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Jedem seine eigene Hölle
Wie lange ich nun schon hier bin, kann ich gar nicht genau ausdrücken. Nicht nur, weil es hier keine Anzeichen für Tag und Nacht gibt. Nein. Das, was ein Mensch unter dem Begriff „Zeit“ versteht, gibt es hier nicht. Trotzdem muss ich mich Begriffen bedienen, die an ein Konzept der Zeit gebunden sind. Ich erinnere mich an das, was bisher geschah. Das ist für mich die Vergangenheit. Ich hoffe auf Veränderungen und erwarte doch jederzeit das immer und immer wiederkehrende Grauen. Das ist für mich die Zukunft. Aber dieser Zukunft fehlt das Ungewisse. Ich weiß genau, was kommen wird. Zu oft habe ich es schon erlebt und soll es doch auf ewig neu erleben. Aber ich hoffe, ich habe einen Ausweg gefunden. Nein, ich hoffe nicht, ich weiß es! Bald ist es soweit! Bald lasse ich all das hinter mir!
Ich erinnere mich noch genau an mein erstes, schmerzhaftes Erwachen. Meine Haut fühlte sich an, als sei sie über und über mit kleinen, aber nicht sehr glatten Schnitten übersät. Als hätte jemand mit der Kante eines Bogen Papier mit schnellen Zügen meine gesamten Körper malträtiert. Überall brannte es wie Feuer und wurde bei der kleinsten Bewegung unerträglich. Ich wollte meine Augen öffnen, doch meine Lider versagten ihren Dienst. Aber vielleicht wollte ich auch einfach nicht sehen, wohin es mich verschlagen hatte. Mein überforderter Verstand entschied, vorerst nichts zu tun und auf eine Verbesserung der Situation zu hoffen. Und doch sollte es noch so viel schlimmer werden.
Irgendwann war der Schmerz halbwegs erträglich, und ich raffte mich endlich dazu auf, mein Umfeld zu erforschen. Jetzt konnte ich auch die erdrückende Hitze feststellen. Schwer und feucht, so dass das Atmen alleine schon zur Anstrengung wurde. Hören konnte ich nichts außer einem dumpfen Grollen, das ich nicht zuordnen konnte.
Schließlich öffnete ich die Augen. Über mir war ein großer dunkler Fleck, um mich herum eine wabernde, rötliche Masse, von der das Grollen zu kommen schien. Ich starrte in die Masse vor mir, die langsam Form und Konturen annahm. Anscheinend fanden meinen Augen einen Fokus. Aber das, was ich sah, konnte nicht sein. Feuersäulen, die vom Boden bis zu Decke reichten. Etwa so dick wie ein Unterarm und so dicht, dass der schmalste Mann sicherlich nicht hindurch schlüpfen konnte. In unregelmäßigen Abständen lösten sich Flammenzungen aus den Säulen. Manche sprangen auf die nächste Säule über, andere lösten sich einfach ab und schwebten nach oben, wurden kleiner und brannten dann endgültig aus.
Ich starrte eine ganze Weile auf diese Säulen. Damals hätte ich die Dauer als eine halbe Ewigkeit bezeichnet. Ein Witz! Jedenfalls konnte ich meine Blicke nicht losreißen, zu faszinierend fand ich dieses Schauspiel.
„He, Neuer!“
Aufgeschreckt fuhr ich herum und sah in die Richtung, aus der ich den Ruf vermutete. Doch auch hier nur Feuersäulen. Ich befeuchtete meine Lippen, räusperte mich und krächzte schließlich etwas, das sich wie „Hallo?“ anhörte.
„Komm näher!“
Etwas zögerlich und mit ziemlich wackeligen Beinen ging ich ein paar Schritte. Durch die Lücken zwischen den Feuersäulen konnte ich schließlich eine kleine, dickliche Gestalt erkennen. Näher am Feuer wurde es immer heißer, also blieb ich schließlich stehen.
„Wo bin ich?“, rief ich dem Fremden entgegen.
„Oh, keine Manieren hat der Mann. Zunächst stellt man sich einmal vor. Also ich bin Martin. Schön, dass ich endlich einen Nachbarn habe, mit dem man Reden kann. Weißt du, der Kollege bei dir gegenüber spricht nämlich nicht mit mir. Nicht mal vorgestellt hat es sich. Vielleicht stumm. Oder einfach nur zurückgeblieben. Aber du scheinst zumindest ein Mindestmaß an Kommunikation zu beherrschen. Na ja, bisher hast du auch noch nicht viel gesagt. Womit wir auch wieder beim Thema wären.“
Ich blickte einen Moment verwirrt in Martins Richtung und versuchte, das Gehörte zu verstehen. Mir fiel nur eine Antwort ein.
