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Joe Weihnachten
Es ist wieder soweit. Ich könnte die Uhr nach ihm stellen. Es hat geklingelt. Und – wer steht draußen vor der Tür? Es ist Weihnachten, Joe Weihnachten. Nein, Joe, ich werde dich dieses Jahr nicht reinlassen. Ich will meine Ruhe, hörst du! Ich werde nicht wieder schwach werden, wie letztes Jahr.
Da hatte er wieder einmal einfach nur so dagestanden. Ich hab ihm aber nicht angegeben. Hab so getan, als sei ich nicht zu Hause. Hat aber alles nichts gebracht. Joe machte, was er in dieser Situation immer machte, wenn ich ihn ignorierte. Er quetschte sich in die Ecke des überdachten Hauseingangs, und ließ den Herrgott einen guten Mann sein. Stand einfach nur so da – und grinste. Ja, immer dieses Grinsen. Ich hab Joe noch nie griesgrämig gesehen. Sieht immer so aus, als hätte er gerade im Lotto gewonnen und sogleich eine Lösung gefunden, wie er sein geldgieriges Weib loswerden konnte.
Joe kommt immer am ersten Kerzensonntag. Da kann er sich eigentlich denken, dass ich zu Hause bin, der alte Penner. Nein, sorry, das wäre jetzt unfair, ihn so zu nennen. Es stimmt schon, dass er etwas älter ist, aber er wirkt stets gepflegt. Nein, vielmehr noch, fast schon ordinär herausgeputzt. Ich würde Joe somit eher als Edelclochard bezeichnen. Allerdings ist seine Nase ganz rot von dem schlechten Wein, den er literweise in sich hineinschüttet. Aber wenigstens müffelt er nicht, ganz im Gegenteil. Er verströmt einen Duft, der nach Zimt und Vanille schmeckt. Hmm, Rotwein und Gebäck. Bei der einseitigen Ernährung habe ich mich schon oft gefragt, wie’s Joe überhaupt so lange machen konnte. Denn wir beide kennen uns nun schon so lange, damals war ich noch ein richtiger Knirps gewesen. Seltsam, damals fand ich Joe eigentlich ganz amüsant.
Als er, wie immer, an einem Sonntag geklingelt hatte, öffnete ihm meine Mutter mit regelrechter Begeisterung die Türe. Er trat mit seinem breiten Grinsen ein, begrüßte alle und wurde sofort in die Familie aufgenommen. Fast den ganzen Dezember blieb er bei uns. Er saß einfach nur in der Ecke der gemütlichen Küche, beobachtete, wie die Plätzchen meiner Mutter Sternform bekamen; nahm meine jüngere Schwester auf den Schoß und ließ sie an seinem Bart ziehen, oder erzählte uns Geschichten, die er sich spontan zusammenreimte. Auch die alte Gitarre, die er stets bei sich trug, erfüllte ihren Zweck. Später am Abend philosophierte Joe über die Lage der Dinge; die Situation in der Welt und wunderte sich über das Verhalten einzelner Menschen. Einmal hatte ich Joe gefragt, ob er nicht für immer bei uns bleiben könnte. Doch jedes Jahr war es dasselbe mit Weihnachten. Gegen Ende des Monats machte sich immer eine Unruhe in Joe breit. Da wusste ich, es war wieder Zeit für ihn zu gehen. Zum Abschied ließ er aber immer ein paar Sachen zum Spielen für uns da. Schließlich sollten wir ihn bis zum nächsten Jahr in Erinnerung behalten.
Später haben sich dann meine Eltern getrennt. Im Guten, versteht sich. Sie hatten uns sogar erzählt, dass sie sich jetzt noch besser verstünden, als zuvor. Hmm, der Trick hat bei mir nicht funktioniert. Habe einfach die falschen Schlussfolgerungen gezogen. Denn ich würde lügen, wenn ich behauptete, der Kontakt zu meiner Ex würde mehr als Abscheu in mir hervorrufen. Meiner Schwester erging es auch nicht viel besser. Allerdings habe ich schon länger keinen Kontakt mehr zu ihr. Na ja, sie wohnt ja immerhin auch fast fünf Blocks entfernt.
So, dann werd ich mal kurz nachschauen. Ts, ts, ts … nicht zu fassen. Wie ich’s mir dachte. Steht der Kerl immer noch da draußen vor der Türe und wartet. Oh nein, Joe, diesmal wirst du den Kürzeren ziehen. Das läuft diesmal nicht so wie letztes Mal.
