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Jetzt ist ja alles gut

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30.04.2003
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Jetzt ist ja alles gut

Jetzt ist ja alles gut

Ihre zitternde, vom Schweiß feuchte, Hand umgriff den grünen Hörer. Die Muschel ans Ohr gedrückt, die Lippen das Plastik leicht berührend, hauchte sie: "Hallo."
Ihre Knie begannen zu zucken, sie musste sich setzen, wenn sie nicht fallen wollte. Nun kroch die Besorgtheit, die Unentschlossenheit in den Bauch, mit dem Daumen drückte sie an dieser Schmerzstelle eine Kuhle in ihren grauen, verfransten Pullover.
"Es tut mir leid.wirklich.glaub es mir." Sie suchte Worte, erklärende Worte, offenkundige Sätze, um sich von ihrer Angst freisprechen zu können. Freisprechen, sprechen bis sie frei wäre, das wollte sie.
"Nun.ich weiß es nicht." Genau das war es, was man so an ihr verabscheute, ihre Unentschlossenheit, ihr ständiges Befragen anderer nach simplen Dingen, die keines Gespräches bedurften, so hauchte sie weiter, den Hörer fest an ihre Ohrmuschel gepresst: "Wieso hast du das gemacht? Wieso? Wieso? Wieso machst du so was mit mir? Du wirst es nie sein lassen, wieso? Oh wieso denn?" Eine Träne tropfte auf ihren Daumen, der den Schmerz zu lindern versuchte, und floss in die Kuhle.
Ihre Beine wippten ständig auf und ab in einer hohen Frequenz, die jeden anderen rasend hätte lassen werden. Das konnte sie nie sein lassen, sie war immer nervös und wenn man sie darauf ansprach, dachte sie noch lange darüber nach. Manchmal lag sie noch Tage später abends im Bett und überlegte sich, wie sie sich das ständige Auf und Ab ihrer Beine verkneifen könnte.
"Einmal, bitte nur einmal. Wieso nicht einmal? Oder wieso machst du es nicht einmal nicht, wieso?" Ihr grün blau geschlagenes Kinn sank auf ihre Knie, die ein wenig durch die alte, verschlissene Jeans guckten.
Der Telefonhörer war warm geworden, vielmehr hielt der Telefonhörer sie schon, als sie ihn. Er stützte sie geradezu und sie hing sich an ihm fest, an ihm auf.
"Au, verdammter, konntest du das nicht man sein lassen?", sie griff mit ihrem Daumen aus der Kuhle heraus an ihren Hals, an dem eine Schnittwunde sich bemerkbar machte.
Ihr Bauch schmerzte.
Ihr Hals pulsierte.
Mit einer Hand hielt sie den Hörer, hielt sich an ihm fest, mit der anderen probierte sie das Pulsieren ihres Halses zu verhindern - - - ohne Erfolg.
"Ja, gut. Ich weiß, dass du es kannst, ich weiß, dass du es jetzt sein lässt. Ich muss dich doch bestimmt nicht noch einmal anrufen, oder ? Nein, nein, nein, wieso sollte ich auch? Du lässt es ja jetzt sein. Na gut, dann haben wir das ja jetzt geklärt, jetzt ist ja alles gut, wieso auch nicht?" In jenem Moment, kurz bevor sie sich verabschieden wollte, ging die Tür des Zimmers auf: "Was machst du da? Zum Teufel, das Telefon ist seit drei Monaten kaputt, bist du nicht bei Sinnen?"
"Tschüß, mach's gut!", weinte sie dem roten, tutenden Hörer zu, "Tschüß, ich weiß, dass jetzt alles geklärt ist."


Ausgesucht von: Woltochinon

 
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Kritikerkreis

Hallo Charlotte,
kleiner Text, aber viel zu sagen.
Ich persönlich bin durch Leute wie Alissa Walser geschädigt worden, was Wortwiederholungen angeht. Und diese hat dein Text recht oft, seien es Artikel, "ihr(e)", "wieso", "nicht" oder "einmal".
Schon aus Routine wollte ich sie dir ankreiden, doch spätestens beim Gespräch an sich, ("Wieso? Wieso? Wieso?") wurde mir bewusst, dass du dir die Wortwiederholungen zu eigen machst, um etwas wie die immer wiederkehrenden Gedanken, vielleicht gar das Verharren auf Standpunkten oder Verhaltensweisen auszudrücken.
Es ist lobenswert, dass die Qualität des Textes, die Lesbarkeit, nicht allzu schwer unter diesem Stilmittel leidet.
Stockte ich bei dem grün und blau geschlagenen Kinn der Protagonistin - irgendwie ist das arg klischeeverdächtig - so war mir die "Schnittwunde am Hals" zuviel des Guten.
Sie selber möchte dessen "Pulsieren (...) verhindern", aber ich schreibe diese Tat der Person zu, mit der sie mehr oder minder spricht, und naja, Frauen sind mir bereits allzu oft als unschuldige Opfer (wahrscheinlich) männlich hormongeschwängerter Gewalt thematisiert worden.
Bleibt die ungewöhnliche Möglichkeit, dass da, wie überraschender Weise am Telefon, kein "Jemand" ist, aber das sollte klarer werden, hast du das beabsichtigt.
An manchen Stellen, besonders vor dem Wendepunkt und während des Monologs am Telefon täten ein paar weitere Abschnitte gut. Apropos Telefon:
Warum wechselt der Hörer eigentlich die Farbe, anfangs grün, am Ende rot?


Insgesamt zeugt deine Geschichte meines Erachtens von einem guten Schreibverständnis und ist überdurchschnittlich intensiv durchdacht worden.
Nebenbei finde ich es ganz interessant, dass dein Stil teilweise einen "moderneren"Stil verfolgt (Wiederholungen als Stilmittel), andererseits aber auch altbackenes, wie das Verwenden von einem oder zwei Adjektiven bei einigen Nomen.

