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Jeremie
Mit einem Seufzer der Erleichterung lenkte Christina Walsh ihren schwarzen BMW in die Zufahrtsstraße des Truck-Stops ein. Bereits vor einigen Meilen hatte die Warnleuchte des Tanks angeschlagen und gerade, als sie die Zapfsäulen erreichte, begann der Motor zu ruckeln und würgte ab.
Das war in der sprichwörtlichen letzten Sekunde, dachte sie bei sich.
Nachdem Christina getankt und bezahlt hatte schwang sie sich wieder hinter das Steuer und fuhr auf den angrenzenden Parkplatz des Truck-Stop. Sie bereits fast drei Stunden ohne Pause unterwegs und lechzte mittlerweile nach einem heißen Becher Kaffee.
Es waren nur ein paar Trucker zwielichtigen Aussehens anwesend und eine Gruppe tätowierter Biker, die sie ungeniert musterten und ihr ein paar Pfiffe und obszöne Kommentare entgegen warfen. Christina verlangte einen großen Becher Kaffee, nahm noch einen Donut mit Schokoladenglasur dazu und zahlte rasch.
„Hey Süße, wie wär`s denn mit uns, he?“, knurrte ein schäbig wirkender Kerl mit aschblondem Rauschebart.
Christina achtete nicht auf den Mann, sie beschleunigte nur ihre Schritte und eilte seufzend hinaus.
Hoffentlich folgt mir keiner von diesen Typen, ging es ihr kurz durch den Kopf, als sie auf dem Parkplatz einen Jungen von etwa elf Jahren bemerkte, der mit weinerlichem Gesicht sein Fahrrad vor sich her schob.
„Hallo Kleiner, was ist denn mit deinem Fahrrad passiert?“, meinte Christina, als ihre Blicke das lädierte Vorderrad trafen.
Sie nahm einen Schluck Kaffee und schaute zurück in Richtung Truck-Stop. Keiner verließ das Gebäude, wie sie erleichtert feststellte.
„Ich war auf dem Weg nach Hause, irgendwo muss ich in eine Scherbe gefahren sein.“
„Und bist du denn ganz alleine unterwegs?“
„Ja.“
Ein hastiges Nicken folgte.
Der Junge hatte hellblonde, kurzgeschnittene Haare. Ein paar winzig kleine Sommersprossen verteilten sich um die Nase, die zwischen zwei stahlblauen Augen hervor lugte.
„Wo wohnst du denn?“, fragte Christina dann und folgte anschließend mit den Augen seinem ausgestreckten Finger.
„Noch ein Stück den Highway entlang, dann muss ich an einer Kreuzung rechts ab und noch paar Meilen der Battonroad folgen, die im Zick-Zack-Kurs durch die Wälder führt. Dort lebe ich.“
„Wow. Deine Eltern lassen dich ganz alleine so weit mit dem Rad wegfahren?“
Der Junge zuckte nur gleichgültig mit den Schultern.
Christina seufzte und zückte ihr Handy.
„Du weißt hoffentlich eure Telefonnummer, dann werde ich schnell deinen Vater für dich anrufen, okay?“
„Wir haben kein Telefon!“
„Kein … Telefon?“
„Nein!“
Der Junge schüttelte den Kopf und musterte Christina eindringlich dabei.
„Na toll. Was machen wir denn jetzt? Du kannst doch unmöglich den weiten Weg laufen.“
„Würden Sie mich nach Hause fahren?“
Christina seufzte tief.
„Na ja, es liegt ja fast auf meinem Weg. Dann lass uns schnell dein Fahrrad im Kofferraum verstauen.“
„Ich bin übrigens Jeremy!“
„Hallo Jeremy, ich bin Christina!“
Die junge Frau öffnete die Heckklappe und entschuldigte sich für die Unordnung, während sie minutenlang zwei Reisetaschen, einen Kosmetikkoffer sowie einige Bücher und Schnellhefter hin-, und herräumte, bis halbwegs Platz für Jeremys Fahrrad gefunden war.
Anschließend setzten sie sich hinein und fuhren ab.
