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Jener besondere Morgen. Aus dem Tagebuch einer Sonderschullehrerin
Ich mag sie alle: Die acht Kinder in meiner vierten Klasse Förderschule, sieben Jungen und ein Mädchen im Alter von zehn bis zwölf Jahren. Und doch - Es gibt Situationen, da weiß ich nicht mehr ein noch aus. Fühle mich hilflos und bin deshalb wütend. Weil ich meine Schwäche nicht rühmlich finde? Oder weil ich denke, meine 'Junglöwen' nur durch Stärke bändigen zu können?! So kommen sie mir manchmal vor. Wie Junglöwen in der Manege, und ich als Dompteur muss darauf achten, dass sie bei Laune bleiben und nicht über sich oder sogar mich herfallen. Was sie glücklicherweise nicht wirklich tun, nein, nicht mit wilden Krallen...
Aber sie kennen sich schon etwas aus mit den Lehrern. Fünf der Jungen erleben und durchleiden gerade ihr erstes Schulbesuchsjahr in meiner Klasse der Sonderschule, genauer gesagt: Förderschule. Im Kopf vieler Eltern und Verwandten ist diese allerdings noch immer als Hilfsschule verdammt und ein ständiger Anlass für innerfamiliäre Diskussionen. Diese enden meist damit, dass der ‚Schuldige’ an diesem Familienstigma, also das betroffene Kind, zu Höchstleistungen aufgefordert wird, die es bringen soll, damit es so schnell wie möglich wieder diese Schule verlassen kann.
Die Gründe für ihre Umschulung in 'meine' Schule sind unterschiedlich, und doch haben die Kinder alle eines gemeinsam: Sie mussten weg aus der früheren Klassengemeinschaft der Grundschule und fühlen sich nun abgeschoben, ausgemustert. Ihre Schulleistungen entsprachen nicht der Norm in der Regelschule. Auch nicht nach zweimaliger Wiederholung. Und ihr Verhalten war oft genug ebenfalls auffällig, aggressiv, sozusagen die Folge ihres Schulversagens. Was durchaus zu verstehen ist.
Und so sah kürzlich jener besondere Morgen aus, der sich zunächst nicht sehr von den ersten Stunden an anderen Tagen unterschied: "Good morning, alltogether!" rief ich munter und mit prüfendem Blick in die Runde. "Aha", dachte ich, "Toni hat noch seine Mütze auf und Handschuhe an, hm, Markus die Beine auf dem Tisch. Oh! Und was macht denn Abdullah unter dem Tisch??" Meine anfängliche Begeisterung für den neuen Schulmorgen schwand.
"Good Morning, Mrs. Kellermann!" tönte es mir lautstark entgegen. Wunderbar, da wären wir also mittendrin! Wo ? In der Manege?! Merkwürdig, wie leicht mir das heute von den Lippen geht; jetzt kann ich darüber schmunzeln. Darüber, was dann geschah. Etwas, das meine anfängliche Vorstellung von nicht zu bändigenden wilden Rabauken veränderte.
Natürlich folgte nach unserem täglichen Begrüßungs-Ritual in Englisch kein richtiger Fremdsprachen-Unterricht, denn dazu fehlt unserer Schule das Geld. "Das baut Sie halt irgendwie in die Stunden ein!", so lautet die Anordnung des Schulleiters, der aus der Finanzmisere das Beste zu machen versucht.
Nein, es kam leider, wie schon so oft, zu dem bekannten und bei mir überhaupt nicht beliebten verbalen Schlagabtausch zwischen Özet und Haudi. Die Beiden saßen zwar weit genug auseinander, doch gab es fast jeden Tag Streit zwischen ihnen. Schon kleinere Anlässe wie z.B. fehlende Stifte oder abfällige Bemerkungen über den anderen reichten aus, um sich mit türkischen oder irakischen Worten zu beschimpfen.
Aber das Schlimmste, was dem jeweiligen Gegner an den Kopf geworfen werden konnte, das war: „F... doch deine Mutter!“, in deutscher Sprache. Dieser kurze Satz, ob geflüstert oder beim Vorbeigehen leise vor sich hin gemurmelt, er zeigt immer Wirkung. Sowohl in der Großen Pause im Schulhof oder im Klassenzimmer: Eine Prügelei war angesagt. Und schnell bezogen die jeweiligen Anhänger um ‚ihren’ Helden Stellung und feuerten diesen an – falls nicht der Klassenlehrer oder die Klassenlehrerin blitzschnell eingriffen und die Gemüter beruhigen konnten. So auch an diesem Morgen.
"Schluss jetzt!" Meine Stimmbänder zeigten ihre Überforderung. Die Stimme kippte, während meine Füße auf dem Boden festen Halt suchten. Die rechte Hand hielt den brüllenden Özet am Kragen, die linke den um sich schlagenden Haudi. "Wenn ihr jetzt nicht Ruhe gebt, dann rufe ich bei euch zuhause an, und ihr könnt das mit euren Eltern klären!" Mein Puls raste, und ich war sprachlos vor Zorn.
Keiner der Jungen gab nach. Angefeuert von ihren Freunden schoben sie den vorangegangenen Beleidigungen noch weitere muttersprachliche Schimpfwörter nach, die offenbar sogar von den albanischen und italienischen Mitschülern verstanden wurden, wie ich an Mimik und Lautstärke der jeweiligen Gruppe ablesen konnte.
Was tun?
Gedankenfetzen rasten durch meinen Kopf:
"Kevin allein zu Haus!"
"Lehrerin allein in prügelnder Klasse!"
Sollte es das gewesen sein?
Ich will einfach nicht, dass sie sich so prügeln! Und ich will auch nicht, dass sie sich unflätig beschimpfen. Was kann ich denn nur tun? Die Schulleitung rufen? Die im anderen Gebäude sitzt, mit vielen Treppen und Schulhof von mir getrennt.?!
Und da passierte es. Mehr im Affekt als lange geplant: Ich zog mein Handy aus der Schultasche, fischte die Telefonnummer des 'Hauptschreiers' aus der Adressenliste und rief an. Ich konnte mein Herz klopfen hören, so still war es nur morgens um sieben Uhr, bevor der Unterricht begann. Özets Mutter war am Apparat. Ja, sie käme am Mittag in meine Sprechstunde.
Ich weiß nicht mehr, wie ich den Rest des Vormittags verbracht hatte. Ich fühlte mich elend. Was für ein Sch...Triumpf! Ein zerknirschter Schüler, eine lammfromme Klasse, aber unter solchen Bedingungen zu unterrichten - das war nicht mein Traum gewesen, als ich mich vor vielen Jahren zur Sonderschullehrerin ausbilden ließ.
Was dann geschah, beschäftigt mich noch immer. Sogar jetzt in den Schulferien muss ich darüber nachdenken. Wie es zu verstehen ist, dass inzwischen ein unsichtbares Band mich mit diesem kratzbürstigen kleinen Kerl verbindet.
Seine Mutter war in das Klassenzimmer gekommen. Eine freundliche, eher schüchtern wirkende türkische Frau, verhärmt aussehend, leise Stimme. Es würde ihr so Leid tun, und der Özet wäre zuhause auch oft so verstockt. Und wenn er dann so wütend wäre, würde sie ihn halt lassen. Er könne einfach keine Ungerechtigkeit ertragen. Da verliere er die Kontrolle über sich. Am nächsten Tag wäre er wieder der alte. Und sie mache sich solche Sorgen um ihn. Jetzt wo sie doch für 3 Wochen ins Krankenhaus müsse. Weil der Mann, Özets Vater, sich nicht richtig um die Kinder kümmere. Und ob sie mich bitten dürfte, ihrem Jungen jede Woche in ihrem Namen sein Taschengeld zu geben. "Er muss sich was zu essen kaufen", sagte sie verschämt, "Ein Euro pro Tag ...Ich kann ihm nicht mehr geben", sprach sie mit leiser werdender Stimme und zeigte mir mehrere Arztrezepte, die sie nicht eingelöst hatte. "Ich musste doch das Geld sparen für's Taschengeld von meinem Jungen.“
Als ich am nächsten Morgen meine Klasse begrüßte, blieb mein Blick auf dem Gesicht des Özet hängen. Er lächelte mich vorsichtig an. Es schien, als ob ein unsichtbares Band sich von ihm zu mir spannte, auf dem sich eine geheime und nur mit dem Herzen zu lesende Schrift zeigte: 'Sei bitte wieder freundlich zu mir; schreie nicht; hilf mir, wenn jemand meine Mutter beleidigt, du hast sie doch gesehen.'
Der Morgen lief gut, die Schüler und ich hatten zu tun - und immer wieder blieb mein Blick am Kopf des Jungen hängen, der sich fleißig über sein Heft beugte und rechnete, seine Lieblingsbeschäftigung, bei der er immer als erster fertig war. Dann und wann hob er den Kopf und schaute kurz zu mir her, mit einer undefinierbaren Mischung aus Trotz und Zufriedenheit, so als ob er begriffen hätte, dass er in mir keinen Feind mehr sehen musste, sondern die Vertraute seiner Mutter, die er liebte.
Und ich fühle mich noch immer reich beschenkt durch dieses Vertrauen. Es gibt mir Hoffnung, auch für die anderen Kinder die richtigen Worte zu finden, wenn es Zeit dafür ist.