Als er an jenem Sonntag aufgetaucht war und geklingelt hatte, da bin ich einfach aus dem Haus gegangen. Hab ihn keines Blickes gewürdigt. Als ich mich zur Tür drehte und sie verschloss, hab ich natürlich gespürt, wie er mir von der Seite sein Grinsen entgegenschleuderte. Aber kein Ton kam über seine Lippen, und auch ich sagte nichts. Ich hab die Haustüre verschlossen, mich mit angezogenen Schultern nach rechts zur Treppe gewandt, und war pfeifend die paar Stufen hinaus in Richtung Straße geschlendert. Als ich mich entfernte, sah ich mit meinen unsichtbaren Augen am Hinterkopf, wie er mir nachblickte – grinsend versteht sich. Ich hatte mich ins Auto gesetzt und war auf einen Kaffee in die City gefahren. Doch auch in der Stadt, überall hatte Weihnachten für mich seine Spuren hinterlassen. Auch hier erschien mir alles geradeso herausgeputzt wie beim ungebetenen Gast, der es sich vor meiner Haustür gemütlich gemacht hatte. Selbst sein Geruch strömte durch die engen Gassen und Hinterhöfe. Gerne hätte ich einen Passanten angehalten und ihn angeschrien, wie mich die ganze Sache hier ankotzte. „Hey, weißt du was? Mir geht’s beschissen. Und weißt du auch weshalb? Weil Weihnachten vor meiner Tür steht, kapierst du!“ Aber natürlich kam kein Wort über meine Lippen. Der einsame Mensch regelt seine Probleme stets alleine – da ihm nichts anderes übrig bleibt.
Geschmückte Fenster, hängende Girlanden, glänzende Kugeln. Joe Weihnachten hatte wieder einmal ganze Arbeit geleistet.
Ich selbst hatte damals durchgehalten bis zum Dreiundzwanzigsten. Am Tag nach Winteranfang tat mir der Kerl dann doch wieder leid. Stand nun schon so lange vor meiner Haustür. Und sein ständiges, überlegenes Grinsen hatte mir dann den Rest gegeben. Ich bat ihn herein und er folgte der Einladung, als hätte er gerade erst geklingelt gehabt.
Viel Neues hatte mir Joe Weihnachten nicht mitzuteilen. Aber das hatte ich auch nicht anders von ihm erwartet. Er war ein sentimentaler Weltverbesserer, der sich wohl niemals ändern würde. Seine lange Hippiemähne und der weiße Rauschebart hatten sich über die Jahre genauso wenig verändert wie seine innere Einstellung.
Wir saßen zusammen im Wohnzimmer und Joe gab seine Weisheiten von sich. Er bestand darauf, dass ich den schrecklichen Wein zum „Glühen“ bringen sollte, wie er es immer zu nennen pflegte, und so kredenzte ich uns das warme Gesöff. Nach einigen Gläschen, die seine Backen nun ebenfalls erglühen ließen, griff er zu seiner Sechssaitigen und legte los. Er spielte dann immer erst ein Stück von Hendrix. ‚Sollte doch eigentlich nicht so schwer sein, bei den paar Akkorden‘, dachte ich mir. Aber hätte Jimi noch gelebt, so hätte er Weihnachten die Stratocaster bestimmt in die Seite gerammt, in der Art, wie Joe das Stück dahinleierte. Zudem so schnulzig gespielt, dass ich ihm gleich noch einmal zuprostete und daraufhin zur Fernbedienung griff. Auch diese Aktion konnte dem Grinsen auf dem Gesicht meines Gastes nichts anhaben. Zusammen sahen wir uns die zweitausendundfünfte Wiederholung von „Ben Hur“ an. Denn mir kam es inzwischen so vor, als liefe der Film seit Christi Geburt jedes Jahr in der Glotze. Dicht gefolgt von dem Typen, der immer über das Tigerfell stolperte, wenn Gevatter Silvester, ein entfernter Verwandter von Joe, bei mir auf der Matte stand.
So verbrachten wir die nächsten paar Tage zusammen. Irgendwie schaffte es Joe jedes Jahr aufs Neue, Vergangenes lebhaft erscheinen zu lassen. Ich sah dann wieder den imaginären Baum meiner Kindheit im meinem modernen, ungemütlichen Wohnzimmer stehen. Sah, wie ich als Kind vergnügt um ihn herum gehüpft war. Dieser Baum, sein Baum, der ebenso herausgeputzt schien wie alles, das mit ihm zu tun hatte – Joe Weihnachten. Der durchgeknallteste, sentimentalste Gitarrenverstimmer des Planeten Erde, „Merde!“
Hey Joe, ich gebe es zu. Es hat keinen Sinn, sich gegen dich zur Wehr zu setzen. Du sitzt am längeren Hebel. Ich werde dich gleich zu Anfang hereinbitten und dir Asyl gewähren, ist ja ohnehin zeitlich begrenzt. Ich werde versuchen unter deinem ganzen Verputz, dem falschen Geschmeide und hinter deiner schlechten Show, etwas für mich zu erkennen. Und wer weiß, vielleicht werde ich auch meine Schwester wieder einmal besuchen, denn für die Eltern ist es inzwischen leider schon zu spät. So tritt ein, alter Gefährte:
„Keinen Wunsch hab ich an dich,
nur eines sollst du mir gewähren.
Die Wahl des Weines treffe – ich.“