Jochen und sein Rochen
Es war der warme Sand unter seinen Füßen, der in Jochen ein beruhigendes Gefühl der Geborgenheit auslöste, während er vor seiner kleinen Hütte am Strand stand und hinaus auf die ruhige See schaute, die am Horizont mit einem klaren, blauen Himmel verschmolz. Wie an jedem Tag bereitete er sein kleines Boot vor, um hinaus auf das Meer zu fahren, welches für ihn wie eine zweite Heimat geworden war. Vor einem Jahr hatte er sein altes Leben hinter sich gelassen und sich diese Hütte gekauft, die nun seinen wenigen Besitz beherbergte. Dies war nicht, wie bei vielen Menschen, ein Ziel für den Ruhestand auf das er sein ganzes Leben lang hinaus gearbeitet hatte. Es war vielmehr eine spontane Entscheidung gewesen, eine Entscheidung die ihm damals alternativlos erschienen war, denn kurz vor seinem spontanen Aufbruch in dieses neue Leben hatte das Schicksal es als lustig empfunden ihm innerhalb eines Monats alle zu nehmen, die er geliebt hatte. Erst seine Mutter, die mit einem Tod an Altersschwäche noch am besten davon gekommen war. Kurz darauf starb seine Tochter an einem Schlaganfall. Sein Sohn wurde das Opfer eines tödlichen Autounfalls und gerade als dieser Monat, den Jochen auch immer nur mit „Der Monat“ titulierte, dabei war zu ende zu gehen, hatte sich seine Frau, getrieben durch die Trauer über den Verlust ihrer Kinder, das Leben genommen. Es war eine unbegreifliche Situation für ihn gewesen, als er plötzlich alleine dagestanden hatte und die Fundamente seines Lebens innerhalb eines Monats zerschmettert worden waren.
Jochen, der immer ein intelligenter und schnell denkender Mensch gewesen war, verlor auch diese Fähigkeiten und stumpfte geistig stark ab. Manche sagten es hätte psychische Gründe, verursacht durch das Trauma, das seinen Ursprung in dem Verlust seiner Familie hatte. Doch die Meisten waren sich sicher es gäbe rein physische Gründe, denn immerhin ist Jochen bei der Beerdigung seiner Frau, da er ziemlich betrunken erschienen war, zu nahe an das offene Grab gegangen und hineingestürzt, wobei er mit dem Kopf zuerst gegen den harten Sargdeckel fiel. Es passierte kurz nach diesem Zwischenfall, dass er seinen Job kündigte und sich dazu entschied von seinem Ersparten hier an dieser Küste zu leben, weit weg von seinem alten Leben, den Erinnerungen und den Gräbern der von ihm geliebten Menschen. Nur hier konnte er für sich sein, alleine mit dem sanften Schaukeln der See. Das Geräusch der rauschenden Wellen, die nach langer Reise ihr Ziel am Strand erreichten und dort brachen, half ihm jede Nacht dabei einzuschlafen. Durch seinen nun eingeschränkten Verstand und die Ruhe schaffte er es auch manchmal, zumindest für kurze Zeiträume, zu vergessen und einfach nur ein Mensch zu sein den keine Vergangenheit plagte und der sich über keine Zukunft Gedanken machte.