Ich würde es mich freuen, wenn du dich hier mal wieder melden würdest.
Viele Grüße,
...para

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Anmerkungen:

Ihre zitternde, vom Schweiß feuchte, Hand umgriff den grünen Hörer.
Kein Komma nach "feuchte", das Adjektiv bezieht sich ja auf "Hand".
Die Muschel ans Ohr gedrückt, die Lippen das Plastik leicht berührend, hauchte sie: "Hallo."
Hier ist das doppelte "(...), die" unnötig. Wie wäre "..., mit den Lippen" o.Ä.?
Nun kroch die Besorgtheit, die Unentschlossenheit in den Bauch, mit dem Daumen drückte sie an dieser Schmerzstelle eine Kuhle in ihren grauen, verfransten Pullover.
Bezug: Welche Schmerzstelle? "unsicherheit" und "Besorgtheit" würde ich nicht mit Schmerz in Verbindung bringen, der Bauch ist insofern für mich keine "Schmerzsstelle".
Oh wieso denn?"
Komma: "Oh, wieso denn?"
Ihr grün blau geschlagenes Kinn sank auf ihre Knie
Würde Bindestrich verwenden: "grün-blau", oder ein "und" setzen.
Der Telefonhörer war warm geworden, vielmehr hielt der Telefonhörer sie schon, als sie ihn.
"...sie schon mehr, als..." ?
Mit einer Hand hielt sie den Hörer, hielt sich an ihm fest, mit der anderen probierte sie das Pulsieren ihres Halses zu verhindern - - - ohne Erfolg.
Warum drei Bindestriche? Kann man zur Not machen, aber eigentlich... langt doch einer, oder?

Besonders gelungen fand ich diese Stelle, das Spiel mit "frei""sprechen":

Sie suchte Worte, erklärende Worte, offenkundige Sätze, um sich von ihrer Angst freisprechen zu können. Freisprechen, sprechen bis sie frei wäre, das wollte sie.
Vielleicht beim zweiten Satz am Anfang: "Frei sprechen, sprechen bis..."

 
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Kritikerkreis

Hallo charlotte,

Deine echte Geschichte führt den Leser von von einem grünen Telefonhörer zu einem roten, einem (blut)roten. Die Veränderung dieses Gegenstandes rahmt die Handlung gewissermaßen ein. Geschickt wird der Eindruck erweckt, dass eine total verunsicherte Frau mit jemandem telefoniert. Hat ihr diese Person Gewalt angetan? "wieso machst du es nicht einmal nicht, wieso?" fragt sie. Doch dann kommt die Überraschung- eine von außen hinzukommende Person ändert den Blickwinkel des (außenstehenden) Lesers, die Unterhaltung wird als Selbstgespräch entlarvt. Dieser Wendepunkt ist geschickt plaziert, wirft Fragen auf: An wen sind die Fragen der Protagonistin gerichtet? Sie fragt sich selbst, ihre gespaltene Persönlichkeit führt zu ihren Verletzungen, der Dialog ist gekonnt so gestaltet, dass die innere Spannung der Frau in der Rückschau deutlich wird.
Die Protagonistin erlebt ihre eigene (fiktive) Realität, sie verletzt sich selbst, wird nicht, wie sie sich vormacht, von außen körperlich verletzt. (Der Leser erlebt also eine fiktive Realität, die sich als angenommene Realität der Protagonistin herausstellt).
Ist die Geschichte psychologisch nachvollziehbar? Der Grund ihrer Probleme ist unbekannt, es gibt eine Andeutung "man verabscheut ihre Unsicherheit" d.h. sie wird nicht akzeptiert, außerdem ist sie hypernervös, unausgeschlafen, überspannt. Dies sind durchaus Begleiterscheinungen einer psychischen Erkrankung. Trotzdem- dass man hier nicht mehr weiß, ist vielleicht etwas unbefriedigend.
Zum Schluß wird angedeutet, dass sich die Protagonistin nicht nur in einem Prozeß der Selbsttäuschung befindet, sondern auch ihrer Umwelt Normalität vorgaukeln will, sie beendet das Telefongespräch formal, im lockeren Ton "Tschüß, ich weiß, dass jetzt alles geklärt ist!".
Die Überraschende Wendung und der gelungene Aufbau, mit der Möglichkeit- trotz aller Kürze- die Handlung zu durchdenken, machen diese Geschichte zu einem lesenswerten Text.

Noch einige formelle Anmerkungen:

"Ihre zitternde, vom Schweiß feuchte, Hand umgriff den grünen Hörer" - ihre zitternde, vom Schweiß feuchte Hand umgriff den grünen Hörer.
"die jeden anderen rasend hätte lassen werden" - die jeden anderen zur Raserei gebracht hätte.
"Wieso nicht einmal? Oder wieso machst du es nicht einmal nicht, wieso?" - das "nicht" und "wieso" dreimal in einer Zeile klingt auch für Umgangssprache schlecht. `Wieso nicht einmal? Aber warum machst du es nicht wenigstens einmal, wieso?´
"verschlissene Jeans guckten" - Jeans durchschienen. "guckten" ist Umgangssprache, die gehört aber in die Sätze mit Anführungszeichen.
"Der Telefonhörer war warm geworden, vielmehr hielt der Telefonhörer sie schon, als sie ihn" - die beiden Teilsätze passen nicht zusammen, die `Stützung´ durch den Hörer ist keine Folge der Erwärmung des Hörers. Ein Änderungsvorschlag: `warm geworden, inzwischen hielt der Telefonhörer sie schon mehr, als sie ihn´.
"An ihren Hals, an dem eine Schnittwunde sich bemerkbar machte" - an dem sich eine Schnittwunde bemerkbar machte.
"Freisprechen, sprechen" - Sich Freisprechen
Es muß heißen: Au Verdammter, konntest du das nicht sein lassen.

 

Ich weiß nicht, ob Para zufällig die gleiche Geschichte wie ich gewählt hat, nun am Anfang muß sich halt noch alles einspielen. Jetzt gibt´s halt zwei ausführliche Beiträge.

