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Jeden Tag, als wär's der letzte
Leb jeden Tag, als wär’s der letzte
Ich werde sterben, und ich fürchte mich davor. Ich fürchte mich davor mehr, als vor dem Leben, das ich führ, aber das ist wohl nicht mehr wichtig. Das Leben, das ich führ geht zu Ende, ist wahrscheinlich schon lange zu Ende gegangen. Es ist immer ein bisschen gestorben und schließlich an meiner Seite nach Hilfe schreiend verendet, ohne dass ich es bemerkte. Und nun werde ich mich zu ihm gesellen und obwohl ich mich davor fürchte, hab ich doch keine andere Wahl. Ich muss es einfach tun. Zu viel ist geschehen und geschieht immer noch.
Ich kann nichts mehr hören, denn ein ständiges Klirren schwirrt in meinen Ohren und macht mich taub. Das Klirren von Scherben einer Ehe, die noch nicht einmal eine war, treibt mich zum Wahnsinn. Es ist nicht schlimm, dass ich nichts mehr hören kann, denn es hätte niemand mit mir zu sprechen vorgehabt, und falls doch, so hätte ich nicht zugehört. Jedoch ist das Klirren so laut, dass ich mich selbst nicht mehr verstehe und so naht der Wahn, ohne dass seine Schritte mich warnen können.
Ich kann auch nichts mehr sehen, denn der unendliche Gott stieg vom Himmel herab und blendete mich mit heißem Gold. Oder kam er gar nicht zu mir? War es nicht eher so, dass ich wie eine Schlange zu ihm empor kroch, mich an seine Seite setzte und mit ihm alles Unerreichbare regieren wollte? Aber er ließ es nicht zu, schlug mich und missbrauchte mich und spuckte mich schließlich wieder auf den Boden der Erde zurück.
Und so sitze ich nun hier, taub und blind und ohne einer Chance meinem Schicksal zu entfliehen. ,Leb´ jeden Tag, als wäre es dein letzter’ heißt es doch. Aber wie viel verliert es an Bedeutung, wenn man den Tag mit der Gewissheit lebt, dass der Abend den Freitod bringt?
Ich werde sterben, und ich fürchte mich davor. Wer sagt, er fürchte sich vor dem Tod, der lügt. Der Tod ist ein Geheimnis, ein leises, dunkles Versprechen der Existenz. Ich freue mich auf den Tod, denn er ist das Ende vom Sterben, vor dem ich mich so fürchte.
Heute werde ich sterben, wie oft, das weiß nur der Morgen. Und der naht bereits.“
Er legte die Feder beiseite und schloss das Heft mit dem schwarzen Umschlag. Mit einem tiefen Seufzen schaute er aus dem Fenster und sah in das Blutrot des Morgens.
Dann stand er auf und legte das Heft zurück in die Kiste unter seinem Bett zu den anderen Heften mit schwarzen Umschlag.
Als alles wieder an seinem Platz war, küsste er das schlafende Mädchen auf die Wange und ging zur Arbeit.