Es war eben solch ein Tag, an dem Jochen nun dabei war seine Schuhe wieder anzuziehen und das Boot für eine kleine Ausfahrt vorbereitete. Dabei handelte es sich um ein kleines Boot, in Fachkreisen auch liebevoll als „Nussschale“ bezeichnet, das aber zumindest über ein Segel verfügte. Eben dieses setzte Jochen endlich, kurz nachdem er ein Stück von der Küste gepaddelt war, und sah erfreut, wie der Wind es spannte und weiter nach draußen trug. Etwa einen Kilometer von der Küste entfernt ragte ein großer, mit Bäumen und Buschwerk bewachsener Felsen aus dem Meer und bot damit die einzige Abwechslung in der ansonsten komplett blauen Umgebung. Diesen Felsen nutzte Jochen immer zur Orientierung, denn die Seite des Felsens, die der Küste abgeneigt war, zeigte einige Furchen und Dellen auf, verursacht durch die Wellen die seit Äonen dabei waren ihre Kraft gegen ihn einzusetzen. Aber noch immer stand der Felsen tapfer und erweckte nicht den Anschein, als hätte er jemals vor zu kapitulieren, komme was da wolle. Doch für Jochen gab es noch einen weiteren Grund, warum er die Nähe dieses Felsens immer wieder aufsuchte, denn in seiner Nähe lebte der einzige Freund den Jochen jetzt noch hatte. Es war ein Rochen und ein äußerst kleines Exemplar von ungefähr 70 Zentimeter Spannweite. Anfangs war sich Jochen gar nicht so sicher darüber, ob es immer der selbe Rochen war auf den er an diesem Ort stieß, doch dann bemerkte er, dass der Rochen einen großen, grauen Fleck in Form eines Ambosses auf seinem ansonsten schwarzen Rücken hatte.
„Hallo, mein Freund. Wie geht es dir?“, fragte Jochen als er sah, wie der Rochen das Boot umkreiste.
„Du schon wieder“, hätte der Rochen gesagt, wenn er in der Lage gewesen wäre zu sprechen. „Kannst du fetter Penner mich nicht mal in Ruhe lassen? Du vertreibst mit deinem Lärm ständig meine ganze Beute!“.
Der mit einer guten Auffassungsgabe ausgestattete Leser wird jetzt wohl schon bemerkt haben, dass die Gefühle die beide füreinander hatten von sehr unterschiedlicher Natur waren. Und ein Leser, der sich sehr für Linguistik interessiert, wird wohl zusätzlich etwas Verwunderung über die Wortwahl des Rochen empfinden, weswegen ich mich gezwungen sehe hier kurz zu unterbrechen, um etwas ozeanische Aufklärungsarbeit zu leisten. Tatsächlich gehören Rochen, was die Wortwahl angeht, zu den untersten Klassen der Meeresbewohner und befinden sich ungefähr auf dem sprachlichen Niveau eines Hauptschülers aus Berlin. Noch primitiver sind nur Seepferdchen und Seeteufel. Am schlimmsten ist es jedoch, man mag es kaum glauben, bei den Delfinen. Es ist einfach nicht möglich ein gutes Sprachgefühl zu entwickeln, wenn man dazu gezwungen wird einen großen Teil seines Lebens mit geistig behinderten Kindern zu verbringen. Dagegen gelten Barrakudas, Piranhas und Tunfische als äußerst Eloquent und wohlerzogen, zumindest im sprachlichen Sinne. Doch die waren Meister der Sprache waren schon immer die Hammerhaie. Könnten sie lesen und sprechen, würden sie wahrscheinlich die meiste Zeit unter Wasser Shakespeare zitieren. Dies ist auch der wahre Grund, warum alle anderen Meeresbewohner sie meist so verwundert anstarren. Es liegt nicht, wie viele fälschlicherweise behaupten, an der Form ihres Kopfes. Ein Hammerhai mag vielleicht mit grausamer Präzision seine Beute zerfleischen, aber auch dabei denkt er sich gelegentlich: „Mord rufen und des Krieges Hund entfesseln“.
Jochen wusste von all diesen Dingen natürlich nichts. Er freute sich einfach über etwas Gesellschaft und einen geduldigen Zuhörer, dem er alles anvertrauen konnte, ohne dafür kritisiert zu werden. Wäre er in der Lage gewesen zu hören, was der Rochen sich alles dachte, hätte er diese Monologe wohl keineswegs als so frei von Kritik an seiner Person aufgefasst. Er redete und redete, lachte und weinte auch manchmal, wenn die Erinnerungen wieder zurückkamen. Der Rochen tollte weiterhin um das Schiff, schwamm seine Kreise und tauchte manchmal drunter durch. Schon seit Monaten verbrachte er jeden Besuch von Jochen damit, dass er Stundenlang nach Schwachstellen im Boot suchte, durch die er es sinken lassen könnte, doch bisher blieben seine Suchen erfolglos. Dabei fluchte er die ganze Zeit.