 
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Zur Farben-Metapher:

Es wird nicht erwähnt, dass Blut fließt, welches den Hörer einfärben könnte - ihre Verletzungen liegen zurück, an ein Öffnen der Schnittwunde am Hals denke ich nicht.
Insofern wurde mir zu sehr in der Metaebene gearbeitet, ohne eine vordergründige Erklärung, die ich als Leser ja zumeist ganz gerne hätte.
:teach:
...para

 
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Kritikerkreis

Mit der Zeit wird klar, dass sich die Hauptfigur der Geschichte nicht ganz in der Wirklichkeit befindet, sondern unter einem üblen Realitätsverlust leidet - und wir wissen nicht einmal genau, wie weit der eigentlich geht.

So weit, so klar. Insgesamt finde ich die Geschichte auch durchaus gelungen. Aber :D

Ich bin über die Erzählperspektive etwas unglücklich.
Einerseits ist der Erzähler sehr nah an der Figur ("Nun kroch die Besorgtheit, die Unentschlossenheit in den Bauch"), er ist sogar in der eingebildeten Welt ("Genau das war es, was man so an ihr verabscheute" - ich diagnostizierte hier mal Paranoia), demnach wäre ein auktorialer Erzähler, verbunden mit innerem Monolog, wohl die geschicktere Wahl gewesen. Andererseits dringt am Ende offenbar die Realität ein. Das schreit nach einem neutralen Erzähler, um die Konfrontation kälter, extremer, schneidender darstellen zu können. Gefühlsregungen könnte die Hauptfigur ja in den Dialog einbringen.

Die Pointe ist kein Wendepunkt, sondern ein Doppelpunkt. Im Moment gibt es zwei Hinweise darauf, dass die Hauptfigur mit niemandem spricht, und die sind sogar genaugenommen widersprüchlich (oder tutet ein kaputtes Telefon?). Einer reicht, der Wendepunkt sollte konzentriert sein.

Der erste Hinweis ist meiner Meinung nach völlig überflüssig, auch der konstruierte Auftritt einer zweiten Person könnte also entfallen. Sie macht sowieso nur den ganzen, wunderbar aufgebauten Eindruck von der Isolation der Hauptfigur zunichte. Es ist viel schlimmer, wenn sie völlig alleine in ihrer Wohnung sitzt und mit einem Freizeichen telefoniert, als (so klingt es) in ihrem Zimmer im Schoß der Familie (denn es scheint mir ein Elternteil zu sein, das herein kommt).

Noch kurz was zum Ende: Es ist nicht ganz stimmig, finde ich. Ich gehe davon aus, dass das "Gespräch" den "Schaden" der Hauptfigur nicht repariert hat. Wie sollte es auch: Es findet in einer Scheinwelt statt, und der Schaden existiert in der realen. Wir müssen also davon ausgehen, dass die Hauptfigur nicht viel später erneut mit ihrem Gesprächspartner telefonieren wird, das erscheint mir zumindest logisch - denn als Lösung ihres komplexen Problems mag ich ein lapidares "ich weiß, dass jetzt alles geklärt ist" nicht akzeptieren. So läuft das nicht, die Frau braucht einen Psychologen. Deshalb fände ich am Ende ein "wir reden morgen weiter" viel passender.

So, das war's von mir, bin gespannt auf eure Meinungen.

Uwe
:cool:

 

Hallo Charlotte!

Ich finde die verschiedenen Interpretationen Deiner Geschichte sehr interessant. Nun möcht ich auch meine noch dazufügen, wobei ich mir erlauben kann, mich etwas kürzer zu fassen, da ich nicht zum Kritikerkreis gehöre, der im Moment Deine Geschichte begutachtet. ;)

Mir hat Deine Geschichte nämlich wirklich gut gefallen. Ich sehe darin eine Frau, die sich selbst verletzt und dagegen anzukämpfen versucht, indem sie sich über das Telefon selbst zuredet, es bleiben zu lassen.
Sie möchte so lange reden, bis sie sich freigeredet hat - das finde ich einen sehr schönen Gedanken.
Wahrscheinlich bräuchte sie einen Menschen, mit dem sie reden kann. Doch der, der am Ende ihr Selbstgespräch (oder vielmehr ihr Gespräch mit ihrem Inneren) stört, scheint das leider nicht zu sein...

Liebe Grüße,
Susi :)

 
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Kritikerkreis

Hi Charlotte!

Beim ersten Durchlesen erinnerte mich die Geschichte an einen - relativ unbekannten - Film mit Whoopi Goldberg:

Telephone:
Eine Frau redet zwei Stunden ununterbrochen mit Leuten am Telefon, bis zum Schluss ein entgeisterter Techniker hereinkommt, um ihr zu eröffnen, dass das Telefon seit drei Monaten abgeschaltet ist, da sie die Rechnungen nicht bezahlt hat.
In ihrem Wahn greift die Telefonistin den Techniker an und tötet ihn.
Danach greift sie wieder zum Hörer...

Doch jetzt zu Deiner Geschichte...

Stilistisch hast Du alles sehr schmerzvoll beschrieben. Die Protagonistin scheint teilweise in den letzten Zügen zu liegen:

Ihre zitternde, vom Schweiß feuchte, Hand umgriff den grünen Hörer.
Ihre Knie begannen zu zucken, sie musste sich setzen, wenn sie nicht fallen wollte.
Ihr grün blau geschlagenes Kinn sank auf ihre Knie,
sie griff mit ihrem Daumen aus der Kuhle heraus an ihren Hals, an dem eine Schnittwunde sich bemerkbar machte.
Ihr Bauch schmerzte.
Ihr Hals pulsierte.
Meiner Meinung nach ist es tatsächlich der letzte Anruf einer Frau ins Nichts, die im Sterben liegt.

