Mitglied
- Beitritt
- 11.06.2016
- Beiträge
- 5
- Zuletzt von einem Teammitglied bearbeitet:
- Kommentare: 4
Jo
Was ist das nur für eine sonderbare Welt, fragt sich Jo wieder einmal. Schon lange Zeit versucht er dahinterzukommen, wie Menschen ticken. Er kann alles vorhersagen. Die Ergebnisse seiner Experimente. Wie groß der Durchschnittsanteil der Roten Gummibärchen in der Tüte ist. Doch Menschen, die versteht er nicht.
Jo beobachtet eine Frau, die mit der einen Hand den Kinderwagen schiebt, mit der anderen Hand das Handy ans Ohr presst und eine Zigarette raucht. Wie macht diese Frau es bloß? Wie kann sie mit einer Zigarette im Mund telefonieren? Das ist Jo ein echtes Rätsel. Das Gespräch wird nur kurz dauern. Oder das Kind im Wagen übernimmt den Job, die Zigarette in regelmäßigen Abständen aus dem Mundwinkel zu entfernen, damit die Mutter den Rauch ausblasen kann. Das beschäftigt ihn solange, dass er spät bemerkt, wie die Wolken sich bewegen und kündigt Regen in 13 Minuten an. Es wird wohl die Nacht durchregnen und mit 75 prozentiger Wahrscheinlichkeit gewittern.
Jo wendet den Blick ab und geht hinüber zu seinem Bücherregal. Zeit für ein bisschen Spaß, denkt er sich, als er einen dicken, zerlesenen Schmöker aus dem Regal zieht. In den letzten Tagen, hat er beinahe die ganze Zeit gearbeitet und kann es sich gönnen zu faulenzen. Während vor seinem Fenster der Regen begonnen hat und die Menschen in den nächsten Laden hechten, zieht Jo sich in seinen dunkelbraunen Ledersessel zurück, steckt die Nase in sein Buch und genießt den intensiven Geruch der altern Buchseiten, bevor er schließlich in den Geschichten versinkt.
Erst als es klingelt schaut Jo auf. 07.45 Uhr am Morgen. Er hat die Nacht durchgelesen, ohne es bemerkt zu haben. Als die Klingel ein zweites Mal in seinen Ohren dröhnt, grummelt er vor sich hin und hievt sich hoch. Bevor Jo die Türklinke herunterdrückt, fragt er sich, wer ihn wohl besuchen komme. Doch die Neugierde überwiegt der Argwohn und er öffnet.
Ein junges Mädchen stürmt herein. Vorbei an Jo und rein in das Wohnzimmer. Jo zuckt zusammen. Das erste Mal in seinem Leben versteht er die Welt nicht. Was macht dieses Mädchen in seiner Wohnung, wie sie in aller Ruhe den Schokokeks, seinen Schokokeks verzehrt, den er sich vom Munde abgespart hat? Verärgert stapft er durch die Tür in sein Wohnzimmer und mustert das Mädchen. So etwas hat er noch nie gesehen. Schwarze, kurzgeschnittene Haare stehen in allen Seiten vom Kopf ab. Durch ihre linke Augenbraue ist ein Stein gestochen. Ein Piercing. Um die braunen, schlammfarbenen Augen sind schwarze Schatten zu sehen. Mit Entsetzen stellt Jo fest, dass sich auf dem Parkettboden bereits eine kleine Pfütze gebildet hat. Mit der Regenvorhersage hatte er in der Tat recht. „Hallo“, versucht er es. „Hoi. Sie sind Jo Foster?“, fragt das Mädchen. Jo stutzt kurz und fragt:„Entschuldigen sie bitte meine Frage, aber wer sind Sie und was machen Sie in meiner Wohnung?“ Das Mädchen grinst ihn an, als sie sagt:“Ich bins. Ich bin Jamie Foster. Mom hat mich rausgeworfen und da dachte ich mir, ich mache dich ausfindig. Hat vielleicht ne Ewigkeit gedauert den richtigen J. Foster zu finden. Das hat Mom nämlich durchblitzen lassen. J. Foster. Mehr wusste ich nie. Hab aufgehört zu fragen, weil Mom immer so wütend wurde, wenn sie über J. Foster sprach. Sie ist dann immer echt voll durchgeknallt. Einmal musste ich die Bullen rufen. Naja egal. Sie hat mich schließlich einfach so herausgeworfen. Irgendwo muss ich ja schlafen, dachte ich mir. Und hier bin ich.“ Mittlerweile lehnt Jo mehr an der Wand, als er steht. Mit einem leichten Zittern in der Stimme sagt er beinahe Tonlos:“Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.“ In Wahrheit hat Jo eine schreckliche Vermutung. Nicht nachgeben. Du darfst dem Gedanken nicht nachgeben, schießt wieder und wieder durch seinen Kopf. „Mann, checkst du es immer noch nicht? Ich bin Jamie Foster. Meine Mom heißt Claire Foster und du bist Jo Foster. Du bist mein Vater“, sagt Jamie. Ihr Stimme überschlägt sich beinahe vor Aufregung. „Jamie“, flüstert Jo, „Jamie Foster.“ Das Mädchen grinst ihn noch immer an. Auf was wartet sie? „Hallo“, versucht Jo es. Doch Jamie sieht ihn nur verständnisvoll an. Sie springt auf und geht zu ihm hinüber. „Daddy, du solltest dich setzen“, sagt sie. Jo nickt und setzt sich auf Sessel. Das kalte, harte Leder beruhigt ihn. Das Blut hört auf in seinen Ohren zu rauschen. Er schaut Jamie ins Gesicht und wundert sich, was dieses junge Mädchen – seine Tochter – dazu veranlasst hat ihre Augenbraue zu zerstechen. Er blickt zu Jamie. Diese sieht ihn noch immer an. Mit diesem Blick. Als wolle sie etwas. Plötzlich wird ihm klar, was sie erwartet und er sagt:“Jamie. Ich habe es nicht gewusst. Es tut mir leid, dass ich keinen Unterhalt gezahlt habe.“ Gespannt schaut Jo seiner Tochter ins Gesicht. Diese zieht eine Augenbraue hoch. Es ist die gepiercte. Mit noch immer hochgezogenen Augenbrauen entgegnet sie:“Vater ich bin gekommen, um dich kennenzulernen. Ich möchte dich bitten bei dir unter zukommen. Ich kann nirgendwo hin. Mom hat mich rausgeschmissen, als ich mal für drei Tage verschwand.“ Jo stützt seinen Kopf mit der Hand. „Oh. Oh. Ich...ähm. Du kannst hier bleiben solange du möchtest. Du kannst mein Zimmer haben. Ich schlafe dann ähm...ich schlafe dann irgendwo anders“, stammelt Jo. Er steht auf und streckt seiner Tochter die Hand hin. Anstatt sie zu schütteln umarmt sie ihren lange verlorenen Vater. Dieser sträubt sich zuerst, doch nach kurzer Zeit entspannt er sich.