„Ihr dummen Affen,“ dachte er sich, „ihr habt hier überhaupt nichts verloren. Ihr solltet auf euren widerlichen Bäumen sitzen. Stattdessen fällt ihr sie, baut daraus solche komischen Dinger und begebt euch auf das Wasser. Das ist einfach nicht richtig“.
Hier muss angemerkt werden, dass Rochen zwar keine sprachlich begabten Lebewesen sind, aber dafür umso mehr über Ökosysteme wissen und sehr an der Einhaltung ihrer Grenzen interessiert sind. Eine Bande von angeblich intelligenten Affen, die ihres Verlassen um Fische zu jagen empfinden sie als beleidigend und taktlos.
Auch dieses mal musste der Rochen nach mehreren Stunden mit Bedauern feststellen, dass Jochen das Boot wirklich gut in Stand hielt und so gab er es schließlich auf und verschwand in den Tiefen der See. Jochen war mittlerweile auf dem Boot eingedöst und hatte davon gar nichts mitbekommen. Ein starkes Schaukeln des Boots weckte ihn wieder auf. Müde rieb er sich die Augen und musste dann mit Entsetzen feststellen, dass er im Schlaf weit hinaus auf die See getrieben war und sich nun am Rande eines großen Sturms befand. Mit den Rudern drehte er das Schiff in Richtung Küste und hoffe dort anzukommen, bevor der Sturm ihn einholen würde. Er nutzte seine ganze Kraft und ruderte gegen das schwere Wasser an, doch schnell musste er einsehen, dass er dem Sturm nicht entkommen konnte. Als er nur noch zweihundert Meter von dem Felsen entfernt war, zitterte das Segel im starken Wind und kalter regen Peitschte ihm gegen das Gesicht. Die Wellen wurden stärker und ließen sein kleines Boot, das sich langsam mit Wasser füllte, in alle Richtungen kippen. Sein ganzer Körper schmerzte bereits vor Erschöpfung und Kälte, als er sich wieder an der Stelle befand, an der er zuvor eingeschlafen war. Im Segel bildeten sich mittlerweile kleine Risse, so dass er sich dazu gezwungen sah es zu hissen, wenn auch nur schweren Herzens, denn nun konnte der Wind ihm nicht mehr helfen, er musste weiter rudern. Plötzlich erblickte er in dem unruhigen Wasser, wie der Rochen wieder um sein Boot schwamm.
„Da bist du ja.“ sagte Jochen, erfreut über diesen kleinen Silberstreif an einem ansonsten düsteren Horizont. „Du möchtest mir wohl helfen, was?“
„Das hast du nun davon, du dummer Affe.“ Dachte sich der Rochen. „Du hast hier einfach nichts verloren.“
In dem Moment wurde das Boot plötzlich von einer großen Welle, die von Backbord kam, erfasst und kippte stark zur Seite. Jochen, der noch dabei war das Segel zu befestigen, fiel über Bord, zusammen mit einem der Paddel, das ihm gegen den Kopf schlug. Durch diesen Schlag war Jochen in einem Zustand halber Bewusstlosigkeit. Sein Verstand war noch da, aber sein Körper war taub, er hatte keine Kontrolle mehr über ihn und so sank er langsam in die dunklen Tiefen, während seine Lungen sich füllten.
„Na endlich.“ Dachte sich der Rochen in diesem Moment des Triumphs. „Seit Monaten gehst du mir auf die nerven, aber nun siehst du ja, was du davon hast. Wärst du mal auf deinen ekelhaften Bäumen geblieben!“.
Jochens Gedanken waren viel friedvoller. Er war sich seines bevorstehenden Todes bewusst, doch das störte ihn nicht weiter. Eigentlich hätte es gar nicht besser sein können, denn nun würde er endlich seine Familie wieder sehen und könnte gleichzeitig für immer bei seinem geliebten Rochen sein.