Das grün-blau geschlagene Kinn weist daraufhin, dass sie sich nicht selbst die Schmerzen zugefügt hat. Und auch folgender Satz unterstreicht das für mich deutlich:

Mit einer Hand hielt sie den Hörer, hielt sich an ihm fest, mit der anderen probierte sie das Pulsieren ihres Halses zu verhindern - - - ohne Erfolg.
Sie versucht am Leben zu bleiben, schafft es aber nicht.

Das Gespräch, dass sie führt, richtet sich an denjenigen, der ihr das angetan hat. Sie versteht nicht, warum er das tut, kann aber auch allerdings nicht direkt - bzw. überhaupt - mit ihm reden. Also benutzt sie den Telefonhörer, um sich ihren Schmerz von der Seele zu reden, denn sie weiss, dass sie sterben wird:

ich weiß, dass du es jetzt sein lässt. Ich muss dich doch bestimmt nicht noch einmal anrufen, oder ? Nein, nein, nein, wieso sollte ich auch? Du lässt es ja jetzt sein. Na gut, dann haben wir das ja jetzt geklärt, jetzt ist ja alles gut, wieso auch nicht?"
ER lässt das Schlagen sein, denn sie wird nicht mehr da sein zum Schlagen. Sie kann ihre Blutung am Hals einfach nicht stoppen:
- - ohne Erfolg
Demzufolge wird sie ihn auch nicht mehr anrufen müssen.

Danach betritt wahrscheinlich der Schläger das Zimmer.

Erstens scheint ihm das Aussehen seiner Frau vollkommen egal zu sein. Er nimmt ihren Zustand nicht einmal wahr.

Zweitens brüllt er die Frau an.
Und nirgendwo steht, dass er das Zimmer verlässt... wahrscheinlich folgt jetzt die zweite und letzte Abreibung, die das Leiden der Frau endgültig beenden wird:

"Tschüß, mach's gut!", weinte sie dem roten, tutenden Hörer zu, "Tschüß, ich weiß, dass jetzt alles geklärt ist."
Soviel zu meiner Sichtweise der Geschichte...

Der Text ist sehr ausdrucksstark, auch wenn die Beschreibungen der indirekten Rede etwas zu wirr erscheinen. Hier hätte ich mir einen größeren Abstand gewünscht zwischen der Art, wie die Frau redet und der Geschichte selbst...
Andererseits gibt das der Geschichte etwas von einem "bad trip", auf dem sich die Protagonistin ja auch tatsächlich zu befinden scheint. Nur dass dieser schlechte Trip bei ihr traurige Realität ist...
Sprachlich sehr stark und grade am Rand der Überhäufungen mit Adjektiven.

Bei den Satzstellungen bin ich mir nicht sicher, ob die so gewollt oder fehlerhaft sind, allerdings scheinen mir einige Formulierungen doch etwas schräg zu sein:

Ihre zitternde, vom Schweiß feuchte, Hand umgriff den grünen Hörer.
Ich bin mir der neuen Rechtschreibung leider nicht sehr bewußt, glaube aber, dass an dieser Stelle kein Komma folgt.
Nun kroch die Besorgtheit, die Unentschlossenheit in den Bauch, mit dem Daumen drückte sie an dieser Schmerzstelle eine Kuhle in ihren grauen, verfransten Pullover.
Genau das war es, was man so an ihr verabscheute, ihre Unentschlossenheit, ihr ständiges Befragen anderer nach simplen Dingen, die keines Gespräches bedurften, so hauchte sie weiter, den Hörer fest an ihre Ohrmuschel gepresst:
Wenn diese Kommas keine beabsichtigten Stilmittel sind - Hektik ausdrückend - wäre meiner Meinung nach ein Punkt an diesen Stellen besser angebracht.
Ihre Beine wippten ständig auf und ab in einer hohen Frequenz, die jeden anderen rasend hätte lassen werden.
Unglücklich formuliert, wie ich finde.
Dieser Satzteil gliedert sich irgendwie schwer in die Geschichte ein. Hier bin ich echt lange hängen geblieben und hab mir überlegt wie der Satz besser "geschrieben hätte werden können." :D
Allerdings ist mir auch nichts Besseres eingefallen...
Der Telefonhörer war warm geworden, vielmehr hielt der Telefonhörer sie schon, als sie ihn.
Vorschlag von mir:
Der Telefonhörer war warm geworden. Vielmehr hielt der Telefonhörer sie schon mehr, als sie ihn.
"Au, verdammter, konntest du das nicht man sein lassen?",
Wäre an dieser Stelle "mal" nicht besser gewesen?

Dann hat mich noch dieser Hinweis auf das zitternde Knie verwirrt. Dient er als Ablenkung, um nicht gleich darauf hinzuweisen, wie schlecht es der Protagonistin geht, oder war das Zittern der Knie vielleicht sogar der auslösende Moment des Streites - der Schläge - weswegen sie sich schuldig fühlt.
Die Frequenz, die andere rasend macht...
Aber hier übertreibe ich es jetzt vielleicht mit der Charakterisierung und Kritik.

Abschliessend bleibt mir noch zu sagen, dass in dieser Geschichte, die ich wirklich gut finde, mehr drin steckt, als in manchen Geschichten, die die zehnfache Länge haben.
Ein Lob an ein solches Erstlingswerk.