+++
Während den Gesprächen ihrer kurzen Fahrt benahm sich Jeremy seltsam, wie Christina empfand. Geschickt wich er ihren Alltagsfragen über Familie, Freunde und die Schule aus oder er antwortete ihr lediglich mit einem Achselzucken.
Schließlich standen sie vor seinem Elternhaus, ein fünfstöckiges Gebäude im viktorianischen Baustiel mit zahlreichen Balkonen und Erkern.
„Wow, das ist kein Haus, sondern ein halbes Schloss!“, schwärmte Christina und parkte linker Hand vor einem Lattenzaun, der von verschlungenem, unkontrolliert gewuchertem Gestrüpp fast gänzlich verschluckt wurde.
Jeremy schnallte sich ab und blickte die junge Frau wieder mit seinen eisblauen Augen eindringlich an.
„Kommen Sie noch zum Abendessen mit hinein!“
Christina wollte dankend ablehnen, doch ihre Lippen formten andere Worte, als der Geist ihr vorgab.
Verdammt, hat der Bengel hypnotische Fähigkeiten?
Sie folgte ihm zur Haustür, wo sie von einer Frau, zwei Männern und zwei blonden, hübschen Mädchen im Teenageralter überschwänglich begrüßt wurden.
„Jeremy, Jeremy ist da!“, hieß es wie ihm Chor. „Unser lieber Junge ist wieder zu Hause!“, kam noch hinzu.
„Hey Leute, das ist Christina. Sie hat mich nach Hause gefahren, weil mein Bike einen Platten hatte. Kann Sie bis zum Abendbrot bleiben?“
„Aber selbstverständlich! Kommen Sie herein, kommen Sie herein!“, sagten alle fast gleichzeitig.
Christina kam der Aufforderung nach und Jeremy stellte seine Familienmitglieder vor.
„Das sind meine Eltern Elisabeth und Richard, mein Onkel Dave und meine älteren Schwestern Melissa und Mary-Lou.“
„Wir freuen uns so, dass Sie sich unserem lieben Jungen angenommen haben“, meinte Jeremys Vater und wuselte durch die Haare seines Sohnes. „Ja, es gibt tatsächlich noch anständige Leute“, meinte Onkel Dave und nickte Christina anerkennend zu.
Plötzlich klatschte die Mutter in beide Hände.
„Da hätte ich doch beinah vergessen, dass das Abendessen auf dem Tisch steht!“
„Na, das wollen wir uns doch nicht entgehen lassen, was?“, machte Onkel Dave und tätschelte sanft Jeremys Hinterkopf.
Na denn, Chrissi, bring` die Sache hinter dich und dann geht`s schnellstmöglich von dannen, sagte sich die junge Frau im Stillen und folgte der Familienbande in das geräumige Esszimmer.
+++
Es gab Schweinekoteletts in dunkler Soße, Kartoffeln, Mischgemüse und Weißbrot. Als Getränke wurde Apfel-, und Orangensaft sowie Cola gereicht.
Christina zeigte regen Appetit und sie musste zugestehen, dass das Essen von exquisitem Geschmack war. Trotz allem konnte sie das merkwürdige Verhalten von Jeremys Familie nicht verstehen. Ihr ganzes Gehabe wirkte irgendwie künstlich. Sie drangen auf Christina mit allen möglichen Fragen ein, wobei sie aber immer den Blickkontakt mit Jeremy suchten. Es kam ihr vor, als suchten sie für jedes ausgesprochene Wort seine Zustimmung – oder sie fürchteten, etwas Verkehrtes zu sagen. Ja, Furcht! Das schien für die junge Frau das richtige Wort zu sein. Jeder umgarnte Jeremy mit führsorglicher Hingabe. Geschah dies aus Liebe oder aus Furcht?
„Erzählen Sie doch einmal was von sich“, sagte die Besucherin irgendwann offen in die Runde hinein, um eine Reaktion zu provozieren. Mehr zufällig hafteten sich ihre Blicke dabei an Onkel Dave, der sich daraufhin angesprochen fühlte.
„Och, was soll ich schon großartig erzählen. Ich möchte Sie doch nicht mit alten Kriegsgeschichten über den Sturm der Normandie langweilen, wo ich die Stellungen der Deutschen unter Beschuss genommen habe.“
Die junge Frau konnte ein Lachen nicht unterdrücken.
