Was ist neu

Jeden Tag, als wär's der letzte

Mitglied
Beitritt
24.09.2000
Beiträge
521
Zuletzt bearbeitet:

Jeden Tag, als wär's der letzte

Leb jeden Tag, als wär’s der letzte

Ich werde sterben, und ich fürchte mich davor. Ich fürchte mich davor mehr, als vor dem Leben, das ich führ, aber das ist wohl nicht mehr wichtig. Das Leben, das ich führ geht zu Ende, ist wahrscheinlich schon lange zu Ende gegangen. Es ist immer ein bisschen gestorben und schließlich an meiner Seite nach Hilfe schreiend verendet, ohne dass ich es bemerkte. Und nun werde ich mich zu ihm gesellen und obwohl ich mich davor fürchte, hab ich doch keine andere Wahl. Ich muss es einfach tun. Zu viel ist geschehen und geschieht immer noch.

Ich kann nichts mehr hören, denn ein ständiges Klirren schwirrt in meinen Ohren und macht mich taub. Das Klirren von Scherben einer Ehe, die noch nicht einmal eine war, treibt mich zum Wahnsinn. Es ist nicht schlimm, dass ich nichts mehr hören kann, denn es hätte niemand mit mir zu sprechen vorgehabt, und falls doch, so hätte ich nicht zugehört. Jedoch ist das Klirren so laut, dass ich mich selbst nicht mehr verstehe und so naht der Wahn, ohne dass seine Schritte mich warnen können.

Ich kann auch nichts mehr sehen, denn der unendliche Gott stieg vom Himmel herab und blendete mich mit heißem Gold. Oder kam er gar nicht zu mir? War es nicht eher so, dass ich wie eine Schlange zu ihm empor kroch, mich an seine Seite setzte und mit ihm alles Unerreichbare regieren wollte? Aber er ließ es nicht zu, schlug mich und missbrauchte mich und spuckte mich schließlich wieder auf den Boden der Erde zurück.

Und so sitze ich nun hier, taub und blind und ohne einer Chance meinem Schicksal zu entfliehen. ,Leb´ jeden Tag, als wäre es dein letzter’ heißt es doch. Aber wie viel verliert es an Bedeutung, wenn man den Tag mit der Gewissheit lebt, dass der Abend den Freitod bringt?

Ich werde sterben, und ich fürchte mich davor. Wer sagt, er fürchte sich vor dem Tod, der lügt. Der Tod ist ein Geheimnis, ein leises, dunkles Versprechen der Existenz. Ich freue mich auf den Tod, denn er ist das Ende vom Sterben, vor dem ich mich so fürchte.
Heute werde ich sterben, wie oft, das weiß nur der Morgen. Und der naht bereits.“

Er legte die Feder beiseite und schloss das Heft mit dem schwarzen Umschlag. Mit einem tiefen Seufzen schaute er aus dem Fenster und sah in das Blutrot des Morgens.
Dann stand er auf und legte das Heft zurück in die Kiste unter seinem Bett zu den anderen Heften mit schwarzen Umschlag.
Als alles wieder an seinem Platz war, küsste er das schlafende Mädchen auf die Wange und ging zur Arbeit.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Peter Hrubi,

ich finde Deine Geschichte schafft Atmosphäre und lässt Raum zum Denken. Sehr schön !

Aber ich hätte Leitung gebraucht, den Begriff des Todes und des Sterbens richtig zu verstehen.

"Ich werde sterben, und ich fürchte mich davor. Ich fürchte mich davor mehr, als vor dem Leben"

Ok, das kann ich verstehen. Sterben als Erlösung?

"Ich werde sterben, und ich fürchte mich davor. Wer sagt, er fürchte sich vor dem Tod, der lügt."

Differenziert der Erzähler zwischen dem Tod ansich und dem Sterben, dass ja keines (zumindest keines was die grundlegenden Überlebensfunktionen des Körpers außer Kraft setzt)ist? Weil er die Angst vorm Sterben zulässt, die Angst vor dem Tod abwiegelt.
Oder will er sagen, dass die Angst, die auch er zu empfinden scheint ungerechtfertigt ist, weil das Leben schlimmer ist?

Die nachdenklichen Partien habe ich wohl nicht ganz verstanden...Ist jetzt auch zu kompliziert, weiß nicht so recht aus zu drücken, was ich meine.

Versuch mal zu antworten, viele Grüße!!!

 

Tja Peter, erst kam es mir vor wie ein einziger Schrei nach Leben, eben aus Verzweiflung, aber dann wurde eine gute Nacht-Geschichte draus. Jetzt weiss ich leider nicht mehr was ich davon halten soll. Vielleicht sollte ich es noch einmal lesen, ob es was ändert?

Archetyp

 

@Meike

Der Protagonist sieht den Tod als Erlösung, wahrscheinlich, und er dirfferenziert ihn vom Sterben. Das Sterben an sich ist ein Vorgang, der Tod bzw. tot zu sein ein Zustand. Daher wiegt er ab. Der Protagonist hat Angst vor dem Leben, ist vielleicht davor geflüchtet uns stirbt jetzt. Jeden Tag stirbt er tausend Tode.