Henry Bienek :cool:

 

Kritikerkreis

@ Uwe

Bei mir sind einige Dinge der Geschichte anders angekommen, ich liste es einfach einmal auf, letztlich muß der Autor da für Klarheit sorgen:

Bei „Ich weiß, dass jetzt alles geklärt ist“ versucht sie die eintretende Person über ihre Zerissenheit und immer noch bestehende Probleme zu täuschen. Dies ist natürlich genauso unlogisch, wie ihr schizophrenes Verhalten, allein das telefonieren mit einem kaputten Telefon beweist schon: Es ist nichts geklärt. Deshalb halte ich auch die Erwähnung des Tutens für wichtig, es offenbart wie verstrickt die Frau in ihrer seelischen Spannung ist, so sehr, dass sie das Offensichtliche ignoriert.
Auch die eintretende Person halte ich für wichtig: sie reißt die Protagonistin aus ihrem zwanghaften, gegen sich selbst gerichteten Verhalten, ist Störung von außen (deshalb kann die Prot. sich nicht -vermeintlich- „freireden“ wie sie es bräuchte). Die eintretende Person ist das gegensätzliche Element zu der Isolation.
Der `Schoß der Familie´ ist hier kein Ort der Geborgenheit: Die Eintretende Person sagt nicht, wie es natürlich wäre: Warum bist du verletzt? sondern macht den Vorwurf: Telefon kaputt „bist du nicht bei Sinnen?“ (Es ist interessant, diesen Satz so zu lesen: Sind sie nicht bei Sinnen? Dann könnte man z.B. auf Anstaltspersonal schließen, doch die Anklage der eintretenden Person als (Mit-)Verursacher der psychischen Probleme würde dann entfallen- so viel kann ein Wort ausmachen). Der Ausspruch „bist du nicht bei Sinnen“ zeigt die Ignoranz der sprechenden Person, sie sollte wissen, dass die Prot. wirklich nicht bei Sinnen ist, und tiefere Probleme hat, als das Telefonieren mit einem kaputten Telefon.
Es stimmt: sie wird `nicht viel später erneut´ telefonieren, doch `wir reden morgen weiter´ kann sie nicht sagen, sonst verliert sie die Möglichkeit die eintretende Person zu täuschen. (Natürlich gaukelt sie sich auch vor, andere täuschen zu können, wie gesagt, bei einem tutenden Telefon ist der Täuschungsversuch schon dreist...).
Manche Kurzgeschichten- Definitionen schließen einen auktorialen Erzähler sogar aus, aber letztlich bilden sich solche Festlegungen einfach durch die Häufigkeit der zu bestimmenden Umstände- und ändern sich auch auf diese Weise.

Tschüß... Woltochinon

Geschrieben im Kritikerkreis

 
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Kritikerkreis

Ja, den Schlusssatz kann man auch sehr gut so verstehen, allerdings ist sie vorher zu ihrem virtuellen Gesprächspartner und sich selbst ziemlich ehrlich.

Die zweite Person kann man tatsächlich als Störung der Isolation auffassen, aber ich halte sie nicht für erforderlich, im Gegenteil: Ich hätte die Isolation insgesamt stärker betont (weil sie sicher mit Ursache für die Probleme der Figur ist) und nicht durchbrochen, oder wenn ja, dann wesentlich härter, akzentuierter.

 

Kritikerkreis

Tag auch Charlotte

Ich bin kein Fan solcher Geschichten. Ehrlich gesagt vermeide ich, sie zu lesen, weil mir die Melodramatik auf den Keks geht. Desweiteren habe ich kein sonderliche Neigung zu Pointen-Texten. Aber nungut. Damit der Text so wie du es entworfen hast funktioniert, bedarf es sowohl der Melodramatik als auch der Pointe. Die Frage ist: Wie bringe ich die Dramatik glaubhaft und nicht zu kitschig aufgerüber? Und weiter: Wie leite ich die Pointe glaubhaft ein bzw. wie bette ich sie in den Text ein, dass sie in dem Konzept sitzt und nicht darauf?

Interpretation:

Nach längerem Nachdenken bin ich zu dem Punkt gekommen, dass es schwer ist zu einem Punkt zu kommen. Erster Ansatz wäre: Die Frau leidet unter dem Borderline Syndrom, was sie veranlasst sich selbst zu verletzen. Borderline und Schizophrenie liegen recht nahe beieinander, werden häufig miteinander verwechselt, daher ging ich davon aus, dass sie mit sich selbst redet. Ehrlich gesagt stehe ich nicht wirklich hinter dieser These, da dann immer noch die Frage bleibt, wer die andere Person ist, die ins Spiel kommt. Also zweiter Ansatz:
Die Frau wird von letzterer Person misshandelt, findet aber keinen Weg mit ihr zu sprechen. In ihrem Wahnsinn lässt sie an dem Telefon all ihre Unausgesprochenen Klagen aus. Dies würde erklären warum die Person in solch einem Ton mit ihr redet. Überzeugend finde ich jedoch auch diesen Ansatz nicht.
So ergibt sich bereits hier die erste Problematik: Der Text ist miss- oder unverständlich, zumindest für mich. Daher tue ich mich schwer Kritik zu äußern, da ich deinen Gedankenlinien nicht folgen kann. Letztlich forciere ich mich daher mal auf die stilistischen Fehler, die unabhängig davon existieren.
Übrigens handelt es sich bei dem roten Hörer, da bin ich mir ziemlich sicher, um keinen stilistischen Fehler. Sicher ist für mich, dass damit das Blut verkörpert werden soll, aber geschickt finde ich diesen Weg nicht. Allein die Tatsache, dass sich der Leser fragt, woher das Blut denn nun kommt und vor allen Dingen, warum es so viel ist, macht dieses „Stilmittel“ fraglich.

Zur Dramatik:

Hier solltest du imense Einschnitte machen, um das Ganze auf der einen Seite glaubhaft, auf der anderen Seite weniger kitischig zu gestalten. Das Problem liegt mE darin, wie du versuchst Dramatik zu erreichen.
Wenn man den Text durchgeht benutzt du zwei Wege:

• Zustandsbeschreibung
Auf der einen Seite ist die verzweifelte Wörtliche Rede, auf der anderen Seite sind Zustandsbeschreibungen (Ihre (...) Hand umgriff den grünen Hörer / Ihre Beine Wippten ständig auf und ab / Der Telefonhörer war warm geworden). Besonders letztere betonen den depressiven, überaus schlechten Zustand der Protagonisten und wirken auf mich zu dick aufgetragen.

• Verwendung von emotionsschwangeren Worten
Was wäre eine Zustandsbeschreibung ohne Gefühle. Dein Text hat gleich einen ganzen Haufen davon. In meinen Augen absolut überzeichnet auf diesem kleinen Format. Überall Adverbien, Attribute, Schmerz, tränen, Angst. Tragik pur.

