Jessy
Jessys Hände zitterten. Die Zigarette schmeckte bitter und ihre Stimme klang brüchig, als sie in ein kleines graues altmodisches Diktiergerät sprach:
"Haben heute José verloren. Splittermine mit Bewegungssensor. Ab heute keine Aktionen mehr. Müssen hoffen die nächsten Wochen zu überleben."
Jessy brach ab, eine Zeitlang klang nur das spröde Rauschen des Tonbandgerätes durch den stillen, abgedunkelten Raum.
Auch wenn Jessy jede Stunde, die sie in diesem engen, stickigen Raum, dessen gelblicher Putz mit jedem Tag weiter abbröckelte, hasste, so bedeutete er für sie auf eine absonderliche Weise auch eine Art Zuhause, ihr einziges Zuhause seit fast acht Jahren. Manchmal wünschte sie sich, die vermoderten Bretter, die den Räumen vom Rest der grauen lebendigen Welt abschirmten herunterzureißen, nur um zu sehen, welcher Blick sich aus den Fenstern dieses Zimmers bot.
In wenigen Monaten würden die Abrissmaschinen auch diesen Teil der Vergangenheit in Grund und Boden gestampft haben und bald würde auch an dieser Stelle ein großer weißer Kasten stehen. Vernünftig klar, logisch konstruiert, statisch ausgerichtet.Tot.
Doch dann würde sie nicht mehr hier sein. Noch schützte das gelbe "Betreten verboten"- Schild sie vor ungebetenen Besuchern, doch mit dem letzten Altbaugebiet schwanden auch ihre Zufluchtsstätten in der Stadt.
Die Gruppe 12 würde aufs Land verschwinden und dort sterben, wie ein Baum, der in zu flache Erde gesteckt worden ist. Jessys Augen suchten das alte verblichene Plakat von Che Guevara, das in den letzten 8 Jahren immer wieder ihr Trost und ihre Zuflucht gewesen war. Aber seine magischen Kräfte waren verschwunden und so etwas wie dumpfer Resignation gewichen, Jessy kämpfte zwar noch weiter, aber sie tat es im Grunde nur noch, weil sie nicht wusste, was sie sonst hätte tun oder wo sie hätte hingehen sollen.
Zu viele Mensche waren gestorben, zu viele Niederlagen, zu viel enttäuschte Hoffnung. Mochten ihre Kameraden sich immer noch einreden, dass der Kampf in einer, ja in der entscheidenden Phase war, Jessy wusste es besser. Der Kampf war verloren und das seit mehr als 8 Jahren, der Kampf war verloren gewesen, noch bevor sie überhaupt begonnen hatten. Die kümmerlichen Reste der Bewegung würden verschwinden, langsam und lautlos, dahingerafft von Frustration, Enttäuschung und Angst.
In der Vorstellung, der Phantasie musste ein Kampf gegen ein allmächtiges System romantisch und heroisch wirken, aber in der Realität war es nichts anderes, als der ständige Kampf gegen Angst, Hoffnungslosigkeit und Tod. Wie kann man siegen, wenn man nicht einmal in der Lage ist, dem Gegner Schaden zu zu fügen und wenn alle, die man befreien will sich längst mit den neuen Herrschern abgefunden hatten. Wer war sie denn, dass sie sich einbildete, den Menschen zu sagen, was sie brauchten? Welches Recht hatte sie den Menschen zu sagen, dass ihnen etwas fehlt, wenn diese nicht einmal etwas vermissten? Wie konnte sie von Freiheit reden, wenn diese Menschen mit ihrem Los zufrieden waren? Vielleicht sogar glücklich.
Jessy nahm ihre Pistole aus dem Halfter und betrachtete sie nachdenklich. Sie strich über ihren kühlen, ehemals chromblitzenden Lauf, der matt geworden war, durch die Zeit, durch ständigen Gebrauch. Langsam hob sie die Waffe an die Stirn, betrachtete den Abzug, den schwarzen, gerasterten Griff, ihre eigene Hand, die die Waffe hielt. Ihr Tod würde sich nicht von ihrem Leben unterscheiden, kurz, erbärmlich, gewaltsam. Jessys Finger senkte sich auf den Abzug, sie schloss die Augen.
Noch einmal tief durchatmen und dann Abschied nehmen, Abschied von einer Welt, die ein Lebwohl nicht verdient hatte.