@Archetyp
Ich weiß ja nicht welche Gute-Nacht-Geschichten du kennst, aber meine Mama hat mir immer welche mit Feen und Zwergen erzählt und keine vom Tod :D

 

Hallo Peter Hrubi,

die Differenzierung zwischen „sterben“ und „Tod“ ist eine gelungene Idee. Auch die beiden Absätze mit den klirrenden Scherben einer Ehe und dem Protagonisten, der mit Gott regieren wollte (ein Machtmensch?) sind prima geschrieben. Sie stehen im Gegensatz zu dem Schluß, der Protagonist hat wohl zwei sehr unterschiedliche charakterliche Ausprägungen.
Mißverständlich empfand ich „er ... missbrauchte mich ... „ Zu was? Der P. hat doch eher versucht Gott zu mißbrauchen, indem er versuchte, sich an dessen Macht anzuhängen.

Tschüß... Woltochinon

 

Hallo Peter,

deine Geschichte hat mich traurig gemacht. Also, ist es eine gute Geschichte! Schön, wie du das Leid mit den Sinnesorganen verbindest.

Der Protagonist stirbt jeden Tag. Er hat Angst vor dem Sterben, aber nicht vor dem Tod. Warum macht er dem Sterben kein Ende durch einen physischen Tod?

Im Text schreibst du, der Abend bringt den Freitod? Will er seinem Leben doch ein nEnde machen?

Das alles macht mich nachdenklich.

LG

PP

 

Lieber Woltochinon!

Danke für´s Lesen und Kommentieren. Freut mich, dass dir die Idee gefallen hat.
Der Gott hat etwas mit Macht zu tun, aber nicht nur. Ich gab den Hinweis, dass der Protagonist mit Gold geblendet wurde, dachte das reicht. Ursprünglich hieß der Gott Mammon, aber ich dachte, das wäre zu viel des Hinweises. Vielleicht wird es jetzt klarer.

@PeterPan
Wenn die Geschichte dir Emotionen abverlangt hat, dann ist es gut. Ich denke, das ist Ziel jeder Geschichte.
Warum er sich nicht selbst umbringt, ist glaube ich eine berechtigte Frage. Hat er doch so viel Angst vor dem Leben. Aber ich denke, es gibt viele berechtigte Fragen in unserer Gesellschaft. Man glaubt nicht an Gott und schimpft auf die Kirche, andererseits heiratet man dann kirchlich und lässt die Kinder taufen. Man schimpft Politiker, hat aber selber weniger Ahnung als eine Tasse Kakao.
Ich denke, es gibt Dinge die man tut, weil MAN sie tut, ohne irgendeine logische Verknüpfung zu haben. so ist es mit dem Protagonisten auch. Er hat Angst vom Leben und stirbt seine tausend Tode. Wie vielen Menschen geht es so? Ich denke vielen, zumindest vielen die ich kenne. Man redet und denkt an Selbstmord, aber... aber nur wenige tun es, und das sind meistens die, die es durch eine plötzliche Eingebung tun.

Schöne Grüße aus Wien, euch beiden, euer
P.H.

 

Hallo Peter,

eigentlich eine Geschichte, die in das Forum Philosophie gehört, womit ich nicht sagen möchte, dass du sie dorthin verschieben lassen sollst, sondern nur ein Lob über die Tiefgründigkeit dieser Geschichte zum Ausdruck bringen wollte. :)
Sieht so aus, als habe dein Protagonist nicht den Mut zum Leben, aber auch nicht, zum Sterben. Nur der Tod ist für ihn etwas Tröstliches.
Das hast du irgendwie beeindruckend mit leisen Worten herausgearbeitet.

Mir hat dieser Satz, den ich als Kernsatz empfinde am meisten imponiert:

"Ich freue mich auf den Tod, denn er ist das Ende vom Sterben, vor dem ich mich so fürchte."

Was für eine Erkenntnis.

Lieben Gruß
elvira

 

Hallo Peter.
Ja, es steckt eine weise Erkenntnis in diesen zeilen, die ich gerade las.
Stutzig machte mich diese Aussage, "Wer sagt, er fürchte sich vor dem Tod, der lügt" machte mich erste stutzig, denn ich mutmasste dass Du ein "Nicht" vergessen habest, erst die Sinnerklärung im Thread später, machte es besser verständlich...bin vielleicht zu verwöhnt, alles mundgerecht vorgekaut zu bekommen.
Mir gefiel auch der lakonische, aber trotzdem tröstliche Schlusssatz.

Lord

 

Lieber Peter!

Bei einem Blick in Deine Geschichtenliste hat mich dieser Titel am meisten angesprochen – von denen, die ich noch nicht gelesen habe. ;)
Sie ist zwar sehr kurz, aber läßt einen doch (wieder mal) über das tägliche Sterben des Inneren, des eigenen Willens, nachdenken. Dein Protagonist hat Angst vor diesem psychischen Sterben, nicht vor dem physischen – bewahrt ihn dieses Nachdenken und Aufschreiben davor, tatsächlich innerlich zu sterben? Ist der Schlußsatz ein "Nein" auf meine Frage?

