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Jeosua-Linie
Aber an so etwas dachte Lee-Ham nicht, wenn er schweißgebadet in einem Raumanzug steckte, in seinen eigenen Exkrementen lag, nur um auf einen Moment zu warten, der vielleicht niemals kommen würde: Dass ein anderer Marine ebenfalls die relative Sicherheit einer gepanzerten Kuppel verließ und auf der kargen, grauen und dunklen Oberfläche des Asteroiden Pallas Position beziehen würde.
Zurzeit herrschte Waffenruhe zwischen den Heliotern und den Terranern, aber dies konnte sich schnell ändern. Und hier im Gürtel war ein Menschenleben ohnehin nur so viel wert, wie die Energiesalve oder das Projektil, das es beendete. Nur die kargen Felsbrocken mit ihren reichen und kriegswichtigen Erzen waren von Bedeutung. Außerdem ...
Moment!
Da war doch was! Lee hatte es genau gesehen! Die zwangzigfache Vergrößerung des Scharfschützenaufsatzes seines DH-456 entging keine Wärmesignatur. Sein HUD spielte ihm die Sequenz erneut vor und da bestätigte es sich: eindeutig ein Mensch.
In den letzten Tagen wurden seine Bewegungen immer lethargischer, engte sich sein Sichtfeld immer stärker ein. Seine Aufmerksamkeit ließ nach, die dauernden Dämmerzustände zwischen Tag und Nacht - hier oben war der 25-Stunden-Takt der Flotte ohnehin egal - zehrten an seinen physischen, aber vor allem psychischen Reserven. Doch dies alles, der ständige Schlafdrang, die schmerzenden Augenlider, die geöffnet bleiben mussten, alles wie weggefegt!
Er konnte wieder zurück! Es bestand die Möglichkeit. Würde er den anderen erwischen, dann konnte er sich wieder bei seiner Kompanie melden und sieben Tage des Hockens auf dem steinigen Untergrund bei vernachlässigbarer Gravitation würde endlich vergessen sein. Die klaustrophobischen Anfälle in diesem Raumanzug, die Atemnöte, die schlechte Luft, erfüllt von seinen eigenen Körperausdünstungen und dem miefenden Atem, würde er endlich hinter sich lassen können.
Er reckte seinen Körper, die Halswirbel knacksten dabei lautstark und sein Stuhl bewegte sich entlang seines Hinterkörpers weiter herauf, war inzwischen an der Hüfte angelangt.
Eine ekelhaft handwarme Brühe.
Er rückte mitsamt des Anzug etwas weiter hinauf auf den kleinen Felshügel, hinter dem er sich verbarg. Ein kleines Stück, dann würde er den Helioter-Soldaten sehen können.
Zielen.
Vergewissern.
Abdrücken.
Verschwinden.
Das Prinzip eines Snipers. Nicht so, wie er es früher in den GloboShootern tat. Immer wieder an der selben Stelle auf neue Gegner warten - und sich dann wundern, wenn man abgeknallt wurde. Nein, er wusste es besser! Seit Jahren war er Soldat, den Rang eines Sergeant First Class des US-amerikanischen Korps' der Terranischen Streitmacht hatte er sich nicht umsonst verdient!
Nur noch wenige Dezimeter, dann würde er in Reichweite sein. Sein HUD zeigte bereits die vermutliche Wärmesignatur des Gegner, wie dieser wiederum hinter einem Hügel hockte; nicht wissend um das Ende, das ihn bald erreichen würde.
Einen weiteren Robbenzug und ... Lee spürte ein Taubheitsgefühl auf der Stirn und alles um ihn herum wurde plötzlich ... weich. Er spührte keine Kanten, kein hartes Metall mehr, aber dafür eine unsagbare Kälte, die ihn anzog, wollte, dass er aus dem Anzug kroch.
Nein!
Nicht er.
Die Wärme wollte aus dem Anzug kriechen.
Jamz Kahm-Lipot sah zufrieden auf. Er würde endlich wieder in den Verschlag dürfen. Er erhob sich und musterte die Leiche in dem Raumanzug. Er schoss erneut auf diesen.
Doppelt tot. Doppelt sicher.
Dann schulterte er seine Waffe und begab sich zurück zum Helioterstützpunkt G-12 auf dem Asteroiden Pallas. Dabei dachte er nicht daran, dass es gerade das Leben eines Menschen beendet hatte. Der Terraner war einfach ein weiteres Ziel für den Helioter, nicht mehr nicht weniger.
Jamz war dem Mann, dessen Leben er gerade ein Ende gesetzt hatte, allerdings dankbar. Sein vorgesetzter Verweser hätten den Subalternen ansonsten noch Wochen lang auf Pallas herumgescheucht.
So war er allerdings ein Auserwählter, der als einer der wenigen Glücklichen von insgesamt 756 Soldaten des Konzils von Helios überleben durfte. Für die Konzilsmitglieder war Pallas seit langem kein Schlachtfeld mehr. Während die Terraner verzweifelt um jeden Felsbrocken kämpften, auf dem noch die Globenflagge wehte, so waren dies für die Helioter nur Trainingseinsätze, um die Spreu vom Weizen zu trennen.