„Was ist daran so witzig?“, konterte der andere scharf. Der Ärger war in seiner Stimme kaum zu überhören.
Die folgende Stille erschien geradezu erdrückend. Lediglich das Pendel der großen Standuhr, das mit leisen Geräuschen dumpf und monoton schlug, war zu hören. Selbst Jeremy gab keinen Laut von sich. Reglos hielt er sein Glas in der Rechten und beobachtete neugierig die Szene.
Christina spürte einen Kloß im Hals und schluckte schwer. Mit bebender Stimme meinte sie schließlich: „Entschuldigen Sie … aber … aber ich dachte, Sie hätten nur einen Scherz gemacht. Ich meine … Sie … Sie sind kaum sechzig, Sie können doch unmöglich am Strand der Normandie dabei gewesen sein!“
„Ja, so ist mein Onkel Dave, er macht immer seine Späße“, meinte Jeremy dann mit so lauter Stimme, das jeder am Tisch merklich erschrak.
Dann stimmten alle in ein Gelächter ein, welches sich bei jedem der Familienmitglieder gequält und gestellt anhörte. Onkel Dave tätschelte Christinas Arm und erklärte ausschweifend: „Ein Scherz, ein Scherz, natürlich war das nur ein Scherz. Ich meine, wie soll ich am Strand der Normandie gewesen sein? War ich denn da überhaupt schon geboren?“
Abwechselnd blickte er jeden an (Jeremy besonders intensiv) und lachte. Sein Gelächter klang so unnatürlich, der schlechteste Laiendarsteller hätte es glaubhafter dargestellt.
Just in diesem Moment bemerkte Christina endgültig, dass hier etwas nicht stimmte. Das Haus, diese merkwürdigen Leute, alles wirkte irgendwie falsch. Sie schob ihren Teller von sich, kaum in der Lage, auch nur noch einen Bissen herunter zu bekommen, und leerte ihr Saftglas in raschen Zügen.
Jeremy, du magst ein netter Junge sein, aber bei deiner verrückten Familie bleibe ich keine Minute länger!
„Sie müssen mich aber jetzt entschuldigen. Ich danke sehr für Ihre Gastfreundschaft, doch nun muss ich wirklich los.“
Jeder schaute sie schweigsam an, bis Jeremie sich räusperte und meinte: „Fahren Sie noch nicht, bleiben Sie wenigstens eine Nacht. Morgen nach dem Frühstück können Sie doch immer noch abreisen, oder?“
Sofort stimmten Jeremies Eltern, die beiden Schwestern und Onkel Dave ihrem jüngsten Sprössling zu und baten Christina in einem wilden, gestikulierenden Durcheinander über Nacht zu bleiben.
Dieser kleine Kerl gibt in seiner Familie unmissverständlich den Ton an!
Mit einer abwehrenden Geste stand die Besucherin auf. „Ich muss jetzt wirklich los, es tut mir leid“, kommentierte sie. „Sie sind bestimmt schon sehr müde“, konterte der Junge.
„Ich bin wirklich nicht müde, ich …“
Ein herzhaftes Gähnen hinderte sie daran, ihren Satz zu Ende zu führen. Eine bleierne Schwere überkam sie und wie auf Kommando drang ihr eine plötzliche Müdigkeit und Schlappheit bis in die Knochen.
Jeremy erhob sich, ging um den Esstisch herum und fasste sie bei der Hand.
„Kommen Sie, Christina, ich werde Sie auf das Gästezimmer bringen. Sicher möchten Sie sich hinlegen.“
Sie wollte dem Jungen widersprechen. Sie wollte sich einfach losreißen, aus dem Haus rennen, in ihr Auto steigen und fort fahren. Es gelang ihr einfach nicht. Widerstandslos ließ sie sich an der Hand des Jungen über eine endlos scheinende Treppe in eines der oberen Stockwerke führen…
+++
Der Nachtwind säuselte durch das gekippte Fenster und wirbelte sanft die dünnen Vorhänge auseinander. Der Halbmond stand am bedeckten Himmel und spendete nur wage Licht. Christinas tastende Hand suchte die Nachttischlampe und knipste sie an. Sofort kniff sie die Lider zusammen, weil das grelle Licht unangenehm in ihre Augen drang. Nur allmählich gewöhnten sie sich an die Helligkeit.