Allerdings hast Du ganz faul gemogelt :D, denn ich war natürlich sehr überrascht, als sich plötzlich die Anführungszeichen geschlossen haben und ich erfuhr, daß er das alles nur aufgeschrieben hat. Hättest Du die öffnenden Anführungszeichen auch gemacht, wäre die Überraschung möglicherweise ein bisschen weniger groß ausfallen…:lol: ;)

Ein paar kleine Anmerkungen noch:

»und mit ihm alles unerreichbare regieren wollte«
– alles Unerreichbare

»War es nicht eher so, dass ich wie eine Schlange zu ihm empor kroch, mich an seine Seite setzte und mit ihm alles unerreichbare regieren wollte.«
– ich würde am Ende ein Fragezeichen machen

»zu den anderen Heften mit schwarzen Umschlag.«
– mit schwarzem Umschlag

»Als alles wieder an seinem Platz war küsste er«
– war, küsste


Liebe Grüße,
Susi :)

 

Liebe Susi!

Vielen Dank für´s lesen und Kommentieren einer so alten geschichte. Das nenne ich ein liebes Geburtstagsgeschenk!!!

Jetzt, da die geschichte so gut wie aus der kg.de-Öffentlichkeit geraten ist, kann ic sie ja selbst interpretieren:
Die Geschichte beruht grundsätzlich aus zwei Ideen: Eine ist die, dass viele menschen Tag täglich imensen psychischen Stress ausgesetzt sind. Teil sind sie daran selber schuld, teils, wird er ihnen aber auch durch ihr Umfeld gemacht. Zu deisem Thema hab ich zu dieser Zeit einen interessanten Gedanken aufgeschnappt: Durch all diese erniedrigungen und Stresssituationen stirbt von mal zu Mal ein Teil von uns, der uns wenn nicht physisch, vielleicht auch nicht einmal psychisch zumindest emotional sterben lässt.
Der zweite Gedanke war das Bild vom Tod. Viele sagen ja, sie haben Angst vor dem Tod, was meistens nicht stimmt. Angst vor dem Tod kann man nur haben, wenn man Angst vor der Ungewissheit hat, oder ob man in den Himmel oder in die Hölle kommt. Die wahre Angst liegt beim Sterben, bei dem langsamen oder schmerzhaften Zerfalls des eigenen Ichs, des eigenen Körpers. Das Todsein ist danach wohl nicht mehr so schlimm.

Diese beiden Idee ließen mich die Geschichte schreiben. Dass der Mann alles in schwarze Bücher niederschreibt und dann versteckt, deutet darauf hin, dass er sich seiner Situation bewusst ist, dass ihn dieses Sterben bewusst passiert, er aber nicts dagegen machen möchte und kann. Er versteckt diese Gedanken lieber vor seiner Freundin und vielleicht auch vor sicht selbst. Nue manchemal, früh am Morgen, wenn er wach im Bett liegt und keinen Schlaf findet, dann stürmen sie auf ihn ein, diese Gedanken. Dann wird er sich ihrer Bewusst. Ob er sie aufschreibt oder nur nachdenkt spielt keine Rolle.

Natürlich auch danke für´s Fehler Finden. War wie immer eine große Hilfe.

Liebe Grüße, Peter

 

Hallo Peter,

gerade rechtzeitig habe ich gesehen, dass ich Deine Geschichte schon einmal kommentiert habe. Die Thematik liegt ja ganz auf meiner Linie, jetzt aber nur eine Anmerkung zu Deiner Erläuterung:

Zitat:
Durch all diese erniedrigungen und Stresssituationen stirbt von mal zu Mal ein Teil von uns, der uns wenn nicht physisch, vielleicht auch nicht einmal psychisch zumindest emotional sterben lässt.

Da gab es letzte Woche einen interessanten Artikel im SPIEGEL über Gefühlskälte, es ist tatsächlich so, dass das Gehirn durch äußere Umstände darauf programmiert werden kann, Gefühle abzublocken.

Zitat:
Der zweite Gedanke war das Bild vom Tod. Viele sagen ja, sie haben Angst vor dem Tod, was meistens nicht stimmt. Angst vor dem Tod kann man nur haben, wenn man Angst vor der Ungewissheit hat, …

Irgendein klassischer griechischer Philosoph hat das ähnlich formuliert, sinngemäß: Solange man lebt, ist man nicht tot, also braucht man sich nicht davor zu fürchten.

Ich finde es schön, wenn in so einer kleinen Geschichte solche interessanten Dinge zu finden sind.

Tschüß… Woltochinon

 

Seas Wolto!

Danke für das zweite Kommentar auf mein Geschichterl mehr als ein Jahr danach! Find ich lässig. :)

Und es stimmt, mit einem kleinen, komprimierten Textkann man viele Themen behandeln; und das oft besser als in einer langen Geschichte, in der sich dann alles verläuft. Geht mir zumindest so.

Danke für die sehr interessanten Anmerkungen!

Liebe Grüße, Peter

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom