Jeder Tag könnte dein letzter sein
Ich falle. Immer tiefer, immer weiter. Endlos durch Raum und Zeit. Unter mir ist nichts, nur Schwärze. Dunkelheit ist so schön. Sie schützt und verbirgt. Verbirgt, was und wer man ist. Ich lasse locker und schmiege mich in die unendlich tiefe und weiche Schwärze. So wollte ich immer sterben. Tief unten auf dem Grund, umgeben von von einem dunklen Nichts. Still und einsam. Nur ein kleiner Lichtstrahl, der zu mir hervordringt, mich daran erinnert das es noch ein anderes Leben gibt, außerhalb des Wassers. Merken, wie die Luft knapper wird, die Sicht verschwimmt, alles egal wird. Ich stoße mich mit den Füßen ab. Nach oben, schnell! Ich halte es nicht mehr aus, meine Lungen wollen Luft. Mich packt eine lähmende Angst, doch schon durchstoße ich die Wasseroberfläche. Tief einatmen, ganz ruhig. Alles ist in Ordnung, niemand weiß von meinem Geheimnis. Der Mond scheint hell und rund, hoch über mir. Das Wasser plätschert leise und beruhigend. Eine leichte Brise weht die Gerüche des Waldes herüber. Nasses Moos, Erde, ein Hauch Waldmeister. Ich lege mich auf den Rücken und lasse mich treiben. Es ist vollkommen still. Ich liebe die Dunkelheit. Sie verbirgt die Identität, dort ist jeder gleich. Dort gilt nicht das, was war oder was sein wird. Es zählt nur der Moment. Doch nun bin ich wieder. Ich bin, weil ich sein sollte. Mit Vergangenheit und Zukunft, mit Fehlern und Stärken. Mit all der Last, all der Wut und Trauer. Und mit all dem Hass. Ich bin ich, weil andere mich so gewollt haben. Sie haben mich erschaffen. Mich zu dem gemacht, was ich jetzt bin. Eine Mörderin. Das wollten sie bestimmt nicht, daran haben sie nicht gedacht. Doch sie hatte sterben müssen, es gab keinen anderen Ausweg. Das, was sie getan hatte, konnte keine Entschuldigung, keine gute Geste und keine Reue mehr ungeschehen machen. Aber nun ist sie weg, für immer. Niemals würde sie wiederkehren. Sie durfte den Tod sterben, den ich mir immer erhofft hatte. Friedlich und still am Grund. Still in alle Ewigkeit. Es sollte ihr eine Ehre sein, dass sie so hatte sterben dürfen. Für mich ist nun etwas anderes bestimmt. Am Ufer steht eine einsame Person. Weiß und beinahe durchscheinend sieht sie aus. Nackt und frierend steige ich aus dem Wasser. Der Geist blickt mich ruhig an und legt mir eine Hand auf die Schulter, ganz sacht. Erinnerungen steigen in mir hoch. An sie und ihre Taten. Doch ich spüre keinen Zorn, keine Scham. Ich bin ruhig und beinahe friedlich. „Du bist bereit. Geh nun, du bist bereit.“ , hallt es in meinem Kopf. Langsam trete ich an den Rand des Abgrundes und blicke über das Tal. Mein Heimat. Von hier oben sieht alles so furchtbar klein aus. Ich schließe die Augen und versuche, mir meine Eltern ins Gedächtnis zu rufen. Es gelingt mir nicht. Das Bild ist trüb und verschwommen. Wer sie sind sie? Auch die Erinnerung an mein zu Hause wird blasser, löst sich in Luft auf. Es wird auf einmal leicht, so leicht zu vergessen. All die Erinnerungen schwinden, alles wird undeutlich. Unter mir ist nichts als Luft, viel Luft. Warum war ich am See? Ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Ich glaube, um ihm lebe wohl zu sagen. Mein See. Die vielen Stunden mit ihm, auch sie verschwinden. Jetzt gibt es nur noch mich und den Geist der hinter mir steht. Die Welt löst sich auf, ich löse mich auf. Schön, endlich einmal niemand sein. „Geh, geh! Schnell, du bist bereit!“ dringt erneut die Stimme an mein Ohr. Alles ist so unwirklich, so frei. So muss es sich anfühlen wenn man Drogen genommen hat. Meine nackten Zehen berühren den Rand des Abgrundes. Nur einen Schritt muss ich machen, dann ist alles vorbei. Ich wäre frei, wie ein Vogel. Einfach auf und davon, mit meinem Geheimnis ins Grab. Ich löse mich auf, bin nicht mehr ich.
Leichtfüßig mache ich den ersten Schritt und lächle.