ahnung, wo ich eigentlich bin und ein Psycho-Killer ist hinter mir her. Man könnte meinen, ich sei in einem schlechten Horror-Film. Aber auch wenn ich versuche, cool zu bleiben und klar zu denken, verspüre ich einfach nur den Drang, mich irgendwo zu verstecken und mir vor lauter Angst die Hosen voll zu pinkeln. Definitiv kein Film, sondern Realität.
„Du bist der Nächste!“
Wieder dieses kindliche Kichern.
Er ist in der Nähe, hat mich aber wahrscheinlich noch nicht entdeckt. Oder er spielt mit mir. Wenn es letzteres ist, habe ich so gut wie verloren.
Ich muss mir einen Ort suchen, an dem ich vorläufig sicher bin. Die Hauptstraße scheidet da definitiv aus. Aber wo kann ich mich verstecken? Schnell blicke ich mich um. Aber alles, was ich sehe, sind dunkle Gassen und verschlossene Türen und Fenster. Ich schleiche zu einer Nebengasse und gehe hinter einer Mülltonne in Deckung.
Und was jetzt? Das ist nicht gerade das beste Versteck. Vor allem dann nicht, wenn er hinter mir ist. Da sieht er mich doch sofort. Ich drehe mich um und blicke in die dunkle Gasse. Niemand zu sehen.
Denk nach, denk nach, denk nach, sage ich mir immer wieder in Gedanken. Es muss einen Weg hier raus geben.
„Wo steckst du?“
Scheiße! Er kommt näher.
Ich schrecke hoch, und trete dabei gegen die Mülltonne. Da sie aus Stahlblech besteht, macht es einen ordentlichen Knall, der in der Gasse widerhallt.
Das hat er bestimmt gehört.
Ich laufe weiter in die Gasse hinein, auf der Suche nach einem Versteck. Nach einigen Schritten bin ich beim Ende angelangt – Sackgasse. Verdammt!
Panisch suche ich nach einem Ausweg, Schweißperlen bilden sich auf meiner Stirn und meiner Oberlippe. Nein, mir ist nicht heiß. Ich habe höllische Angst. Angst vor dem, was gleich in dieser Gasse auftauchen wird. Angst vor dem, was dieser Killer gleich mit mir tun wird.
Dann entdecke ich meine Rettung – ein Ziegelstein. Ich hebe ihn vom Boden auf und stelle fest, dass er ganz schön schwer ist.
Na los, komm schon, du Wixer! Ich bin bewaffnet und werde mich wehren. Klar, das würde ich sagen, wenn ich nicht so ein Schisser wäre. Aber ich habe Angst und lege es nicht darauf an, dem Psycho-Killer nochmal über den Weg zu laufen. Also mache ich das, was jeder an meiner Stelle tun würde; ich schlage das Fenster ein, das sich mir am nächsten befindet.
Natürlich ist das laute Geräusch einer zerspringenden Glasscheibe nicht gerade förderlich, um unentdeckt zu entkommen, aber da ich keine andere Möglichkeit sehe, muss ich darauf hoffen, dass der Killer nicht sofort weiß, wo ich mich gerade befinde.
Ich versuche, die verbliebenen Scherben im Fensterrahmen, so gut es geht, zu entfernen. Als ich fast fertig bin, biegt er auf einmal in die Gasse.
„Ich sehe dich!“
Scheiße!
Er kommt auf mich zu. Zuerst langsam, dann immer schneller. Als er näher kommt, entdecke ich das Teppich-Messer in seiner Hand.
Verdammt! Was soll ich nur tun? Ich blicke mich panisch um und entdecke die Glasscherben auf dem Boden. Schnell schnappe ich mir eine und schneide mir dabei selbst in die Handfläche – Autsch!
Als ich mich wieder aufrichte, ist der Killer schon gefährlich nahe. Er hebt das Messer über den Kopf und läuft auf mich zu.
Er ist jetzt nah genug, um mich mit dem Messer zu verletzen, und das versucht er auch. Das Messer schnellt in meine Richtung. Ich versuche auszuweichen, doch er erwischt mich an der Wange. Es brennt, und Blut rinnt meine Wange hinab, aber ich habe jetzt keine Zeit, um mir über den Schmerz Gedanken zu machen. Ich ziele mit der Glasscherbe auf den Killer und stoße zu. Er hält abrupt inne. Ich blicke hinab und sehe, dass ich die Scherbe in seinen Bauch gestoßen habe. Ich ziehe sie wieder hinaus und steche erneut zu. Blut quillt aus der ersten Wunde. Es ist fast so, als wäre ich in eine Art Rausch verfallen, denn ich steche immer wieder zu. Solange, bis der Killer schließlich zusammensackt und auf den Boden fällt. Um ihn herum ist Blut. So viel Blut. Mir wird schlecht und ich muss mich übergeben.
„Du hast ihn getötet!“
Ich erschrecke und drehe mich um. Aus dem Fenster, das ich vorhin zerschlagen hatte, sieht ein Mann auf den toten Killer hinab.
„Du hast ihn getötet!“, rief er erneut und sieht jetzt mich dabei an.
Aber sein Blick wirkt nicht erleichtert, sondern zornig. Verwirrt starre ich ihn an. Dann verschwindet er aus meinem Blickfeld.
Ich muss hier verschwinden! Die sind doch alle irre hier!
Ich steige über die Leiche, darauf bedacht, ihn ja nicht anzusehen – kein schöner Anblick! – und gehe wieder auf die Hauptstraße zu. Plötzlich steht der Mann vor mir. Der Mann, der gerade noch am Fenster stand.
Er starrt mich wütend an.
„Du musst seinen Platz einnehmen.“
„Wie bitte?“, frage ich verwirrt.
„Er hat dafür gesorgt, dass keine Fremden in unsere Stadt kommen. Wir hassen Fremde und wollen Sie nicht in unserer Stadt. Du hast ihn getötet, also musst du nun seinen Platz einnehmen.“
Er hebt seine Hand und legt sie mir auf die Stirn.
„He, halt mal! Was soll …“
„Oh, Jaaannneett!“
Sie läuft von der Hauptstraße in die dunkle Nebengasse – die Sackgasse. Sie machen alle immer den gleichen Fehler.
Niemand entkommt mir.
Niemand entkommt Joey.