An den Beschreibungen stört mich hauptsächlich, dass sie meist sehr umständlich konstruiert sind und das meist um noch einen „dramatischen“ i-Punkt oben drauf zu setzen. Beispiele?

Es ist kein zitternde Hand, die umgreift (!), es ist eine zitternde, vom Schweiß feuchte Hand

Besorgtheit und Unentschlossenheit spuken in der Protagonistin herum, und sie hat Schmerzen, aber das ist noch nicht alles. Sie hat ja auch noch einen grauen (!), verfransten (!) Pullover an.

Im Prinzip ist es gar nicht schlimm (ich nehm mal den grauen, verfransten Pulli als Beispiel) mit Konnotationen zu spielen. Aber die Kunst liegt darin, sie fast unentdeckt unter zu mischen, dass sie nur im Huinterkopf wirken. Hier liegen sie auf der Hand, bzw. springen mir als Leser ins Auge. Ähnlich ist es in der Passage mit dem Knie, dass dann schnell noch „grün, blau“ gezeichnet wird. Auch bei Charaktereigenschaften kommt es viel glaubhafter rüber wen man sie umschreibt, statt sie plump in ein/zwei Satz zu erwähnen
„Genau das war es, was man so an ihr verabscheute, ihre Unentschlossenheit, ihr ständiges Befragen anderer nach simplen Dingen, die keines Gespräches bedurften“
oder auch
„Ihre Beine wippten ständig auf und ab in einer hohen Frequenz, die jeden anderen rasend hätte lassen werden. Das konnte sie nie sein lassen, sie war immer nervös und wenn man sie darauf ansprach, dachte sie noch lange darüber nach. Manchmal lag sie noch Tage später abends im Bett und überlegte sich, wie sie sich das ständige Auf und Ab ihrer Beine verkneifen könnte“
Es ist irgendwo trivial. Entweder es hat eine Bedeutung, dann musst du dich mehr darin vertiefen oder es ist nicht wirklich wichtig, dann kannst du es auch streichen.
Du musst in meinen Augen insgesamt viel mehr ausweiten, viel mehr „daher erzählen“ und in diesem Erzählstil ihren Zustand glaubhaft aber auch bewegend rüber bringen. Überhaupt sind die Gedanken der Protagonisten wesentlich interessanter als eine verschwitzte Hand. Zudem besitzen sie mehr Potential.
In der Satkonstruktion solltest du darauf achten, nicht zu häufig Relativsätze zu verwenden, die häufen sich im Mittelteil nämlich, was wenig innovativ wirkt.


Die Pointe ist mein zweiter Hauptkritikpunkt. Hier bedarf es keiner großen Erklärung. Ich finde es einfach ziemlich schwach eine Pointe mit „Plätzlich“, „Da“ oder wie du es machst mit „In jenem Moment“ einzuleiten. Weiter ist der Wortlaut des Einwands der zweiten Person nicht authentisch. Wenn das telefon kaputt ist, so brauch das nicht mehr zu erwähnt werden, denn ein Mensch der nicht von Sinnen ist wird das vermutlich erstens wissen (ist ja schon drei Wochen kaputt) und falls nicht wenigstens schnell merken. Es ist halt ein klassischer Auflösungssatz, den man zB auch bei Witzen hat. Auch hier ist die Umschreibung die in meinen Augen bestmögliche Variante. Bestmöglich, da ich ja bereits erwähnte, dass ich Pointentexte nicht wirklich mag, aber das ist meine persönliche Meinung. Nur als Beispiel kannst du die das Innenleben der durchtrennten Leitung beschreiben. Da gibt es viele Möglichkeiten.


Nungut, bevor ich mich weiter zu dem Text äußere würde ich gerne mehr über die eigene Interpretation erfahren.

Liebe Grüße,
Frederik

 

so.

ich gebe zu, dass ich verdutzt dreinschaute, als mich die email erreichte, da ich hier lediglich einmal zugegen war und danach, vor allem aus zeitgründen, nie wieder 'reinschaute. nun ist es das erste mal, dass man sich so eingehend mit einem text von mir befasst, worüber ich mich sehr freue.

so möchte ich also allen für ihre ausführlichen, und sehr hilfreichen, kritiken und interpretationen danken.

es ist schön, dass die geschichte scheinbar nicht 'vollkommen' aufgeschlüsselt werden kann. das war wohl ihr zweck. auch wenn dies sehr eigennützig klingt, so war es nicht meine absicht eine eindimensionale geschichte zu verfassen. vielleicht wäre es interessant und von bedeutung meinen beweggrund darzulegen, der mich zum schreiben brachte. oder vielleicht reicht einfach nur die perspektive, um die es mir ging, die auch hier größtenteils so gesehen wurde.

die geschichte handelt, für mich (und das möchte ich betonen), von einer frau, einem mädchen, das kein land mehr sieht. von einem menschen, der, völlig am boden, verzweifelt nach jemandem sucht. den begriff der schizophrenie hatte ich nicht im kopf beim schreiben allerdings erscheint mir dieser stichhaltig. es ist zweifellos die suche nach jemandem und da niemand gefunden wird, redet man sich ein, es sei jemand da.

es ging mir nicht darum von einem mädchen zu erzählen, dass sich selbst schmerzen zufügt, es ging mir nicht darum von einer missbrauchten, misshandelten frau zu berichten. es ging mir darum aufzuzeigen, wie verzweifelt eine person sein kann und wie wichtig es ist immer jemanden zu haben, der für einen den hörer abnimmt.

ja, vielleicht ist es dramatisch. es ist sicherlich eine übertrieben dramatisch geschriebene, klischeehafte, kitschige geschichte. und ohne mit der wimper zu zucken sage ich, dass sie subjektiv ist, dass es ein ausschnitt aus einer gzsz folge sein könnte. aber vielleicht sage ich das nur, weil ich einmal den hörer nicht abnahm...


