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Jenseits des Wassers
Die Reise in die fremde Welt
Nathia erzählt...
Mein Leben lang war ich nichts anderes als ein normales Mädchen – eine Schülerin, die an den Wochenenden fortgeht und lange ausschläft, mit ihrer Mutti in einem hübschen Häuschen wohnt und sich mit Freunden trifft. Und mein Leben verlief ebenso normal. Jedenfalls fast normal…
Vor genau dreizehn Jahren und dreizehn Tagen verschwand mein Vater an einem Freitag dem Dreizehnten – und das ist auch das heutige Datum.
Während ich auf meine neue Freundin Madjena und ihr Pferd Taned wartete, setzte ich mich an den Fluss ins weiche Gras und lehnte mich an meinen Rucksack, den ich gar nicht erst abnahm. Mein kleiner Shagya-Araberhengst Sarik, der nur seinen einfachen Zaum trug, stellte sich bis zum Sprunggelenk ins Wasser und trank ein wenig. Stolz betrachtete ich das Geburtstagsgeschenk von meiner Mutter. Der kleine, allerdings noch nicht ganz weiße Schimmel war schon ein Prachtstück. er hatte dunkle Augen, die immer etwas schelmisch dreinblickten, spitze, aufmerksame Ohren, die wirklich alles hörten, lange, athletische Beine - und er war nicht größer als 1,54 Meter Schulterhöhe. Ich könnte meinen Ellbogen bequem auf seinen Widerrist stützen.
Ich vertiefte mich wieder für eine Weile in mein Buch „Der Hengst der Blauen Insel“. nach einigen Minuten legte ich es weg und sinnierte darüber nach, warum mein Vater, heute vor genau dreizehn Jahren und dreizehn Tagen verschwunden sein könnte – hier am Fluss war er das letzte Mal gewesen. Oft saß er hier, machte es sich im Gras bequem und dachte nach. Manchmal setzte er sich auch mit dem Bürokram hinaus, wenn er keine Lust hatte, in seinem stickigen Arbeitszimmer zu sitzen. Keine Spuren von ihm, keine Andeutungen auf eine Entführung, keine Spuren eines Kampfes, auch (glücklicherweise) keine Leiche. Er war weg.
Plötzlich wieherte Sarik aufgeregt und ich sprang auf die Füße. Mein Herz begann zu hämmern und ich blickte mich um. Ein Wiehern erinnerte mich wieder an meinen Schimmel und ich sah zu ihm hin. Es schien sich nichts geändert zu haben – weder tat sich die Erde auf, um mich und mein Pferd in die Tiefe zu reißen, noch fegte uns ein Tornado hinweg. Ich verfluchte mich in Gedanken für meine typisch sarkastischen Gedanken, die mich immer nur vervös machten. In der Gegend tat sich nichts. Ich blickte mein Pferd mit einem Hauch des Vorwurf an. „Fehlalarm!“, schimpfte ich freundschaftlich. Sarik warf den Kopf auf, damit ihm seine Stirnmähne nicht mehr in die Augen hing und spielte erregt mit den Ohren. Seine Augen waren geweitet und neugierig. Dann lief ein Schauer über seinen Körper.
Und dann – sah ich es.
„Sarik!“, brüllte ich und sprang ins Wasser. „Komm da raus!“
Sarik – verschwand. Er versank. Sein Körper war mindestens dreißig Zentimeter tiefer im Wasser als vorher, obwohl er nicht weiter in die Mitte des Flusses gegangen war. An der Stelle war es tiefer geworden. War es doch ein Flecken Treibsand, den es hier gab, der vielleicht meinem Vater zum Verhängnis geworden war? ich kletterte vorsichtig ins Wasser und fand eine Steinplatte in der Nähe von Sariks Kopf. Mit einigen raschen Schwimmzügen war ich bei ihm und packte seine Zügel. „Raus da, sonst stirbst du!“, rief ich verzweifelt. Sarik wieherte und biss in die Trense, weil ihm der Zug im Maul wehtat, aber er blieb stur wie ein Esel stehen, während das Wasser langsam über Widerrist und Hals kletterte.
„Bitte, Sarik!“, flehte ich und zog mit immer größerer Heftigkeit an den Zügeln. Der Schimmel rührte sich nicht von der Stelle. Meine Kleidung und der Rucksack, den ich in der Aufregung nicht abgelegt hatte, sogen sich mit Wasser voll und wurden schwer.
Das Pferd musste da raus, egal wie!
Ich ließ Sariks Zügel fahren und tauchte unter. Knapp über dem Boden bleibend, schwamm ich bis zu Sariks Schulter, stützte mich dort mit einer Hand ab und tastete seine Beine hinab.
Und ich erschrak. Der Hengst versank nicht.
Er verschwand.
Im wahrsten Sinne des Wortes.
