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Jeromes Sitzung
"Es war Freitag", sagte Jerome schüchtern.
"Wie hast Du es gemerkt?"
"Sie sagte komische Sachen."
"Was für Sachen?"
"So Sachen eben!" Dr. Bolinbrook hörte auf zu schreiben und schaute auf. Jerome hatte die Stimme erhoben. Er wirkte verzweifelt, aber diesen Eindruck machten die meisten Kinder, die in seinem Sessel Platz nahmen. "Mama hat komische Worte benutzt und die ganze Zeit was mit ihrer Zunge gemacht."
"Was denn?"
"Die Spitze rausgestreckt und so bewegt."
Bolinbrook machte sich wieder Notizen. Die Feder kratzte über das Papier als wäre sie in Eile.
"War Dir das unangenehm?"
"Ja, war es." Er schwieg eine Weile und sah auf seine Füße, die in dem großen Stuhl einfach nach vorn über die Sitzfläche ragten. "Zuerst fand ich es lustig, aber dann..."
Bolinbrook schwieg und betrachtete den Jungen, der in dem übergroßen Sessel verloren wirkte wie ein Schoner mit zerrissenen Segeln. Jerome starrte angestrengt auf seine kleinen Schuhe.
"Dann...?"
Jerome reagierte nicht. Er fing an mit den Füßen zu wippen.
"Dann bekam ich Angst."
Dr. Bolinbrook fand es immer wieder erstaunlich, wie Kinder instinktiv wissen, wenn ihnen vertraute Menschen Dinge tun, die falsch sind. Vor drei Jahren hatte eine Vierjährige vor ihm gesessen, die erzählte, wie Papa sie manchmal auf den Schoß nahm und dann seine Beine so komisch bewegte. Sie konnte nicht wissen, was er da tat, aber sie wusste, dass es verwerflich war. Kinder spüren es. Bei Jerome hatte es nicht einmal Missbrauch gegeben. Trotzdem wusste er Bescheid.
"Wovor?"
"Dass Mama... Ich weiß nicht."
"Krank ist?"
"Vielleicht. Ist sie denn krank?"
"Deine Mama ist tot. Weißt Du, was das bedeutet."
"Ja", sagte er und wippte weiter mit dem Fuß.
"Was bedeutet es?"
"Dass sie jetzt weg ist."
"Wohin weg?"
"In die Hölle."
"Nicht in den Himmel?"
"Nein."
"Warum nicht?"
"Weil sie böse ist. Oder nicht?"
"Nein. Deine Mama war krank, aber kein böser Mensch."
"Aber sie hat Papas Hals aufgemacht."
Was für eine merkwürdige Formulierung für einen Neunjährigen, dachte Bolinbrook. Gewöhnlich können Kinder unterscheiden zwischen einem mechanischen Vorgang wie "aufmachen" und einem Mord.
"Sie hat ihn getötet, ja."
"Ich weiß." In Jeromes Augen glitzerte es. "Nur böse Menschen töten andere."
"Nein. Soldaten werden sogar dafür bezahlt, andere zu töten."
"Ja, aber Soldaten töten die Bösen, nicht die Guten."
"Woher weißt Du, welcher Soldat gut ist und welcher böse?"
"Ich kenne keinen Soldaten."
"Du bist doch aber mit Deiner Mama und Deinem Papa aus einem Land gekommen, in dem Bürgerkrieg war. Da gab es viele Soldaten. Und die haben alle gegen andere Leute gekämpft. Denkst Du, die anderen dachten von sich selbst, dass sie böse wären?"
"Weiß nicht."
Jerome wischte sich mit den Fingerknöcheln über die Augen. Eine Geste, die gerade bei Kindern so unendlich verletzlich aussah, dass es einem das Herz brechen konnte. Viele Kinderpsychologen gehen mit vierzig in den Ruhestand oder fangen an, Bücher zu schreiben. Bolinbrook glaubte, dass es auch an dieser kleinen Geste lag. Jeden Tag sitzen einem Kindern gegenüber, die zu früh zu viel von der Welt wussten.
"Sie hat mit den Fingern so ein 'V' gemacht und die Zungenspitze durchgestreckt."
"Und woher wusstest Du, dass das böse war?"
"Sie hat dabei komisch geguckt."
"Und dann?"
"Sich zwischen die Beine gefasst."
"Hatte sie das vorher schon mal gemacht?"
"Nein. So komisch gestöhnt auch nicht."
"Und dann?"
"Dolle gelacht. Ganz laut. Und ohne dass jemand was Lustiges gemacht hat." Tränen sammelten sich in Jeromes Augen. Flehend blickte er zu Bolinbrook, als könne der irgendwie die Zeit zurückdrehen.
"Und da hast Du Angst bekommen?"
"Ja. Als sie so gelacht hat. Wie eine... Wie heißt das?"
"Geisteskranke?"
