Jetzt will ich sterben
Dort lag sie. Ein blasses Leuchten, strahlende Wärme in dem kaltem Weiß des Zimmers. Schwer lag das Laken auf ihr, schien sie zu erdrücken. Nur langsam bewegte es sich auf und ab. Ihre schwachen Lippen fingen an sich zu bewegen, sie bildete Worte, doch ich vermochte nicht zu hören. Ich saß dort am Fenster, die langsam im Horizont ersterbende Sonne in meinem Rücken. Ein letztes warmes Rot fiel durch das schmutzige Glas. Ein Streifen Farbe inmitten der sterilen Farblosigkeit meiner Umgebung. Ich sah sie an. Ihre Lippen verstummten. Langsam erhob ich mich, setzte mich schließlich an ihr Bett, strich ihr die Haare aus dem Gesicht. Zu schön war sie, fürs Leben, zu schön. Wieder bewegten sich ihre Lippen.
„Kennst du das Gefühl, nur für diesen Moment sterben zu wollen? Nur damit er ewig weitergeht, niemals aufhört, dieser Augenblick nur.“
Schwer war ihr das Sprechen, sie atmete tief und lautlos. Lang sah ich sie nur an, blickte in ihre Augen, verlor mich in ihr. Sie riss mich wieder ins Leben.
„Ich glaube nicht, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Ich glaube es geht genauso weiter, wie es aufhört. Und so bleibt es, für immer. Dieser Moment, so wie er grad ist, fortgetragen in die Unendlichkeit...“
„Eine endlose Umarmung in einem endlosen Abendrot.“ Ich hatte gesprochen. In dieser Zeit tat es weh, sie zu unterbrechen. Es schmerzte in mir, ihre Stimme anzuhalten. Womöglich auch nur einen Moment ihrer endlichen Rede zu missen. Ich schloss die Augen. Eine Träne rann über meine Wange. Ich wollte sie zurückhalten, doch es war zu spät. Schon geschehen.
„Du sollst doch nicht weinen. Ich will nicht, dass du weinst. Das hatten wir doch ausgemacht. Es sollte nicht traurig sein. Wir wollten doch fröhlich sein.“
„Ich bin nicht traurig. Es ist einfach nur zu schön, um es zu ertragen. Zu schön ist dieser Moment. Zu schön bist du. Zu schön um nicht zu weinen. Ich bin nicht traurig. Ich weine vor Glück. Ich bin glücklich.“
Ich war nicht traurig. Ich war nie traurig. Wir hatten uns geschworen nicht traurig zu sein, und ich war nicht traurig gewesen, und werde es nie wieder sein. Alle Trauer, aller Schmerz verging in diesem Augenblick. In diesem einzelnen Wimpernschlag, in dem sie wieder sprach.
„Es ist Zeit. Für die Blätter, für die Vögel, für mich. Doch all das, all das ist unwesentlich, denn ich sehe dein Gesicht. Du bist hier, bist so nah. Ich liebe dich. Ich liebe diesen Augenblick, diesen Raum, diese Welt, dieses großartige Alles um mich herum. Er soll nie vergehen. Auf ewig soll er bleiben, ewiger Trost und ewiges Glück. Jetzt will ich sterben. Jetzt und nur für diesen Moment. Stirb für den Moment, stirb mit mir, nur ein ganz kleines Bisschen,...“
Ihre Lippen gingen auf und zu, ganz langsam und schwächer als zuvor. So sehr ich es versuchte, ich hörte nichts, sie sagte nichts, nichts. Ich beugte mich über sie, eine Träne tropfte auf ihr Gesicht. Ein letztes Mal küsste ich die erstorbenen Lippen, schloss ihre Augen. Dunkel wurde der Raum um mich und dunkel wurde es auch in mir.
„Stirb für den Moment, den perfekten Moment.“ Er war perfekt. Er war zu perfekt um gelebt zu werden. Und er war vergangen. Vergangen wie das Licht.
Ich sah sie an. Sah die braunen Strähnen über das Kissen gleiten. Berührte das noch immer glühende Gesicht. Strich über die makellose Haut. Die Zeit schien stillzustehen. Sie war einfach angehalten. Ich sah mich um. Die letzten Blätter standen in der Luft, die letzten Vögel schwebten in mutloser Hilflosigkeit auf der Stelle. Ich richtete meinen Blick wieder auf das Bett. Ein roter Pfad rann von meinem Handgelenk über ihr Gesicht, das Bett, den Rand der Liege. Ein einzelner Tropfen Blut, in der Luft gefesselt, am Fallen gehindert, durch die Macht des Moments. Es wurde dunkler, weiterhin dunkler. Das Weiß der Wände schien schwarz zu werden. Sterben für den Moment.
Ich kann mir heute noch nicht erklären, wie sie auf diese Idee kam. Ein unendlicher Augenblick unendlichen Glücks.
Wir sind so glücklich, wie es ist. Meist liegen wir zusammen auf dem Boden, oder bemalen die weißen Wände, oder schauen aus dem Fenster und beobachten die Blätter. Es sind 13. Schon oft haben wir sie gezählt. 13 Blätter und 6 Vögel und 2000 Sonnenstrahlen hinter dem Horizont. Wir sind glücklich, hier in unserem Zimmer im Krankenhaus im Herbst. Zumindest im Augenblick. Im Augenblick sind wir glücklich. Denn er gehört nur uns. Wir leben hier, in ihm und nur für ihn allein. Ein ewiger Moment des Lebens und Vergehens, endlicher Freude in unendlichem Abendrot.