(ich entschuldige mich für die dauer meiner antwort aber ich fand nur wenig zeit und wollte nicht nur sporadisch rede und antwort stehen)

 
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Kritikerkreis

Charlotte,

sorry, wenn ich das sagen muss, aber jetzt hast Du mich endgültig verwirrt...

es ging mir nicht darum von einem mädchen zu erzählen, dass sich selbst schmerzen zufügt, es ging mir nicht darum von einer missbrauchten, misshandelten frau zu berichten. es ging mir darum aufzuzeigen, wie verzweifelt eine person sein kann

Worum ging es Dir dann?
Warum der Einsatz all dieser begleitenden Stilmittel, wenn Du nur eine verzweifelte Person zeigen wolltest?
Ausserdem hat ja Verzweiflung normalerweise immer einen Grund.
Warum das Blut und die Hinweise mit den Verletzungen?

Da hätte das Telefongespräch doch vollkommen gereicht.
Du hättest bloß den Dialog etwas verlängern müssen und gegen Ende irgendeinen Hinweis geben können, dass das Telefon der Frau immer noch mit einem Tuten antwortet:
Aber irgendwann würde schon jemand rangehen...

So, wie Du Deine Begründung/Erklärung dargelegt hast, verstehe ich sie einfach nicht...

Henry Bienek

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo charlotte,


mir geht es ähnlich wie Henry,
unter Berücksichtigung Deiner Motive ist die Geschichte unverständlich. Wahrscheinlich ist eine gewisse Unentschiedenheit in der Thematik der Grund, warum auch die Kritiken so unterschiedlich ausfallen: Je nach Interpretations- Focus wirkt die Beschreibung angemessen, oder nicht.

Tschüß... Woltochinon


(Kritikerkreis)

 

Ehrlich gesagt nimmt es mich bass Wunder, dass dieser Text äußerst positiv aufgenommen wird.
Meiner Meinung nach ist er:
a) Stilistisch extrem schlecht geschrieben
b) Wirr und schwammig, ohne erkennbare Rahmenhandlung
c) Bemüht melodramatisch

Kurzum: Völlig misslungen!
Das einzige Stilmittel, das ich dem Ganzen entnehmen kann, ist jenes der Ungenauigkeit. Wie ein unscharf eingestellte Linse, die aus einem harmlosen kleinen Fleck ein monströses Etwas werden lassen kann, vermute ich Methode hinter den diffusen Abstraktionen. Und diese Methode fruchtet sogar. Wer schon einmal den Bachmann-Preis in Klagenfurt verfolgt hat mag sich nicht weniger darüber wundern, wie völlig nichtssagende Texte zu gewaltiger literarischer Größe aufgeblasen werden. Nur bei mir platzt die Seifenblase. Wie bei diesem Text.

Auf die orthographischen Fehler brauche ich nicht einzugehen.
Deshalb gleich zum Inhaltlich: Es wimmelt vor mehr als seltsamen Satzkonstruktionen.

Ihre Knie begannen zu zucken, sie musste sich setzen, wenn sie nicht fallen wollte.

Fallen? Man kann vom Stuhl fallen, vom Berg, aus allen Wolken. Aber offensichtlich steht die Protagonistin auf dem Boden.

Sie suchte Worte, erklärende Worte, offenkundige Sätze, um sich von ihrer Angst freisprechen zu können. Freisprechen, sprechen bis sie frei wäre, das wollte sie.

Wortwiederholungen en masse. Absicht? Ja klar! Guter Stil? Meiner Meinung nach nicht.

"Wieso hast du das gemacht? Wieso? Wieso? Wieso machst du so was mit mir? Du wirst es nie sein lassen, wieso? Oh wieso denn?"

"Einmal, bitte nur einmal. Wieso nicht einmal? Oder wieso machst du es nicht einmal nicht, wieso?"

In der schalen Realität reden wir tatsächlich so. Aber muss ich dann auch im Text diese nervtötenden Wiederholungen lesen?

Der Telefonhörer war warm geworden, vielmehr hielt der Telefonhörer sie schon, als sie ihn.

Beim zweiten Mal lesen wird klar, was du meinst. Es sollte aber schon beim ersten Mal klar sein.

Er stützte sie geradezu und sie hing sich an ihm fest, an ihm auf.

Wie hängt man sich an einem Telefonhörer auf? Und die Phrase "sich an etwas festhängen" existiert meines geringen Wissens nach nicht.

"Au, verdammter, konntest du das nicht man sein lassen?",

Stilmittel der Verwirrung? Oder doch nur das eine oder andere vergessene Wort?

sie griff mit ihrem Daumen aus der Kuhle heraus an ihren Hals, an dem eine Schnittwunde sich bemerkbar machte.

Keine Ahnung, wie ich mir das vorstellen soll.


Eigentlich könnte ich die ganze Geschichte zitieren. Da passt überhaupt nichts zusammen. Der Versuch, kryptische Melodramatik in eine halbe Seite zu packen, scheitert auf grandiose Weise! Zum Glück gibt es das berüchtigte Element der Interpretation. Denn dank dieses kann man alle Mögliche darin sehen und herumdeuteln, wie ein Astrologie-Azubi, der sein erstes Nostradamus-Buch liest.
Nun bin ich keineswegs dermaßen konservativ, dass ich alles vorgekaut bekommen muss, um es leichter schlucken zu können. Aber ich brauche Anhaltspunkte, an denen ich mich die Story entlang hanteln kann. Gibt es die? Eine Frau, die mit einem sich auf wundersame Weise verfärbendem Hallofon telefoniert, Müll labert und schlussendlich aufmerksam gemacht wird, dass das Ding im Eimer ist.
Toll.
Wenn eine Geschichte zum Interpretieren einladen soll, muss sie meiner Meinung nach einen eingegrenzten Spielraum vordefinieren. In dieser Form kann ich vom Suizid-Versuch über aktuelle politische Missstände bis hin zum steigenden Ölpreis alles hinein interpretieren.
Mit einem klaren Handlungsgerüst im Hintergrund, könnte ich als Leser eine Struktur erkennen - und dadurch gewänne der Text an Intensität und ermöglichte es mir, im Dunkel der Rätselhaftigkeit des Ganzen den Lichtschalter zu finden. Aber so...