"Ja." Eine Träne lief Jeromes Wange herunter. Er wischte sie schnell mit dem Ärmel weg.
"Und dann?"
"Willst Du mich ficken?" Jeromes Stimme brach und als Bolinbrook über das Klemmbrett hinweg sah, hörte Jerome auf mit den Füßen zu wippen und schien ihm mit seinen tränennassen, weit aufgerissenen Augen direkt in den Kopf zu schauen.
"Willst Du mich ficken?", wiederholte Jerome noch bitterer, noch nachdrücklicher und reckte den Kopf ein Stück weit in Bolinbrooks Richtung.
"Was?"
"Das hat sie gesagt!" Jeromes Kinn lag in Falten. Sein Blick versuchte vielleicht den irren Blick seiner Mutter zu imitieren, vielleicht kam er aber auch aus seinem tiefsten Inneren.
"Und was hast Du——?"
"Geantwortet?", fragte Jerome mit tränenerstickter Stimme.
"Ja." Bolinbrook musste jetzt selbst einen Kloß aus dem Hals wegschlucken.
"Ich wusste nicht, was das ist. Was bedeutet es?"
"Gar nichts."
"Sie lügen."
"Nichts, was Du wissen musst", schob er schnell hinterher und tat so als würde er sich Fusseln vom Pullover streichen.
"Auf Ihrem Pullover ist nichts." Jeromes Stimme schien sich leicht verändert zu haben. Oder kam es ihm nur so vor?
"Ich weiß."
Er war erstaunt, wie blitzgescheit dieses Kind war.
"Und dann?", fragte Bolinbrook.
"Was dann?"
"Was hast Du geantwortet?"
"Ich habe gelacht."
"So wie Deine Mama vorher gelacht hatte?"
"Vielleicht. Aber nicht so hysterisch."
"Woher kennst Du das Wort?"
"Papa hat es manchmal gesagt."
"Und Du weißt, was es bedeutet."
"Ja."
Jerome rutschte auf dem Stuhl nach vorn und stand auf.
"Was ist?"
"Ich muss mal die Beine knicken. Ihr Stuhl ist zu groß."
"Tut mir Leid."
"Hören Sie auf sich zu entschuldigen", schnappte Jerome.
Bolinbrook musterte ihn. Der Junge sah ihn merkwürdig an. Wo sich eben noch Tränen gesammelt hatten, funkelte jetzt eine seltsame Abschätzigkeit.
"Bist Du grade wütend?"
"Auf wen sollte ich wütend sein?"
"Das weiß nicht."
"Warum fragen Sie dann?"
"Du scheinst wütend zu sein. Ich möchte nur herausfinden, warum."
"Ich bin nicht wütend."
"Doch, ich denke schon."
"Ach ja?"
"Ja."
Jeromes plötzliche Aggressivität war unmotiviert, aber der Junge hatte in den letzten vierzig Stunden auch einige verheerend verstörende Dinge gesehen. Was Bolinbrook mehr verstörte war, dass er geistig schlagartig um zehn Jahre gealtert zu sein schien.
"Was schreiben Sie da eigentlich die ganze Zeit?"
"Ich mache mir Notizen."
"Das weiß ich, aber was genau schreiben Sie sich auf?"
"Dein Antworten."
"Sie lügen schon wieder."
"Nein."
"Doch."
Jerome war im Raum ein wenig hin und hergelaufen, stand jetzt aber direkt vor Bolinbrooks Stuhl und sah ihn an wie eine Katze, die einen Schmetterling vor dem Fenster beobachtet.
"Was ist danach passiert?"
Jerome sah ihn einen Moment reglos an und wendete erst den Blick, dann den Körper ab, um wieder im Raum herumzuwandern.
"Das wissen Sie doch."
"Nein, ich war ja nicht dabei."
"Sind Sie gern Psychologe?"
"Was ist danach passiert?"
"Sind Sie gern Psychologe?"
"Ja. Was ist danach passiert?"
"Mama hat weiter herumgealbert und dann ist Papa nach Hause gekommen."
"Und dann?"
"Hören Sie mit dem Scheiß auf!"
Der Füller verharrte im Wort.
"Wie bitte?"
"Ich sagte, Sie sollen mit dem Scheiß aufhören", wiederholte Jerome und nahm aus dem Bücherregal eine kleine Tonbüste. "Wer ist das."
"Steht es nicht unten drauf?"
"Ich kann lesen. Aber wer ist das?"
"Wen hast Du denn da?"
"Jung. Ein Psychologe?"
"Ja."
"Papa ist nach Hause gekommen."
"Sagtest Du schon."
"Warum sind Sie so aggressiv?"
"Bin ich nicht."
"Doch."
"Den Spieß umzudrehen ist eine normale Verhaltensweise, wenn man schlimme Sachen erlebt hat."
"Ach ja?"