Die junge Frau schaute sich um. Sie befand sich in einem hübsch eingerichteten Schlafzimmer mit angrenzendem Bad. Sie schob die Decke beiseite und setzte sich an den Bettrand. Erst jetzt stellte sie fest, dass sie nichts als ihre Unterwäsche trug.
Was war geschehen?
Christina fühlte sich als Opfer eines klassischen Black-outs. Ihre letzte Erinnerung war, dass sie mehr oder weniger freiwillig gemeinsam mit Jeremy die Treppe hinauf gegangen war.
Wer hatte sie entkleidet und ins Bett gebracht?
Ihr Blick fiel auf den geöffneten Kleiderschrank zu ihrer Linken. Sie erschrak. Sämtliche Kleidungsstücke, die sie mit sich führte, hingen sauber an Bügeln bzw. lagen akkurat zu gleichmäßigen Stapeln auf den beiden Einlegeböden. Die Reisetasche lag zusammengefaltet am Boden des Schranks. Ihre Handtasche hing über der Lehne eines Stuhls.
Christina erhob sich und schlenderte hinüber in das Badezimmer. Wieder traf sie ein Schreck.
Der dreiteilige Spiegelschrank, der über dem breiten Waschbecken hing, war eingeräumt mit ihren Kosmetikartikeln und Waschutensilien.
„Mein Gott, oh mein Gott, was geht hier bloß vor sich?“, sagte sie zu sich selbst mit brüchiger Stimme.
Eines stand jedenfalls fest. Man wollte sie nicht mehr gehen lassen. Sie war eine Gefangene!
„Oh Gott, das darf doch wohl nicht wahr sein, in was für ein Irrenhaus bin ich hier nur geraten?“
Die Gefühle übermannten sie schließlich und sie begann bitterlich zu weinen und zu schluchzen. An dem Waschbecken musste sie sich festhalten, sonst hätten die zittrigen Beine ihren Dienst versagt und sie stürzen lassen.
Irgendwann, als sie sich nur halbwegs beruhigt hatte, kehrte sie in das Zimmer zurück und streifte sich ein T-Shirt über. Sie durchwühlte ihre Handtasche und stellte resigniert fest, dass ihr Handy entnommen wurde. Seltsamerweise war ihre Brieftasche mit sämtlicher Barschaft, Papieren und Kreditkarten noch vorhanden. Für Geld schienen sich diese Leute demnach nicht zu interessieren. Das Laptop allerdings, welches sich in einem Seitenfach in ihrer Reisetasche befand, fehlte.
Nachdem sie sich überzeugte, dass die Zimmertür von außen abgeschlossen war (was sie nicht wirklich überraschte), wanderte Christina eine ganze Weile nachdenklich hin und her.
„Wenigstens haben sie mir einen Fernseher gelassen, dann bin ich nicht völlig von der Außenwelt abgeschnitten“, sprach sie irgendwann zu sich selbst, ließ sich in einen bereits etwas abgewetzten Sessel plumpsen und grapschte nach der Fernbedienung.
In der Hoffnung, sich ein bisschen ablenken zu können, schaltete sie sich durch die einzelnen Programme.
Verrückt, das ist doch einfach nur verrückt, sagte sie schließlich in Gedanken und schüttelte fassungslos den Kopf.
Welchen Kanal sie auch immer wählte, der Bildschirm zeigte ausschließlich Kinder-, und Jugendserien. Tom & Jerry, Lassie, Die Muppet-Show, He-Man und die Masters of the Universe, Simpsons und so weiter – die ganze Palette.
Christina schaltete das Fernsehgerät aus und vergrub das Gesicht in ihren Händen.
Was hat das bloß alles zu bedeuten?
+++
Das Mädchen schreckte aus dem Schlaf auf und war sofort hellwach. Trotz der Dunkelheit erkannte Mary-Lou ihren jüngeren Bruder, der wie erstarrt vor ihrem Bett stand. Mit zitternder Hand schaltete sie das Licht an.
