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Jeder, ein Woyzeck
Wie nennen wir ihn?
Die Welt bezwingt jeden, der sein Schicksal nicht ertragen kann.
Er legte den Stift beiseite. Ende. Vollbracht. Las sich das Geschriebene durch, aufmerksam, prägte sich jedes Wort ein, wie ein Gedicht. Im Halbdunkeln strich er das Papier glatt, hielt es gegen das spärliche Licht und zerriss es, kleine Fetzen, die zu Boden fielen, wirbelten durch den Raum, willenlos im Strom der zuknallenden Tür.
Was nützte schon ein Brief ohne Adressat. Nichts. Überhaupt ein Brief. Als ob ein Brief es erklären könnte, als ob irgendetwas es jemals erklären könnte. Niemand würde verstehen, warum er getan hatte, was er tun musste, zu lange, zu viel nachgedacht, endlich es vollbracht. Erschöpft ließ er sich zurück, befreit.
Einen ganzen Tag verbrachten die Emsigen damit, alles wieder fein säuberlich zusammen zu kleben, wie ein Puzzle wurden die Fetzen zum Ganzen zusammengesetzt. Keiner wusste warum. Routine. Es musste sein. Der Fall war klar, eindeutig wer, eindeutig wie.
Wozu sich die Mühe geben, sich beunruhigen, was ein Irrer schon dachte. Unwichtig. Finden, das war wichtig, aber ein Aufenthaltsort stand wohl nicht drin. Ein Brief, man wollte eben doch noch immer persönlich Abschied nehmen. Die wenigstens griffen zur Email oder SMS. Wohl nicht dramatisch genug, der Kontakt zur glorreichen Historie der Soziopathen nicht gewährleistet. Kopfschütteln.
Dieser Anruf, tot, alle tot, ich gehe, die Tür ist zu, sie sollten es wissen. Eine ganz ruhige Stimme, keine Panik, eine Stimme, die einen freundlichen Hinweis gibt, hilfsbereit. Das machte Angst. Die Familie tot und der Mann in Aufbruchsstimmung. Als ob die Koffer gepackt waren und jemand nur nochmal ins Haus entschwand, das Licht auszumachen. Ganz kurz, nebenbei. Schnell etwas erledigen. Es gab keinen Kampf. Das Kind entschlafen. Die Mutter überrascht beim Fernsehen. Die letzte Sendung vielleicht „Mitten im Leben“, kurzweilige Unterhaltung. Immer wieder musste der Kopf auf den Tisch geschlagen worden sein, immer wieder, ohne nachzudenken. Stumpfe Gewalteinwirkung. Das war ein schöner Mord. Nicht das Kind. Aber die Frau. Ein echter Mord. Wie ein Wahnsinniger. Schlag zu! Schlag zu! Der gemeinsam gekaufte Tisch, massiv, vielleicht Eiche, immerhin kein Glas. Es gab kein Zögern, niemand konnte sich wehren, weder dem Gewissen noch der Übermacht, Exekution. Hatte sie das erwartet? Zeugen sprachen von einer normalen Familie. Was war schon normal? Beide arbeiteten viel, großes Haus, relativ, vor ein paar Jahren erst gebaut, den Traum vom Eigenheim erfüllt. Schön. Tochter noch klein, relativ, Kindergarten, keine Ahnung wie alt, auch nicht wichtig, zu jung. Die Frau war hübsch, ist, wenn man sich den Rest vorstellt.
Wer war sie?
Sie arbeitete in einer Kanzlei, Wirtschaftsrecht. Sie machte Karriere, sie war wohl sehr ehrgeizig, man trauert schon, um sie.
Auffälligkeiten?
Nein.
Vielleicht eine Affäre?
Warum dann das Kind?
Was soll ein Kind ohne Eltern?
Sagen Sie so etwas nicht.
Nagut, Affären?
Nein, ich weiß es nicht, niemand weiß es. Sie war oft bis in den späten Abend in der Kanzlei, sie arbeitete viel, schließlich wollte sie Karriere…
Jaja, nun, hätte sie mal lieber öfter einen Blick auf den Mann geworfen.
Wie?
Ein Psychopath, das hätte man sehen müssen.
Zyniker.
Warten Sie ab, je mehr Sie sehen, je mehr werden Sie, was ich bin.
Nein.
Egal, wo ist der Brief?
Ich suche.
Wo ist er?
Ich suche.
Kaum zu glauben. Das zieht sich.
Es hilft doch nichts!
Nein, nichts hilft etwas.
Gefunden.
Her damit!
Ruhig.
Stimmt, wir haben Zeit, keiner bringt die Toten zurück.
Das nervt.
Dann gehen sie.
Der Brief also, Mosaik des Wahns. Nun dann, frisch ans Werk, was wollte er unbedingt loswerden? Wer war diesmal Schuld? Immer war einer Schuld, nur man selbst nicht, Opfer der Umstände. Man hatte ja keine Wahl. Falsch! Immer hat man die. Die Welt nimmt keine Geisel! Ah, es beginnt.Typisch. Finanzproblem. Sie konnten das Haus nicht abbezahlen. Die Angst vor dem Ruin, der gesellschaftlichen Degradierung. Lieber die Ausradierung, als Degradierung. Kopfschütteln. Nächster Halt, Depressionen.
Also wirklich, was hilft ein Brief, in dem er sich anvertraut. Zum Arzt muss man mit Depressionen, nicht zum Bleistift. Nicht zu fassen, dieses Geschreibsel. Es war schon spannend, was der sich wohl als nächstes ausdenkt?
