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Jenseits
Von: Lohrwyn
Schweigen schlug ihr entgegen, hüllte sie ein in die innerste Finsternis der Hoffnungslosigkeit, blies einen eisigen Hauch unstillbarer Trauer in ihr Herz und fesselte ihre Gedanken an die Unwandelbarkeit der Form von Zeit, die in dieser Welt herrschte.
Ja – sie hatte ihr Land, ihre Welt verlassen. War gegangen, hatte jeden Rat als eng und begrenzt abgetan, hatte auf ihre Freiheit, die Grenze ins Jenseits zu überschreiten, bestanden und hatte gelacht, als die Tore des Lebens sich schlossen. Sie war in diese Welt gekommen, hatte alles gesehen, alles gehört, alles gefühlt - und ihr Wunsch nach dem Wissen des Jenseits war gestillt worden. Mehr als gestillt! Denn die Freiheit erschöpfte sich in dieser Welt in der Freude, auf einsamen Waldlichtungen im hellen Sonnenschein zu tanzen oder eine Träne im Auge zu spüren, beim Anblick des silbrig-bleichen Mondes. Was für eine begrenzte Freiheit – in ziemlich jeder Hinsicht. Denn nicht viele Wälder im Jenseits erfreuen sich noch dieser stillen und einsamen Orte, die zum Tanzen verführen können. Und die Träne im Auge war weder das Ziel ihrer Träume gewesen, noch konnte sie ihr auch nur eine Spur von Frieden bringen, angesichts der Flüsse von Tränen, die sie bereits vergossen hatte.
Nichts war rein hier oder konnte die Reinheit des Ursprünglichen lange halten. In dieser Welt schien sich das Leben an den Folgen unbefriedigender Dualitätsansprüche erschöpfen zu müssen. Die Heiligkeit der Dreiheit - und seines Ursprunges - war das Geheimnis, das sich hinter diesem Sein versteckte. Gesucht von Allen, deren Ziel die Macht der Herrschaft war, aber gefunden nur durch die, die Macht ohne Herrschaft in sich wachsen ließen, weil ihre Augen noch fähig waren zu sehen. Alle Anderen waren blind geworden. Sie nicht, zumindest nicht mehr. Denn sie war Teil gewesen jener Welt, die andere suchten und wenige fanden. Aber sie war gegangen.
Neugier? Abenteuerlust? Sehnsucht? Das erste – vielleicht, das zweite – mag sein, das dritte – erst jetzt! Sehn – Sucht! Sucht, ein lebenserhaltender und gleichzeitig zerstörender menschlicher Aspekt des Lebens an diesem Ort. Süchtig nach Leben, nach Liebe, nach Gemeinschaft, nach Einsamkeit, nach Wissen, nach materiellen Stoffen aller Art. Nicht zu vergessen, die Sucht nach der Macht über andere Lebewesen, organischer wie anorganischer Art.
Aber ihre Sucht war das Sehnen – die Sehnsucht nach Rückkehr, nach Heimkehr. Ihre Sucht galt dem Sehnen nach dem Weg, dem Tor, der Rückkehr.
Sie hatten es gewusst, sie hatten versucht es ihr zu sagen. Aber sie suchte damals das Neue, das Unbekannte, das Fremde. Auch die Menschen kannten den Reiz des Fremden, aber immer nur solange, wie sie davon eine Vermehrung des eigenen Reichtums, der eigenen Macht und eines sie über andere erhebenden Wissens zu erwarten hofften.
Sie war anders, anders als Alle, als Viele, als die Meisten! Drüben, in ihrer Welt, galt es das Leben zu leben, das Wissen zu wissen, die Macht zu haben, den Reichtum zu teilen und vor überschäumender Liebe zu lachen. Neues, Unbekanntes, Fremdes hatte in ihrer Welt, für ihre Brüder und Schwestern, keinen Platz. Neues konnte dort nur eine Umdefinierung des Alten sein, Unbekanntes gab es nicht und Fremdes war nur das Bekannte in einem anderen Gewand.
Hatte sie sich blenden lassen von etwas, das es gar nicht gab? Hatte ihr Geist sich selbst geblendet, um die Erfahrung tiefster Trauer und unendlichen Leids machen zu können?
Gut denn. Dann war der Hunger ihres Geistes jetzt gestillt. Wo war also der Weg zurück?