"Ja." Bolinbrook notierte den plötzlichen Wandel des Jungen.
"Ihr Stift kratzt sehr."
"Tut mir Leid."
"HÖREN SIE AUF, SICH ZU ENTSCHULDIGEN!" Bolinbrook fuhr auf seinem Stuhl zusammen.
"Warum schreist Du mich an?"
"Weil Sie mir nicht zuhören! Hören Sie auf sich zu entschuldigen!"
"Aggressivität hilft uns nicht", sagte Bolinbrook und spürte seinen Puls pochen.
"Papa kam nach Hause und rammte von innen den Schlüssel ins Schloss."
"Und dann?"
"Dann kam er ins Wohnzimmer."
"Wo Ihr gesessen habt."
"Wo wir gesessen haben." Jerome inspizierte die kleine Büste in seinen kleinen Händen. "Und dann?"
"Und dann was?"
"Das sollten Sie doch fragen, oder?"
"Dann sag's mir."
"Was denn?"
"Was dann passiert ist." Jeromes Verhalten beunruhigte ihn. Er durchschaute das Kind nicht und verstand erst recht nicht, warum Jerome so plötzlich so dominant geworden war.
"Dann hat Mama aufgehört herumzualbern."
"Was hat Papa gemacht?"
"Gestunken."
"Wonach?"
"Gin."
"Woher weißt Du, wie——"
"Erfahrung."
Bolinbrook kam der Gedanke, dass Jerome meinen könnte, dass er selbst schon Gin getrunken hatte und schämte sich für den Gedanken.
"Schämen Sie sich nicht."
"Wofür?"
"Ihre Gedanken."
"Du weißt, was ich denke?"
"Ja."
"Okay, woran denke ich grade."
"Den Sardinengeruch, den die Fotze Ihrer Frau verströmt, wenn sie vom Aerobic kommt. Und wie Sie es riechen können, selbst nachdem sie duschen war."
"Nein. Du hast verloren."
"Nein, habe ich nicht."
"Hat Deine Mutter manchmal so gerochen?"
"Nein, nie."
Als Bolinbrook wieder von seinem Klemmbrett aufsah, stand Jerome so dicht vor ihm, dass es ihm unangenehm war. Bolinbrook wollte etwas sagen, überlegte es sich aber anders, sodass sein Mund nur ein Schmatzen von sich gab.
"Was wolltest Du sagen, Doktor?"
"Ich wollte fragen, was——"
"Danach passiert ist?"
"Genau."
"Mutter hat mir zugelächelt. Papa hat sich aufs Sofa fallen lassen und ist dabei mit dem Becken gegen die Tischkante gestoßen, dass der Tisch gewackelt hat. Die Kerze ist umgefallen und ausgegangen und der Wachs ist über die Tischdecke gekleckert."
"Das."
"Was?"
"Das Wachs, heißt es. Nicht 'der' Wachs."
"So so."
"Ja."
Jerome sah ihn an. Die Situation erschien Bolinbrook so banal und dabei so merkwürdig bedrohlich, dass es ihm einen Schauer über den Rücken jagte.
"Und dann hat Papa angefangen zu reden."
"Was hat er denn erzählt?"
"Nichts besonderes. Nur Gefasel."
"Und die Mama?"
"Hat nichts gesagt. Sie war ja in der Küche."
"Und was hat sie da gemacht?"
"Weiß ich doch nicht. Ich war ja im Wohnzimmer."
"Und als sie wiederkam?"
"Gekommen ist sie wohl." Jeromes Kindergesicht verzog sich zu einer Fratze. "Ich bin auch nicht böse."
"Was?"
"Was 'was'?"
"Ich meine: Was ist——"
"Ja ja, schon klar. Als sie zurückkam, hatte sie ein Messer in der Hand."
"Bitte stell die Büste zurück." Jerome war wieder in den Sessel geklettert und strich mit dem Finger über die Augen Jungs.
"Ich lasse sie schon nicht fallen."
"Bitte stell sie zurück."
Jerome warf ihm einen Blick zu, stand aber wieder auf.
"Also, was ist dann passiert?"
"Mama hat die Türklinke nach dem Runterdrücken einfach hochschnellen lassen. Papa hat aufgehört zu faseln, weil das Geräusch die Scheibe hat vibrieren lassen."
"Und dann?", fragte Bolinbrook. Er sah nicht, wie Jerome den Brieföffner von seinem Schreibtisch genommen hatte.
Die Vorzimmerdame hatte ausgesagt, der Junge wäre allein aus dem Zimmer gekommen, hätte die Hand in den Raum gestreckt und es hatte ausgesehen als hätte Bolinbrook sie geschüttelt. Als sie eine Minute später in das Behandlungszimmer gekommen war, hätte sie den Notarzt gerufen und wäre danach auf die Straße gelaufen, um zu sehen, ob Jerome noch da war. Aber Jerome war schon weg.