Jamz war froh, nicht zur ersten Gruppe zu gehören.
"Ähm ... weil es dämliche Terraner sind?"
Ein Schmunzeln und vereinzeltes Gelächter ging durch den Hörsaal der Europäischen Universität. Mit einigen Schlägen ließ der Professor, ein älter wirkender Mann mit aufgeblähtem Gesicht und kahler werdendem Haar, wieder Stille einkehren.
Arth-Herigon mochte es nicht, wenn in seinen Vorlesungen Spott und Verachtung über Terraner geäußert wurde. Auch wenn die Anschuldigungen wahr waren. Aber sein Ur-Großvater, Lee-Ham, war ein Terraner. Das machte ihn nach aktueller genealogischer Definition zwar nicht zu einem terranischen Abkömmling - Ham starb lange bevor dessen Tochter und seine Großmutter - selbst ein heliotisch-terranisches Mischlingskind - einen Helioter heiratete und damit seine Blutlinie begründete -, doch auch heute zählte es noch etwas, wenn man terranische Vorfahren hatte. Dass dies nichts gutes war, dürfte wohl klar sein.
"Sehr witzig." Er seufzte resignierend und zog dann seinen Trumpf: "Thomis!"
"Nach der Niederlage gegen die heliotischen Freikorps', beging das Konzil den Fehler Terra zerstört zu belassen. Selbst mit der damaligen Technik wäre es kein großes Problem gewesen, die Seuchen einzudämmen, das Artensterben zu stoppen oder die Allgemeine Radioaktivität zu senken."
"Und wieso unternahm das alte Konzil nichts?"
"Weil Konzilsvater Konäa, der damalige Vorsitzende, bereits geistig umnachtet war, aber alle Kolonialvölker seinem Uteril vertrauten und seine ... aus unserer Sicht ... irrationalen Beschlüsse nur vor wenigen kritisiert wurden. Auch waren die Terraner zur damaligen Zeit in der kolonialen Propaganda als Todfeinde des Lebens dargestellt. Die Kolonisten wollten jegliche Verbindung zwischen sich und ihren Ahnen kappen. Deswegen die Taktik des verbrannten Planetoiden. Der Hass und die Falschinformationen, die von den Großen Lichtern, den damaligen Geheimpolizisten und Propagandamaschinisten, ging so weit, dass selbst die Konzilsväter und -mütter Helios' schließlich an diese glaubten."
"Gut. Damit haben Sie bereits ein weiteres Thema angesprochen: Die Verblendung der Massen. Wie bereits erwähnt wurde, war die Propagandamaschinerie zur Zeit des ..."
Er war froh, als er das Universitätsgelände verließ und die Sonne erblickte, wie sie auf Europa schien. Es wurde Frühling. Der Mond Europa lugte endlich wieder hinter dem Gasriesen Jupiter hervor und das Zentralgestirn der Galilei'schen Republik erblickte wieder das Tageslicht.
Soweit man hier, knapp fünf Astronomische Einheiten von Sol entfernt und durch den ganzen CO2-Ausstoß der Schwerindustrie überhaupt noch von Sonnenschein reden konnte.
Aber Thomis war das egal. Er wollte nur noch nach Haus und ins HelioNet. Die Hausaufgaben konnten auch noch waren.
"Thomi!", schallte es von hinten, verstärkt durch den trichterförmigen Gang, durch den der Zwanzigjährige gerade ging. Der gesamte Mond Europa war von diesen Tunneln, die in ihrer Größe von wenigen Metern bis zu mehreren Kilometern Durchmessern schwankten, durchzogen. Solare Spiegel im Orbit sorgten dafür, dass das Eis auf der Oberfläche immer auf eine Temparatur von mindestens 4°C erwärmt wurde, also einen flüssigen Charakter aufwies. Ebensolche Spiegel ließen nun auch für europäische Verhältnisse grelles Sonnenlicht durch das Wasser schimmern und das zarte Gesicht der jungen Dame in einem zarten Aquamarinblau erstrahlen.
"Zusi! Ähm ... hallo."
"Thomi, du bist doch immer so gut in Geschichte", fing sie an, als sie den braunhaarigen, mit einigen wenigen Aknenarben versehenen, jungen Mann erreichte, "und ich dachte mir, dass du mir vielleicht etwas helfen könntest. Ich verstehe die Aspekte des Bush-Regimes im 21. Jahrhundert und die Zeit direkt vor dem Großen Krieg noch nicht. Kannst du mir vielleicht etwas helfen?" Thomis erschien es als würden ihre Augen nun noch mehr glänzenals sonst. Jedenfalls zitterte ihre Unterlippe leicht, das bemerkte er.
Und ganz, wie es Zusi Harboor geplant hatte, biss der junge Mann auf diese Gesten an.
"Ja klar, kann ich dir helfen. Das sind sowieso Zeiten gewesen, die man heute nur noch schwer nachvollziehen kann, wenn man sich nicht gerade für die Materie begeistert", gab er verschmitzt zu und untermalte die letzten Worte mit einem heiteren, leicht kichernden, Ton.
