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Jenseits der Mauer
Ich weiß genau, dass du auf der anderen Seite hockst; weiß, worauf du wartest. Ich kenne dich.
Zwei Meter von meinen Schuhen entfernt hört die Mauer auf. Wahrscheinlich trennte sie früher die Fabrikhalle in zwei Teile.
Ich lege mein Ohr an den kalten Stein und höre das Rasseln deines Atems; höre das Blut deiner Opfer, das mit einem stetigen Plop aus deinem Maul auf den Steinboden tropft.
Ihre Leiber liegen überall in der Halle, durch deren blinde Scheiben jetzt das Mondlicht fällt. Blut glänzt im Mondlicht schwarz; oft habe ich es gehört oder irgendwo gelesen, jetzt kann ich es mit eigenen Augen sehen.
Der Polizist, der direkt vor meinen Füßen liegt, starrt mich an. Ich will diesem anklagenden Blick ausweichen. Aber ich traue mich noch nicht einmal, die Lider zu schließen. Du könntest es hören.
Seine Hände sind tief in seinem Bauch vergraben; zeugen von einem verzweifelten Versuch die herausquellenden Innereien an ihren angestammten Platz zu halten. Immer wieder hineingedrückt hat er sie, dabei beharrlich nur in meine Richtung gestarrt - blaue Augen hat der Typ -, und der Darm war zwischen seinen Fingern wieder herausgerutscht wie Fisch aus den Händen eines Anglers. Nicht einmal geschrien hat er dabei. Nicht einmal gezittert. Nur gestarrt. Wenn Augen sterben verlieren sie nichts von ihrer Intensität.
Wie viele von ihnen hatten die Halle gestürmt? Ich kann es nicht mehr sagen. Als du ihnen entgegen gingst - beinahe anmutig -, waren sie noch zuversichtlich. Schließlich waren sie bewaffnet.
Mit Sicherheit hast du sie angelächelt. Ich kenne dich; dein Lächeln.
Das linke Bein des Polizisten, der vor mir liegt, befindet sich auf deiner Seite der Mauer. Ich kann noch den Schaft des Stiefels sehen, und für einen Augenblick muss ich daran denken, wie er sie heute früh angezogen hat. Mit Sicherheit hat er geflucht, weil die Dinger so verdammt eng sind.
Der Körper des Mannes zuckt, was nichts an seinem toten Blick ändert. Warum starrt er mich unentwegt an? Ich spüre das Handy unter meinem Bein, mit dem ich sie gerufen habe. Notruf 110. Und er starrt mich an. Klagt mich an.
Für einen winzigen Moment sehe ich deine Klaue an seinem Bein. Haarige, lange Finger. Dann reißt du den gesamten Körper aus meinem Blickfeld, hinter die Mauer. Nur der obere Teil des Kopfes befindet sich noch auf meiner Seite. Nur der obere Teil. Nur diese Augen. Diese Augen, die immer gleich und vorwurfsvoll starren, während sich das Brechen seiner Knochen und dein Schmatzen vereinen und mir das letzte Bisschen Verstand rauben, das sich noch irgendwo weit hinten in meinem Schädel befindet.
Wenn du mit ihm fertig bist, wirst du herüberkommen. Ich weiß es. Ich kenne dich.