„Was?“
„Na! Dein Name, wenn ich bitten darf?“
„Äh, ja. Johannes. Glaube ich.“
„Glaubst du? Also du wirst ja noch eine ganze Weile hier sein, vielleicht verwandelt sich dein Glaube noch in Wissen. Bis dahin nenne ich dich jedenfalls Johannes. Und wenn du dich umentscheiden solltest, gib mir einfach Bescheid. - So. Kommen wir zurück zu deiner Frage. Wo sind wir hier? Ein klein wenig enttäuscht bin ich ja schon, dass du nicht von alleine darauf kommst. Schließlich siehst du dir dein neues Zuhause ja schon eine ganze Weile an. Also sehen wir uns doch mal die Hinweise an. Wenn du Decke und Boden aufmerksam ansiehst, wirst du feststellten, dass es massives Gestein ist. Basalt oder so etwas. Wenngleich ich es auch für unwahrscheinlich halte, dass wir hier irdisches Gestein vorfinden. Aber egal. Also wir befinden uns in eine Höhle. Du bist umzingelt von Feuersäulen, die du bisher noch nirgendwo gesehen hast. Nicht mal etwas Ähnliches. Du kannst diesen Ort, ähnlich einem Gefängnis, nicht durch eigenes Zutun verlassen. Es ist hier schweineheiß und riecht nach was?“
Ich schnupperte und murmelte verblüfft: „Schwefel!“
„Also sind wir in der ...?“
Die Erkenntnis durchfuhr mich wie ein Blitzschlag. Ich taumelte rückwärts, verlor das Gleichgewicht und schlug hart auf dem Stein auf. Mit den Armen rudernd schob mich mit den Beinen ziellos ein paar Meter umher. Ich blickte mich hektisch um, in der Hoffnung irgendetwas zu entdecken, was dem widersprechen würde. Aber da war nichts. Schließlich gab ich auf, rollte mich zusammen und blieb regungslos liegen.
Ich war in der Hölle.
Damals redete Martin noch eine ganze Weile auf mich ein. Zuhören konnte und wollte ich ihm nicht. Schon seit diesem ersten Gespräch konnte ich ihn nicht ausstehen. Arrogantes, selbstgefälliges Arschloch. Er brauchte das wohl als Ausgleich für die Behandlungen hier.
Lange musste ich auf mein erstes Mal jedenfalls nicht warten. Ich hatte gerade erst angefangen, zu verdauen, wo ich mich befand, da spürte ich, dass sich etwas veränderte. Instinktiv wusste ich, dass sich die aktuelle Situation nur zum Schlechteren wenden konnte. Zu deutlich Schlechterem.
Wie an Fäden gezogen erhob sich mein Körper ohne mein Zutun. Sofort setzten sich meine Beine in Bewegung, schnurgerade auf die Feuersäulen zu. In der Nachbarzelle hörte ich Martin voll Inbrunst singen.
„Wenn die bunten Fahnen wehen, geht die Fahrt wohl übers Meer. Woll’n wir ferne Lande sehen, fällt der Abschied uns nicht schwer.“
Mein Herz fing an zu rasen, und ich hätte mich sicherlich eingenässt, wenn das hier nur ginge. Ich starrte auf die Feuersäulen vor mir. Sie standen mir direkt im Weg. Wo ging ich denn nur hin? Sollte ich etwa im Feuer verbrennen? Es wurde heißer und immer heißer. Meine Augen wurde vor Entsetzen größer und größer. Schließlich war ich nur noch wenige Schritte entfernt. Ich begann mir die Lunge aus dem Leib zu schreien, dachte ich. Aber es kamen nur kurze, dürre Krächzer, die von hektischem Einsaugen der heißen Luft unterbrochen wurden.
Gerade noch rechtzeitig erloschen einige der Säulen vor mir und öffneten einen Durchgang, gerade breit genug, mich hindurchzulassen. Ich warf meinen Oberkörper zu Seite und griff nach dem nächsten Feuerstab, aber meine Hände glitten durch das Feuer, wie ein warmes Messer durch Butter. Ich blickte auf meine Hände. Da waren keine mehr, nur dampfende Unterarmstümpfe. Das Bild verschwamm vor meinen Augen, bunte Lichter tanzten umher. Für einen Augenblick verlor ich das Bewusstsein.
Ich erwachte, als ich gerade aus einem dunklen Tunnel in einen riesigen Felsendom marschierte. Rechts und links meines Weges blubberten und brodelten Magmaströme. Dampf stieg auf, und es roch noch penetranter nach Schwefel, als in meiner Zelle. Mir voraus, in der Mitte der Halle, saß er auf einem schwarzen Thron und erwartete mich: Mein Puppenspieler.
Endlich stand ich vor ihm. Meine Beine hatten ihr Ziel erreicht und ließen sich zu keinem weiteren Schritt mehr hinreißen. Er starrte mich eine Weile aus seinen tiefen, durchdringenden Augen an. In seinem kantigen Gesicht spiegelte sich sein riesiges Ego wieder. Seine Züge strotzten nur so vor Souveränität, Konsequenz, Allmacht. Dieses Wesen duldet niemanden neben sich.
Er war riesig. Alleine sein Kopf schien größer zu sein, als mein ganzer Körper. Die Haut war von tiefroter Farbe. Seitlich aus der Stirn wuchsen Hörner und ab der Hüfte abwärts hatte er die Gestalt eines Hengstes. Dieser Anblick lies nur einen einzigen Schluss auf die Identität zu.