Ich will nach Haus! Schwestern, Brüder! Bitte helft mir! Zeigt mir den Weg! Ich habe erkannt! Habe alles gesehen! Habe die Verantwortung getragen und das Leid! Aber nun ist es genug. Bitte zeigt mir den Weg, öffnet mir das Tor. Nichts anderes wünsche ich mir mehr als das Leben zu leben, um zu sein, das Wissen zu wissen, um zu wachsen, die Macht zu leben, um zu heilen und aufzubauen, den Reichtum zu teilen, um ihn durch Freude zu vermehren und voller Liebe zu lachen, da Liebe und Lachen die Grundpfeiler des Lebens sind. Bitte zeigt mir den Weg. Bitte!
Lasst mich nicht allein!
Aber nur Schweigen war die Antwort. Das Tor war geschlossen, der Weg versperrt! Wollte man sie nicht hören? Hörte man sie, aber wollte das Tor nicht öffnen? Konnte man das Tor nicht öffnen, weil nur sie selbst es tun konnte?
Schweigen! Schweigen war alles was sie bekam. Ein Schweigen, das sie mit der Finsternis der innersten Hoffnungslosigkeit einzuhüllen drohte, eisige Trauer in ihr unstillbar sehnendes Herz blies und ihre Gedanken – ihr Sein - an die scheinbare Unwandelbarkeit von Zeit zu fesseln versuchte. Der tobende Sturm in ihrem Inneren schien der Stille des Waldes „ Lüge“ entgegenzuschreien. Lüge, Unwahrheit, Blendung, Schein! War dieser Schein, der dieser Welt der Menschen scheinbare Festigkeit und Dauer verlieh, die Lösung? Schein: als Licht getarnte Finsternis, als Erkenntnis getarnte Unwissenheit, als geistige Tiefe getarnte Seelenlosigkeit.
Der Schein, der wie ein verzerrender Spiegel das Auge irritiert und den Geist verwirrt, war das die Lösung - der Schlüssel zur Öffnung des Tores?
Wenn alles schweigt, höre auf die Stimme in dir!
Ja, ja! Ich danke euch! Euer Schweigen war die Antwort. Das Rauschen des Windes hätte mir Hoffnung gemacht, das Raunen der Bäume mir Kraft gegeben. Ich hätte dem Wind und den Bäumen gelauscht und wäre nicht gezwungen worden in mein eigenes Inneres zu hören. Ich werde mein Denken von den Fesseln der Zeit und der Bürde des Schmerzes befreien, meine Augen werden lernen den Schein zu durchschauen und meine Füße werden den Weg hinter den Spiegel finden. Dort werde ich den Schlüssel schmieden, zurückkehren zum Tor und es öffnen. Hört mich, Schwestern und Brüder. Ich werde zurückkehren!
Der Ruf einer in der Dunkelheit nach Weisheit jagenden Eule hallte durch den stillen Wald, dessen Baumwipfel in einem unsichtbaren Konzert, getragen von plötzlich aufkommendem Wind, das stille Lied und den ewigen Tanz des Lebens aufführten.
Mit einem kleinen Lächeln drehte sie sich um und ging. Ging zurück und vorwärts und keines von beidem und dennoch alles. Sie hatte den Weg erkannt und alle Fragen würden zu späteren Zeiten beantwortet werden. Zu Zeiten, dessen Zeit auch nur Schein war?
Alles ist Schein, auch die Zeit! Und wenn „später“ einen zeitlichen Punkt innerhalb einer geraden Linie bezeichnet, dann scheint es mir so zu sein, dass „später“ jetzt ist.
Alle Fragen sind beantwortet, alles Wissen ist erkannt? Ich lache über Macht, denn ich bin Macht - und ich bin Liebe, die Leben ist. Es war immer alles in mir. Es ist alles in mir! Jede Lüge und jede Wahrheit, alle Freude und aller Schmerz, das Wissen und die Unwissenheit. Schwarz und Weiß - und was dazwischen liegt. Immer und nie und trotzdem! Denn Leben erhalten alle Dinge nicht durch die Zweiheit, sondern durch deren Verbindung mit dem Dritten in Allem.
Sie wunderte sich nicht, als vor ihr ein Tor ohne jedes Geräusch aufging. Eine Pforte des Lebens, der Zugang zur Erde - und ihr Weg zurück.
Grauer Nebel wallte daraus hervor. Nicht schwarz und nicht weiß. Grauer Nebel, dessen Wassertropfen in Verbindung mit Licht in tausend verschiedenen Farbfacetten erstrahlten. Nicht bunt und nicht farblos, aber lebendig wie das Leben selbst – wie sie selbst, wie alles Lebende. Tanzend überschritt sie die Grenze zum Land des ewigen Lebens und des ewigen Todes und des Dritten, das nicht genannt werden kann. Sie hatte den Weg wiedergefunden in sich selbst und so auch außerhalb.
Sie war Daheim!