„Jer … Jeremy, was … was machst du denn mitten in der Nacht hier?“, stotterte sie ängstlich.
Ihr Herz schlug im Takt schneller und schneller.
„Das weißt du nicht?“
„Nein, nein!“
„Ich habe jetzt eine neue große Schwester, ich brauche dich nicht mehr!“
Das blanke Entsetzen packte das fünfzehnjährige Mädchen.
„Aber … aber wieso ich? Wieso nicht Melissa?“
„Weil du mich am meisten von allen anderen hasst. Du hasst mich weitaus mehr, wie du mich fürchtest. Leugne es nicht, Mary-Lou, ich spüre es. Du kannst deine Gefühle nicht verbergen. Nichts kannst du vor mir verbergen!“
Wie von einer Tarantel gestochen jagte das Mädchen hoch, schlang ihre nackten Arme um Jeremies Hals und bedeckte sein Gesicht mit Küssen.
„Du … du irrst, Jeremy! Ich liebe dich und ich verspreche, dass ich mich bessern werde. Nie soll ein böses Wort über meine Lippen kommen und ich möchte dich für immer ganz lieb haben!“
Sie küsste seine Stirn, seine Wangen, Nase und Mund. Vollkommen reglos, ohne den kleinsten Muskel zu bewegen und nicht die geringste Gefühlsregung zeigend, ließ der Junge die Prozedur über sich ergehen.
„Es ist vorbei, Mary-Lou. Es ist vorbei.“
Kraftlos sank das Mädchen auf die Knie, am ganzen Leib zitternd.
„Dann … lass mich doch einfach frei. Lass … lass mich doch einfach gehen.“
Der Junge stieß einen langen Seufzer aus.
„Du weißt doch, das würde dir nicht helfen. Auch dann wäre dir ein sofortiger Tod gewiss.“
Langsam hob Mary-Lou das tränennasse Gesicht. Sie schaute an Jeremie hoch, der plötzlich wie ein Gigant vor ihr stand. Erst jetzt begriff sie, was mit ihr geschah. Sie schrumpfte! Im Sekundentakt wurde ihr ganzer Körper kleiner und kleiner. Es brauchte nicht einmal eine halbe Minute, bis sie kaum größer als eine Barbie-Puppe war. Doch es ging immer noch weiter. Auf Insektengröße geschrumpft, waren ihre flehenden Klagelaute nicht mehr war zu nehmen. Gleichgültig hob Jeremy das Bein an und zermalmte die fingernagelgroße Mary-Lou mit dem rechten Fußabsatz.
+++
„Ich will jetzt wissen, was hier läuft, und zwar sofort!“
Christina fragte sich insgeheim, ob sie jemals einen derartigen Zorn verspürt hatte. Ja, ihre Wut übertraf noch ihre Furcht und Verwirrung. Mit regungsloser Mine stand Jeremy lässig vor ihr.
„Ich wollte Sie gerade zum Frühstück abholen und dafür schimpfen Sie mich aus!“
Das ist ja wohl die Höhe!
Christina hätte dem Jungen einen Schlag mitten ins Gesicht geben können.
„Ich glaub` ich spinne! Ich werde hier gegen meinen Willen von dir und deiner beschränkten Familie gefangen gehalten, hältst du das etwa alles für ein Spiel!“
Jeremie seufzte und schüttelte leicht den Kopf.
„Sie sind hier, weil ich es so will, Christina. Alles um Sie herum habe ich geschaffen und ich fürchte, Sie können nie mehr hier fort!“
Sie war sprachlos. Ein Irrenhaus, ich bin hier in einem Irrenhaus, dachte sie.
„Okay, das reicht! Das reicht!“
Sie wollte weg. Einfach nur weg. Auf dem Absatz drehte sie sich um, grapschte nach ihrer Handtasche, drückte sich an dem Jungen vorbei und eilte hinaus auf den Flur. Sie ärgerte sich zwar wegen ihrer übrigen Sachen, die sich noch in dem Zimmer befanden, vermochte aber anbetracht der Situation darauf verzichten.