Ähnliches hatte einmal sein Vater zu ihm gesagt. Wahrscheinlich fand er es deswegen so amüsant.
"Ja, zum Glück müssen wir uns heute nicht mit lunaren Legionen, VST-Agenten und-wie-die-sich-alle-nannten herumschlagen."
"Beim Kern, zum Glück nicht!"
Wir leben in besonderen - friedlichen - Zeiten, ohne Diktatur und Willkür, fügte er gedanklich hinzu, um sich dann auf die junge, in engen Synthhosen gekleidete Rothaarige zu konzentrieren.
Professor Orion Arth-Herigon war gerade dabei seine Materialien zusammenzupacken. Er zog den Speicherstift, in dem sich seine Unterrichtsvorbereitungen befanden, aus der Schnittstelle mit dem Uni-Großrechnernetz und klemmte sich einige Packen Papier unter dem Arm, um diese gerade mitsamt dem Stift in sein Schließfach zu legen, als er einen großen Mann bemerkt, der ihn von der Tür des Hörsaals aus beobachtete.
Der Hörsaal 34-12 der Europäischen Universität, die ihren Sitz in der aquatischen Kolonie Zwölf hatte, war so aufgebaut, dass die höher gelegenen Studentenplätze der Vortragsbühne des Referenten gegenüberstanden. Von Platz des Vortragenden aus gesehen, wurde die rechte Seite des Raums von mehreren Fenstern dominiert, die einen Blick auf die Wasserwelt Europas freigaben. In Wahrheit handelte es sich jedoch um Videoschirme, die lediglich Aufnahmen abspielten, da der Wärmeverlust bei echten Fenstern viel zu groß wäre.
Der große und hagere Mann lehnte an der vorderen von zwei Türen, die zum Hörsaal führten. Er wurde umrahmt von historischen Karten, Chronologien verschiedenster Zeitalter und Freskoausschnitten antiker terranischer Kirchen und anderer sakraler Bauten.
Arth-Herigon musterte den großen, hageren und blassen Mann, der an der Tür lehnte, kurz und verstaute dann schnell seine Utensilien in seinem Schließfach, bevor er sich der Person zuwandte.
"Guten Tag. Sie wünschen?", begegnete der Abkömmling der terranischen Ham-Linie dem Besucher.
"Sind Sie Orion Arth-Herigon?", fragte der große, hagere, blasse und in einem schwarzen Mantel gekleidete Mann den Professor.
"Korrekt. Orion Arth-Herigon, Professor für neuzeitliche Geschichte an der Europäischen Universität."
Der große, hagere, blasse, in einem schwarzen Mantel gekleidete und mit ebensolchen, kurz geschnittenen, dünnen, schwarzen Stoppelhaaren versehene Mann stieß sich von der geöffneten Tür ab und ging mit bemessenen, aber gezielten, dabei jedoch nicht hektisch wirkenden, Schritten, auf sein Gegenüber zu.
"Ich wurde vom NGL beauftragt Sie abzuführen. Versuchen Sie bitte nicht, sich zu wehren oder andersweitig die Durchführung des Befehls zu behindern. Ich wurde zu jedweger Art der Gewaltanwendung autorisiert. Ich soll Sie lediglich zum NGL-Tower bringen."
"Was erlauben Sie sich! Wessen beschuldigt mich das Neue Große Licht?! Sie treten einfach in meinen Hörsaal und gerieren sich wie ein überheblicher Antagonist aus antiken Action-Holos!"
"Werden Sie bitte nicht ausfallend. Es reicht, wenn Sie mich begleiten, Professor", gab der Mantelträger gepresst und mit einem entschlossenen Unterton in der Stimme zurück.
Die beiden gingen wortlos durch diverse Gänge der Universtitä, bis sie eine öffentliche Schleuse erreichten, vor der ein dunkler AquaGleiter dockte. Das Stoppelhaar betätigte einige Tasten auf einem in der Wand eingelassenen Touchscreenfeld und die Schleuse öffnete sich. Ein in gepanzerter Uniform befindlicher Mann, dem man nicht einmal seine Hautfarbe ansehen konnte, weil er einen körperumfassenden Schutz trug, nahm den älteren Professor entgegen.
Der Mantelträger wirkte zufrieden und sprach zu dem Panzermann in einer Art, wie es die Campus-Positroniken taten, wenn sie einen Befehl bestätigten: "Terraner-428 übergeben. Universität gereinigt."
Dabei sei aber zu sagen, dass nicht die Republik die Verhaftungen vornahm, sondern neu-heliotische Inflitratoren, die das NGL zu ihrem langen Arm machten. Vorher war es nur ein normaler Geheimdienst, wie ihn alle planetaren Nationen unterhielten. Danach jedoch eine Bestie, die die Gräuel des Großen Krieges im Solaren Holocaust wiederholen sollte.
Die Jeosua-Linie im damals Gürtel genannten Asteroidenfeld wurde während des Dritten Heliotischen Feldzugs erneut zur Szenerie eines beispiellosen Gemetzels und Schlächtens. Bar jeglichen menschlichen Mitleids ..."