Seine Beine waren einfach weg. Einige Zentimeter über dem Sand lösten sie sich in einem Schimmern und Glitzern auf.
'Ein verdammt blöder Spiegeltrick!', dachte ich und streckte schließlich zögernd meine Hand hinab - um es nur Sekunden später zu bereuen. Es war kein Trick.
Meine Hand verschwand auch. Es schmerzte nicht, ich spürte sie auch nicht in Sand greifen – sie war einfach weg. Um es genau zu nehmen - ich spürte sie gar nicht mehr!
Entsetzt versuchte ich mich vom Grund wegzustoßen, doch es ging nicht. Es hatte nur zur Folge, dass auch mein anderer Arm und meine Beine in dem Glitzern verschwanden und ich sie nicht mehr fühlte. Erschrocken registrierte ich, dass Sarik neben mir immer schneller hinabsank, noch einmal Luft holte und sich dann vor meiner Nase in einem Gleißen und Funkeln auflöste. Warum hatte er sich bloß nicht gewehrt?
Namenlose Angst umgab mich in diesen wenigen Sekunden. In dem Erschrecken, mich, meine Gedanken und meine Gefühle für immer zu verlieren, unternahm ich einen letzten Versuch, noch einmal zu entkommen.
Ich zappelte wie ein Fisch auf dem Tockenen, nur diesmal umgekehrt und ich kämpfte mit aller Kraft darum, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Ich hatte Furcht - in meinem Kopf hatte nichts anderes Platz als Angst. Ich war alleine. Niemand war hier, um mich aus dem Wasser zu zerren, niemanden gab es, der mir helfen konnte. Ich sah das Gesicht meiner Mutter vor mir, und ich meinte ihre Hand auf meinem Kopf zu fühlen. Eine warme, schützende Hand, etwas tröstlicheres als die Hand einer Mutter konnte es nicht geben. Und ich dachte bloß an eines - ich wollte sie wiedersehen!
Ich versuchte mich ein letztes Mal noch verzweifelt aufzulehnen. Ich hatte das Gefühl, zu ersticken. Meine Lunge schmerzte und das war auch das letzte, was ich für eine Weile spürte, bevor die Welt vor meinen Augen schwarz wurde.
Es war warm. Die Sonne schien auf mein Gesicht und Wasser rauschte.
Ich ließ meine Augen geschlossen. Sicher war das nur ein Traum gewesen. Ich hatte mein Buch gelesen und war eingeschlafen, ganz einfach. Das Rauschen des Flusses sprach dafür. Wäre das vorher wirklich passiert, wäre ich sicher tot. Und dann würde ich nicht spüren, dass ich hier lag. Es war so einfach und logisch, dass ich es mir einredete, bis ich es selbst beinahe glaubte.
Aber etwas stimmte nicht. Die Sonne konnte unmöglich auf mein Gesicht scheinen, da ich vorher unter den Bäumen gesessen hatte. Mein Rucksack fühlte sich anders an – nicht so hart. Ich lag regelrecht darauf, trotzdem drückten die Kanten meiner Tupperdosen nicht in meinen Rücken. Und das Rauschen klang zu – laut. Der Fluss, an dem ich regelmäßig baden ging, war tief, aber sehr, sehr langsam und daher kaum zu hören. Das Rauschen hier musste um ein Vielfaches lauter sein. Ich wusste sofort, dass ich mir eine Illusion einredete, doch ich klammerte mich an diese letzte Hoffnung, zu Hause zu sein, die mir geblieben war.
Sarik schnaubte und ich hörte sein Hufe neben mir den Boden stampfen. Dann blies er mir seinen warmen Atem ins Gesicht und zwickte mich sanft in die Nase.
Seufzend entschloss ich mich, die Augen doch zu öffnen. Mir blieb nichts anderes übrig und außerdem war alles besser als diese Ungewissheit.
Ich schlug die Augen auf und erhob mich langsam. Sarik bohrte seine Nase in meinen Bauch und ich schob seinen Kopf weg. Da musste ich meinen Weggefährten wohl oder übel in Augenschein nehmen, der gerade beleidigt den Kopf mit der noch grauen Mähne aufwarf. Ich schlug die Hände vor den Mund. „O Gott, Sarik!“, rief ich mit zittriger Stimme.