„Ein Wiedersehen wird es nicht geben, Jeremy, deshalb sage ich lediglich lebe wohl!“
Dann rannte sie mit geschulterter Tasche die Treppe hinunter. Jeremie sagte nichts. Er blieb stehen, blickte ihr nach und sprach kein Wort.
Onkel Dave, der im gemeinsamen Wohnzimmer zurückgelehnt im Sessel saß und in einem Buch las, schreckte auf, als er Christina bemerkte, die an der offenen Tür vorbei hetzte.
„Das will ich sehen“, sagte der Mann zu sich selbst, legte das Buch zur Seite und stand auf.
Schnellen Schrittes eilte Christina zur Haustür und betete, dass diese nicht verschlossen war. Nein, sie öffnete, jedoch stieß die junge Frau prompt zurück. Ein gellender Schrei drang aus ihrer Kehle.
Vor der Haustür erwartete sie ein Nichts aus formloser, tiefschwarzer Unendlichkeit. Es schien, als blicke sie in ein gigantisches, schwarzes Loch.
Habe ich jetzt endgültig meinen Verstand verloren?
Sie wirbelte herum. Mutter Elisabeth, Vater Richard, Onkel Dave und Melissa, alle standen sie da und starrten sie an.
„Beruhige dich, Kleines, jeder von uns hat einmal diese Erfahrung gemacht“, erklärte der grauhaarige Onkel Dave schließlich und seine Stimme klang ungewöhnlich weich.
Als wimmerndes Bündel kauerte Christina zitternd am Boden. Wie aus dem Nichts stand Jeremie plötzlich neben ihr.
„Ich habe dir doch gesagt, du kannst hier nicht mehr weg. Doch du musstest es offensichtlich selber herausfinden. Ich bin dir deshalb nicht böse, große Schwester!“
Christina horchte auf.
„Was sagst du da?“
Jeremy wandte sich an seine Familienmitglieder und erklärte: „Mary-Lou ist nicht mehr unter uns. Dies hier ist jetzt meine neue zweite Schwester. Behandelt sie gut und kümmert euch um sie.“
Kaum eine Gefühlregung war in den Gesichtern der anderen zu deuten. Entweder kümmerte sie der Verlust Mary-Lous rein gar nicht, oder sie ließen sich ihre Trauer nicht anmerken.
Jeremy ging an den dicht beieinander stehenden Menschen vorbei, deutete auf Christina und sprach: „Ich habe keinen Hunger und gehe jetzt auf mein Zimmer. Nehmt euch ihrer an. Erklärt ihr alles. Doch bedenkt eurer Worte gut. Ich brauche euch nicht zu sagen, dass ich aus jedem Winkel dieses Hauses heraus, eure Gedanken lesen und eure Worte hören kann.“
Dann verschwand der Junge über die Treppe in die oberen Stockwerke.
+++
Christina saß an dem lang gezogenen Tisch des Esszimmers und stierte auf ihre dampfende Tasse Kaffee. Jeremys `Familie´ saß an der Seite der jungen Frau, ebenso schweigend.
„Nun denn, schweigen wir uns nicht länger gegenseitig an. Was geht hier vor? Wer ist Jeremy wirklich?“
Richard, der vermeintliche Familienvater, räusperte sich und sah Christina von der Seite an.
„Das ist schwer zu erklären.“
„Versuchen Sie es!“
Der Mann stieß einen langen Seufzer aus und schaute die anderen der Reihe nach an. Sichtlich nervös wich jeder seinen Blicken aus.
Anscheinend geht der Kelch nicht an mir vorbei, dachte der Endvierziger mit dem schütteren, dunklen Haar und der altmodischen Brille auf der Nase.
„Einerseits ist Jeremy ein ganz gewöhnlicher Junge. Er sehnt sich nach Liebe und Geborgenheit, nach Eltern, Geschwistern und Verwandten. Er liebt Süßigkeiten, Spielzeugautos, Action-Figuren und Zeichentrick-Serien. Anderseits … nun ja … wie soll ich mich ausdrücken? In dem Jungen schlummern Kräfte unfassbaren Ausmaßes, der Macht seines Geistes sind keine Grenzen gesetzt. Er kann alles tun, alles erschaffen, was er will, nur mit der Kraft seiner Gedanken. Selbst diesen Ort, an dem wir uns befinden. Er liegt jenseits von Raum und Zeit und nur mit einem Fingerschnippen kann Jeremie das Haus, Sie, uns und alles, was sich hier befindet, einfach verschwinden lassen.“
„Mein Gott“, machte Christina nur und schluckte.