Er schreibt von Liebe, der enttäuschten. Jawohl, enttäuscht, die Frau hatte wohl doch eine Affäre, vermutete er. Wie wichtig doch die Unschuldsvermutung ist. Eifersucht, klassisches Motiv, langweilig, Gott sei Dank, gibt es hier mehr.
Interessant, er fühlte sich unverstanden, von allen, vor allem den Freunden. Eine Kunst, Facebook hat 1,35 Milliarden Mitglieder. Wer da unverstanden bleibt, will seine eigene Sprache sprechen. Gut, 213 Freunde nur, unterdurchschnittlich. Was tat er sonst so? Die Briefe haben doch was Gutes, man spart sich die Erstellung eines Profils, es fehlt nur noch das Passbild, dann könnten sie eins zu eins als Steckbrief herausgeben werden. Schublade auf, Akte zu. Als ob die Polizei nicht all das schon wüsste.
Nochmal, 43 Jahre, Midlife crisis gefährdet, vielleicht schon 2 Burnouts überstanden, man munkelt. Kein Job, das erklärt die Verzweiflung. Von der Frau übertrumpft, die Schmach des Patriarchen. Davor, Anwalt. Autsch, im eigenen Gebiet geschlagen. Er fühlte sich eingeengt. Angst. Kindheitserinnerungen? Zweitwunsch wohl Psychologe. Oder Künstler, was er für ein schönes Bild malte. Entworfen mit schwungvollen Linien, verschwommener Vordergrund, klarer Hintergrund. Ganz in Grau, mit einem, nein zwei roten Flecken. Ein Familienbild. Mann, Frau und Kind. Sie kennen sich aus einem gemeinsamen Praktikum, der eine leiht dem anderen das Grundgesetz. Nahezu poetisch. Man verbringt gemeinsam die Flitterwochen, Ibiza, ein Traum in Weiß. Weiße Strände, weiße Häuser… viel hübscher als Mallorca. Sie kommen zurück, beide finden schnell einen Job, gut ausgebildet und welch Glück, bald muss Einer zuhause bleiben, schwanger.
Er ist nun Alleinversorger, und es gefällt ihm, wichtig zu sein. Als die Tochter zur Welt kommt, ist das Leben perfekt. Die Quadratur des Kreises stand bevor, 2 Karrieren, ein Kind, keine Familie. Man zog gemeinsam, nur in falsche Richtungen. Er verliert.
Auch seinen Job, zu viel gewollt, zu wenig gekonnt, übernommen. Nun, zuhause geblieben, Alleinversorgter. So viele einsame Stunden. Mutlosigkeit. Verzweiflung. Schlaflose Nächte. Wie konnte man nur neben dem zerschlagenen, toten Körper der Frau versuchen Mitleid zu erhaschen? Es machte alles wenig Sinn. Er muss wieder arbeiten, aber wer will einen Betrüger? Niemand. Gut, dass die Frau noch glaubt, er habe einen Job. Natürlich gelogen, jetzt hat er vier. Peinlich bei McDonalds gesehen zu werden. Den Freund beschwören, es für sich zu behalten. Nein, viele Freundschaften konnte er wirklich nicht mehr gehabt haben.
Wenn das Leben zur Lüge wird… man sollte ihn Potemkin nennen. Potemkin also. Potemkin arbeitet und arbeitet, schuftet bis spät abends, aber niemals kann er das verdienen, was er verdient und verdient hatte. Das Gespräch mit der Frau, die Scham, das eigene Versagen und nur ihre Enttäuschung, enttäuscht ihn nicht. Nun bleibt er zu Hause Potemkin. Nichtsnutz. Sie macht sich wirklich lustig über ihn, obwohl er alles gegeben hat. Manchmal gewinnt man, manchmal verliert man. Für die Familie hat er doch alles riskiert. Der Arme. Und nun lachen sie, doch nicht lange, bald ignorieren sie ihn.
Nennen wir ihn Sisyphos, denn wie ein Held schleppt er den Stein der Nichtigkeit mit sich herum, wankt, doch noch stolpert er nicht.Wer hilft ihm? Die Frau arbeitet. Nicht da. Nicht bei ihm? Bei wem dann??!! Sisyphos wundert sich, ruft bei Freunden an, ach nein, keiner hat Zeit für ihn. Die Tochter, das Kind?! Er konnte nicht einmal mehr Vater sein. Sie schrie ihn an. Leise schrie er zurück, Hilfe. Wem soll ich noch alles helfen? Wem sollte sie noch alles helfen?
Keiner hat Sisyphos geholfen, der Stein war seine Aufgabe. Akzeptiere dein Schicksal, mach das Beste draus! Erkenne die Absurdität! Der Mensch fragt, die Welt schweigt. Revolte! Revolutioniere! Oh nein, dieser hier, der ließ sich erdrücken, man sah es kommen! Er zitterte. Er stolperte. Stop! Er würde den Stein fallen lassen, ganz oben auf der Spitze der Berges! Und der Stein würde rollen, immer schneller, schneller, im wahnsinnigen Tempo, Stöcker würden brechen, Sand knirschen, Knochen zermalmen! Nein! Er zerriss das Papier! Schluss! Unaufhaltsam alles zerstören! Zerriss es in kleine Fetzen. Nichts würde bleiben, nur Leere. Ruhe. Langsam schweben die Fetzen durch die Luft, setzen sich auf das zerbrochene Haupt. Frieden. Die Tür schlägt zu. Der Stein ist verschwunden. Endlich befreit.
Wie nennen wir uns?