Mein Hengst, vorher noch bloß mit Zaumzeug unterwegs, war nun aufs Prächtigste gesattelt und gezäumt. Ein Zaumzeug, dessen Stirnriemen sehr breit war und mit Gold und Silber beschlagen, eine Trense aus Silber, vergoldete Steigbügel am Sattel, der Sattel selbst mit einem breiten Ledergurt, der mit feinster Schafwolle überzogen war, auch der mit dunklem Leder bezogene Sattel an der eigentliche Sitzfläche mit weicher Wolle gepolstert, außerdem trug Sarik eine Panzerung, die eines königlichen Schlachtrosses würdig wäre. Ein prächtiger Brustpanzer aus Metallschuppen, Beinschutz aus zähem Wildleder mit Metallbeschlag, eine Satteldecke aus einem mir unbekannten Stoff, die über das Hinterteil des Schimmels hinwegging und selbst die Flanken noch schützte und schwerere Hufeisen. Der Sattel hatte ähnlich wie ein Westernsattel vorne und hinten sehr hohe, breite Sattelhöcker, um einen angenehmen Sitz zu gewährleisten und die Sitzfläche selbst sehr breit, um das Gewicht des Reiters auf eine größere Fläche zu verteilen – also für Reiter und Pferd angenehmer und überhaupt alles war darauf ausgerichtet, lange und robust zu halten.
Mit widerstreitenden Gefühlen in meiner Brust rieb ich den Stoff der Decke zwischen meinen Fingern – obwohl er dünn war, wurde meine Haut daran sofort warm.
Endlich erinnerte mich der abstrakte Aufzug des Hengstes an meine eigene Ausrüstung – meine Haare hatte ich offen getragen, nun waren sie zu einem dicken Zopf geflochten, der strickähnlich meinen Rücken hinabhing, unter meinem Rucksack hing ein schwerer Mantel an meinen Schultern, aus dem selben Stoff gefertig wie die Decke meines Schimmels, der mir bis zu den Fersen langte, statt meiner Jean trug ich Reithosen aus Baumwolle und weichem Leder, ein Hemd aus feinen Leinen unter einer Lederrüstung, die mit Metallbeschlag verstärkt und verziert zugleich war. Es war dasselbe Metall wie der Brustpanzer meines Pferdes, er schien auf den ersten Blick hart und unverwüstlich, aber leicht wie eine Feder! Außerdem trug ich Reitstiefel aus weichem, aber zähen Leder mit Metallspitzen, wohl damit einem das Gewicht eines daraufsteigenden Pferdes nichts ausmachte. Auch am Schienbein waren sie beschlagen – dort allerdings mit Gold.
Ich blickte mich um. Ich war an einem See aufgewacht, der inmitten einer Grasebene lag – bis auf eine Felswand, von der ein Wasserfall in den See hinabstürzte und ihn speiste. Nach fünfzig Metern je links und rechts hörte die Wand so abprupt auf, dass sie wie mit einer Axt gespalten schien die Wände waren so glatt - nein, das war einfach nue eine seltsame Naturkonstruktion. Von Menschenhand könnte so etwas nie geschaffen werden. Flussaufwärts ging es Richtung Norden und leichte Hügel führten im Westen und Osten die Felswand entlang nach oben. Und mir wurde alles klar. Das war eine Sperre! Eine Art Festung, die die Menschen hier nutzen mochten, um Gegner anzugreifen, die am Wasser lagerten - wenn hier Menschen existierten... Im Süden sah ich die Schatten von Bäumen, im Norden die Felswand, im Wesen und Osten nichts als endlose Ebene.
Als ich auf mein Pferd zuging, um aufzusitzen und wegzureiten, spürte ich ein sanftes Gewicht an meinem Gürtel hängen, und als ich stehen blieb und danach griff, zog ich ein Schwert mit einer Klingenlänge von mindestens neunzig Zentimetern aus der Scheide. Der Griff war lang genug, um es beidhändig zu führen (wenn man wollte) und in weiches Leder gebunden. Verblüfft starrte ich es an. Die Klinge war schmal und leicht und langte mir, wenn es am Gürtel hing, bis zum Schienbein. Ich bedankte mich in Gedanken dafür, dass mir mein Papa eine respektable Größe vererbt hatte. Die Scheide war so hergestellt und genäht, dass das Schwert schräg nach hinten an meine Hüfte baumelte.
Schwerter waren nichts Neues für mich. Als eingefleischter Fan von Herr der Ringe war ich so vernarrt in Schwerter, dass ich natürlich etwas fechten konnte. Einen Kurs hatte ich besucht, wo ich es lernte. Nicht sehr gut, aber doch gut genug, um kräftiger zu sein als so manche Mädchen meines Alters und in der Fechtschule (wo ich das einzige Mädchen in der Fortgeschrittenen-Gruppe war) sogar die Jungs zu beeindrucken und auch den einen oder anderen zu schlagen. Aber das war etwas anderes. Es waren Schwerter ohne richtige Spitzen oder scharfe Schneiden, einfach nur für Show und zum Spaß.
Ich wandte mich meinem Schimmel zu, der mich aufmerksam – und auch etwas auffordernd – ansah. „Wo sind wir Sarik?“, fragte ich leise und meine Augen blieben wieder an der schlanken, glänzenden Klinge des Schwerts hängen, das aus demselben leichten Metall bestand wie meine Rüstung und so unglaublich leicht in meiner Hand lag.
Was ich jetzt in der Hand hielt, war eine Waffe für den Krieg.