Der kurze Bericht klang zwar wie ein Szenarium aus einem billigen Science-Fiction-Film, jedoch kam sie nicht darum, jedes Wort davon zu glauben.
„Und … und was wird jetzt aus mir?“
Onkel Dave übernahm das Wort und sagte: „Sie machen das, was wir auch machen. Sie werden Teil dieser Familie. Von jetzt an sind Sie Jeremys Schwester. Punkt. Zumindest so lange, bis er es so haben möchte.“
Und dann endest du wie die arme Mary-Lou. Der Teufel allein weiß, was der Bengel mit dem Mädchen gemacht hat, fügte der Mann in Gedanken hinzu und erschrak merklich. Auch nach all der Zeit, in der er sich nun in diesem Haus befand, hatte er sich noch nicht daran gewöhnt, dass Jeremie selbst auf die Ferne in den Gedanken anderer Menschen lesen konnte wie in einem offenen Buch.
Elisabeth hüstelte leicht und sah Christina etwas verlegen an.
„Jeremy möchte eine `echte´ Familie um sich haben, verstehen Sie? Also denken Sie zukünftig daran, mich Mutter und meinen Mann Vater zu nennen, okay?“
„Wo wir schon dabei sind, sollten wir zum Wohle aller auch jetzt zum `du´ übergehen“, kommentierte Richard noch.
Christina schüttelte sich.
Das ist verrückt, das ist einfach nur verrückt!
„Darf ich Chris zu dir sagen, große Schwester?“, fragte Melissa nun, die bisher noch kein Wort gesprochen hatte. „Okay. Ja das ist okay“, antwortete die Angesprochene knapp.
„So“, sagte Onkel Dave und rückte vom Tisch ab, „jetzt haben wir unser neustes Familienmitglied erfolgreich aufgenommen, jetzt können wir auch endlich mal frühstücken!“
Er stand auf und ging an den Kühlschrank.
„Weißt du, Kindchen, du musst versuchen, das Ganze von der positiven Seite zu betrachten. Du wirst nicht älter, musst nicht mehr zur Arbeit und der Kühlschrank ist immer voll. Nur mit Bier und Erwachsenenfernsehen sieht es schlecht aus. Mit der Zeit gewöhnt man sich aber auch daran.“
Dann war Jeremy plötzlich da. Er erschien so plötzlich, wie er vorhin im Hausflur verschwunden war. Er lächelte und zeigte den Gesichtsausdruck eines fröhlichen, glücklichen elfjährigen Jungen.
„Ist das Frühstück fertig?“
„Na so was aber auch, unser lieber Junge ist wieder da“, sagte Elisabeth, „wir wollten gerade den Tisch decken und dich rufen, Schatz!“
„Ich möchte neben meiner Schwester sitzen!“
Er schloss die verdatterte Christina in die Arme und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Dann rückte er sich einen Stuhl zurecht und nahm an ihrer Seite Platz.
„Ich hätte jetzt richtig Lust auf Rührei mit Schinken, wer noch?“
Augenblicklich hörte man brutzelnde Geräusche aus der Küche und ein würziger, herrlicher Duft drang aus der Tür ins Esszimmer hinein.
Während Melissa Teller und Besteck verteilte, eilte Elisabeth in die Küche und kehrte mit einer großen Pfanne zurück, in der sich saftig-gelbes Rührei und knusprig gebackenen Bacon befand.
Jeremy klatschte in die Hände und meinte: „Oh toll, du bist die beste Mama auf der ganzen Welt. Nicht war, Schwester?“
Christina erwiderte die Blicke des Jungen.
„Ja … ja das stimmt. Sie ist die beste!“
Die junge Frau schluckte hart.
Jeder nahm Platz und dann wurde gefrühstückt – wie in einer richtigen Familie!