Der Stil liest sich für mich grauenhaft. Ich bin kein Freund dieser möglichst simplifizierten Sprache sowie kurzer, abgehackter Sätze und den bereits angesprochenen Wortwiederholungen.
Der Text wirkt auf mich tot und sterilisiert, um nur ja keine lebendigen Bilder zu gebären.

Damit kein Missverständnis aufkommt: Ich verlange keine Daueraction mit coolen Sprüchen und Sexorgien zwischen dem Protagonisten und der Außerirdischen vom Planeten ÜXTHÜL.
Ich verlange lediglich einen handwerklich sauberen Text bei dem klar erkennbar ist, dass eine Struktur dahinter steckt. Dies hier erscheint mir wie ein dahin gebrabbelter Dramatikversuch, der sich so spannend wie ein Busfahrplan liest. Woran soll ich mich orientieren, wenn nur schattenhafte, krude Bilder mir vorgelegt werden, die bestenfalls kurios zu nennen sind? Warum sollte mich irgend etwas an dem Text ansprechen, wenn ich sogar auf emotionaler Ebene ausgesperrt werde?

Tur mir Leid, aber ich habe selten einen langweiligeren, sinnentleerteren Text als diesen gelesen. Und ich bin seit über zwei Jahren hier...
Nix für ungut! :)

 
Zuletzt bearbeitet:

Kritikerkreis

Hm, verdammt. Ich dachte ich hätte betont, dass ich ebenfalls nicht so begeistert von dem Text bin. Nungut, die Autorin hatr sich ja geäußert und erklärt einen recht persönlich beeinflussten Text geschrieben zu haben. Aber eines, Rainer, nehm ich dir nicht ab:

Tur mir Leid, aber ich habe selten einen langweiligeren, sinnentleerteren Text als diesen gelesen.

Das ist doch dein Standardsatz anch jeder Kritik :D Du bist wohl senil geworden und hast Josis Harry Potter und diese wundervlle Geschichte mit dem Hacker vergessen.

Wie dem auch sei. Es stimmt, was du sagst, der Text ist sehr schwammig, weil unschön, unklar formuliert. Die Bilder sind manchmal seltsam. Und es ist schön, dass du die Formulierung für etwas gefunden hast, was mir auf der Zunge lag, ich aber nicht auf die Formulierung kam:
"Warum sollte mich irgend etwas an dem Text ansprechen, wenn ich sogar auf emotionaler Ebene ausgesperrt werde?"

Genau das ist es, was mich gestört hat.
Der Text kann auch erst dann Einfluss auf den Leser nehmen, wenn dieser nicht nur liest, sondern auch genügend Interpretations- und Imaginationsraum hat. Also wie ich sinngemäß schrieb: Nicht den Punkt niederschreiben, sondern ihn in der Vorstellung des Lesers erscheinen lassen.

Einige Aspekte kann ich nicht vertreten:

Fallen? Man kann vom Stuhl fallen, vom Berg, aus allen Wolken. Aber offensichtlich steht die Protagonistin auf dem Boden.

Man kann durchaus aus dem Stehen auf den Boden fallen....hm....
tatsächlich, es geht! (versuchstechnisch bewiesen)

In der schalen Realität reden wir tatsächlich so. Aber muss ich dann auch im Text diese nervtötenden Wiederholungen lesen?
Ich würde behaupten, dass man nicht mal in schaler Realität so spricht. Ich habe letztens einen Text gelesen, der bei der direkten Rede darauf geachtet hat, authentisch zu wirken. Fand ich sehr gut, obwohl ich auch das Abstrakte in Dia/Monologen mag. Der Text ist ein Mittelding, das ärgerlicherweise aufgesetzt klingt, finde ich. Alleine das Auslassen von einem "oh" ist schon eine Wohltat für die Authenzität.

Und schweren Herzens verteidige ich das, was du sinnentleert titulierst. Ein Sinn steckt dahinter, ABER er ist halt eher mäßig bis miserabel umgesetzt. Statt die Idee wegzuschmeißen empfehle ich: Recycling mit mehr Innovation.

 

Hallo Rainer,

einiges hat Frederik schon angemerkt, ich will nur noch ergänzen:

Z.B. das Zittern, Schweißnasse, die Wortwiederholungen passen durchaus zu der Beschreibung einer psychisch kranken, überspannten Person. Hätte die Autorin die vorgeschlagenen Korrekturen durchgeführt, würden noch einige berechtigte Kritikpunkte entfallen.
Da die Autorin aber inhaltlich ausschließt, was ich, wenn es denn einen gibt, als Schlüssel zu der Geschichte ansehe, kann man diese Interpretation nur noch hypothetisch führen. Das ist wohl kaum Sinn dieser Diskussion. Betrachtet man den Text unter diesen Gesichtspunkten ist er unbefriedigend.
Dein Ölpreis- Beispiel ist eine schöne Übertreibung, bei Deiner Interpretations-Gewalt muß man ja befürchten, dass Du jeden Text mit diesem Kritikpunkt auseinander nimmst (das wäre doch ´mal ein Experiment?), es sei denn der Autor sagt dem Leser: „Hör zu, so und so ist es, nicht anders!“

@Rainer u. Frederik
Noch zu einem allgemeinen Gesichtspunkt:
Das Kriterium „auf emotionaler Ebene ausgesperrt (zu) werden“ halte ich für äußerst problematisch, da dieser Effekt weitgehend vom persönlichen Hintergrund, von kulturellen Erfahrungen geprägt ist.
Interessant wäre nun, wie man feststellen kann, ob ein Text keine adequaten Emotionen hervorruft, oder man die Emotionen nicht nachvollziehen kann.

Tschüß... Woltochinon

 

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