„Erkennst du mich?“
Diese Stimme fuhr mir bis in Mark. Instinktiv versuchte ich mich zu ducken und meine Ohren mit meinen Händen zu bedecken. Statt dessen presste ich mir nur verkohltes Fleisch an meine Wangen. Mein Schädel wollte explodieren.
Ich wagte nicht, ihn anzusehen, und presste schließlich hervor: „Du bist der Teufel!“
Ein bösartiges Gelächter erfüllte den Raum. „So ist es, mein kleiner Mensch. Und weißt du, warum du hier bist?“
Eingeschüchtert übte ich mich in Unterwürfigkeit: „Mein Herr, ich kann es mir nicht erklären. Mein Lebenswandel kann eigentlich nicht so schlecht gewesen sein, dass ich jetzt hier sein müsste.“
Der Belzebub neigte seinen Kopf zu mir herunter, leckte mir über das Gesicht und flüsterte in immer noch unerträglicher Lautstärke in mein Ohr: „Dein Lebenswandel ist mir herzlich egal, Wurm.“
Sein entsetzlich riechenden Speichel klebte an mir fest. Ich musste tief würgen, und doch kam nichts aus mir heraus.
Er fuhr mit erhobener Stimme fort: „Also! Wozu, meinst du, bist du hier?“
„Euch zu dienen, Meister.“
„Verdammt richtig! Und ich weiß auch schon, wie du mir am besten dienst.“ Mit diesen Worten streckte er eine Hand aus und packte mich zwischen Daumen und Zeigefinger. Mit aller Kraft schlug ich mit meinen Armen auf seine Finger ein. Es zeigte keinerlei Wirkung. Ich war ihm hilflos ausgeliefert.
Er hob mich an und führte mich vor sein Gesicht. Mit seiner anderen Hand fasste er mein rechtes Bein und drehte es kurz in beide Richtungen. Knochen splitterten mit lauten Knacken, es war wie eine Explosion in meinem Becken. Ein kurzer Riss und der Gehörnte hielt mein Bein in seinen Händen.
Jetzt gab es für mich kein Halten mehr. Ich schrie wie am Spieß und schlug wie wild um mich. Ich drosch auf seine Finger ein, versuchte ihn zu beißen. Ich weiß nicht mehr, was mehr schmerzte, meine aufgerissene Wunde oder sein amüsiertes Gelächter.
Mit einer kurzen Wurfbewegung beförderte er mein Bein in seinen Mund. Wieder war das Knacken berstender Knochen zu vernehmen. Er wiederholte das Spiel mit meinem anderen Bein. Dieses Mal rieb er es mir aber unter die Nase, buchstäblich. „Probier doch mal. Köstlich!“ Und wieder ein schallendes Lachen, unterbrochen von Knacken, Kauen und Schmatzen.
Dann setzte er seine Lippen an meinen Unterleib und saugte die Innereien heraus. Der Grausamkeit Höhepunkt dabei war, dass ich das alles bei vollem Bewusstsein miterlebte. Ich spürte, wie ich nach und nach meine Organe verlor. Zuerst die Därme, dann Leber, Magen, schließlich die Lungen. Ein letztes Mal sah ich dem Teufel ungläubig ins Gesicht, dann wurde es Schwarz um mich.
Ein solches Festmahl hat sich nun unzählige Male wiederholt. Ich wachte immer wieder in meiner Zelle auf, nur, um mich selbst dem Leibhaftigen zum Fraß vorzuwerfen. Und dabei ist er durchaus einfallsreich in seinen Demütigungen und in der Reihenfolge der Körperteile, die er zu sich nimmt. Einige Male hat er mich sogar am Stück verschlungen und ich löste mich langsam in seinem Magen auf.
Aber es gibt einen Fehler in dieser Hölle. Schon beim ersten Mal hätte ich es merken müssen! Es ist eine exakte Kopie der Hölle und des Teufels in meinen Gedanken. Wenn das kein Zufall war, konnte das also nur eins bedeuten.
Ich legte mir eine Art Mantra zurecht und wiederholte es ununterbrochen. Ich musste meinen Verstand damit impfen, es musste zu meiner Überzeugung werden. Zunächst war es gar nicht so leicht, sich darauf zu konzentrieren, da Martin ständig durch das Gitter blökte. Aber es gelang mir, ihn auszublenden. Endgültig!
„In der Hölle ist man einsam! In der Hölle ist man einsam! In der Hölle ist man einsam! In der Hölle ...“
Damit war klar, dass meine Vermutung richtig war. Ich bin der Ursprung dieser Hölle. Meine Vorstellung formt sie. Und ich kann meine Vorstellung formen!
Und auch den letzten Schritt habe ich geschafft, auch das letzte Mantra hat mein Gehirn nun geschluckt. Ich fühle es. Weiß es! Er wird mich nur noch ein einziges Mal fressen. Und mit mir sich selbst, seinen Thron, die Feuersäulen, die ganze Hölle. Dann habe ich ihn besiegt. Mich besiegt!
Es geht los, meine Beine wollen auf.
„Auf den Tod folgt Nirwana. Süßes Nichts. Keine Schmerzen, keine Gedanken. ...“