Mitglied
- Beitritt
- 01.05.2003
- Beiträge
- 64
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
Jemand ist besser als niemand
Jemand ist besser als niemand
Niemand schlich sich nachts um sein Haus und niemand sah von draußen zum Fenster herein. Niemand saß neben ihm, niemand aß mit ihm am Tisch – niemand.
Doch irgendjemand war immer bei ihm, morgens, mittags und abends. Irgendjemand lag neben ihm, wenn er morgens aufwachte. Jemand ging mit ihm zur Arbeit. Jemand saß mit ihm am Tisch und arbeitete mit, an den Akten, für die er in seinem Bürozimmer zuständig war. Jemand folgte ihm, wohin er auch ging. Irgendjemand.
Er spürte irgendjemand, irgendwie, immer. Egal ob er morgens aufwachte oder abends zu Bett ging, wenn er auf dem Weg zur Arbeit war oder still am Tisch saß, wenn er sich im Spiegel sah oder wenn er andere Menschen beobachtete.
Irgendwo war irgendetwas oder irgendjemand da.
Aber warum? Niemanden sah er, niemanden.
Niemand konnte ihm helfen, kein Freund, kein Arzt, niemand.
Aber wer war niemand? Wenn niemand da war, musste doch irgendwann jemand vorher bei ihm gewesen sein. Woher hätte er sonst dieses Gefühl gekannt, dass jemand da war.Irgendwie, irgendjemand, irgendwann.
Wie oft hatte er sich gefragt: Wer war er? Wer? Seit den letzten Wochen hatte er es sich immer gefragt! Seit er aufgetaucht war! Niemand! Jemand! Irgendjemand!
Und wieder war jemand da. Hinter ihm folgte man ihm auf Schritt und Tritt. Direkt hinter ihm. Eigentlich wollte er noch nicht Heim gehen, sich nicht auf das Sofa setzen und mit jemand die Tagesschau ansehen. Aber heute war der Tag anders. Heute war jemand so dicht hinter ihm, dass er schneller ging als sonst. Als triebe ihn etwas voran. Weg!
Fünf Freunde kannten keine Antwort auf niemand. Fünf Ärzte wussten keinen Rat auf jemand. Sie sagten, „er“ wäre das Problem. Nicht jemand und nicht niemand. Aber keiner verstand, dass wirklich jemand da war. Jemand, der niemand war. Sie sagten, niemand könnte ständig bei ihm sein, das würde nicht gehen, aber jemand schaffte das. Jemand war besser als niemand.
Er überquerte die Strasse, dicht gefolgt von jemand und dann fiel es ihm ein, als er das Geräusch hörte und vom Boden aufsah. Er spürte es, jemand war ihm so nahe, wie niemand es vorher hätte sein können. Jetzt! Jetzt war er da. Vor seinen Augen. „NIEMAND“ hatte ihn gewarnt, niemand! Niemand war immer da und wollte ihm sagen, dass er besser nicht gehen sollte. Es wäre besser gewesen, nicht aus dem Büro zugehen, nicht die Strasse zu überqueren.
Nun wusste er, wer niemand war. Niemand war sein verstorbener Vater Paul Lutz. Paul hatte ihn vor dem heutigen Tag warnen wollen.
Doch als er über die Strasse ging, sich fragte, wer er war, der niemand, der ihn verfolgte, kam das Auto schon um die Ecke gefahren.
Am Steuer saß ein nichtsahnender Teenager, der an dem Radiosender herumspielte und die Strasse unachtsam aus den Augen lies. Es war ein kühler Herbstabend, um 19:47 Uhr, als Hermann Lutz von einem angetrunkenen Teenager überrollt wurde. Niemand wollte ihn warnen. Aber es war zu spät. Paul hatte ihn wochenlang angeschrieen, ihn angefleht, an diesem Tag zu Hause zu bleiben, aber Tote kann man nicht hören.