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Jean D'Aire
Bewegungslos stehe ich im Park und bin allein mit meinen Gedanken. Ich schaue zu, wie der Wind angemodertes Laub vor sich hertreibt, wie ein Zeitungsschnipsel über das Stück Gras wandert, auf das ich seit Jahrzehnten starre. Vor über einhundert Jahren wurde ich gemacht. Einhundert Jahre, und nie habe ich auch nur einen Finger gerührt. Nie eine Apfelspalte gegessen. Ein Jahrhundert, und nicht eine neue Falte. Noch nicht einmal geblinzelt. Nur mein Holz würde knacken, wäre ich nicht aus Bronze.
Rodin. Rodin hat mich gemacht, gab mir diese großen Hände, großen Füßen, großen Zehen. Er formte mich, zusammen mit seiner Geliebten, Camille Claudel. Der Bildhauer und seine Assistentin. Sie genauso talentiert wie er, aber so viel schöner. Geschmeidig, mit glatter Haut, glasiert im Schweiß ihrer Arbeit.
Die beiden vergaßen nicht, mir die Fähigkeit zu geben, Lust zu empfinden. Verlangen. Meine Gestalt wurde in die Form ihrer Lust gegossen und gebrannt. In dem Atelier, in dem ich gemacht wurde, liebten sie sich vor ihren Skulpturen, immer und immer wieder. Mit Skulpturen umzingelten sie sich, die sie anstarrten, wenn sie es auf dem staubigen Boden taten, schwitzten, stöhnten. Jeden Tag sah ich es, roch ich es, sah, wie er sie nahm, sich in sie grub, selbst wenn sie sich ihm verweigerte, ihn darum flehte aufzuhören. In mir brannte es. Ich wollte, dass er aufhörte. Doch schlimmer – auch ich wollte sie. Ich sah, wie sie mich ansah, wie ihre Augen implodierten, bettelten. Camilles Augen schrieen mich an, doch nichts war alles, was ich tun konnte.
Lange brannte dieses Verlangen in mir. Meinen Vater wollte ich töten, meine Mutter lieben. Mit meinen schweren, bronzenen Händen wollte ich seinen Schädel zertrümmern für das, was er ihr antat. Wollte sie mit flüssigem Verlangen nehmen, auf dem verdrehten, blutverschmierten Körper meines Vaters in sie eindringen. Ficken wollte ich sie. Und mir dann die Augen ausstechen, vor Schuld und vor Scham.
Mit der Nachricht von Camilles Tod verblasste auch diese rohe Lust in mir. In einem Irrenhaus war sie gestorben, verrückt, paranoid und einsam. Ich erfuhr es von einem ergrauten Kunstprofessor, der, seine Hand auf meinen Fuß gestützt, seinen Studenten von Camilles Schicksal berichtete. Obwohl sie immer wieder zu Rodin zurück gekehrt war, hatte er sich ihr nach und nach entzogen, sie statt mit Stärke mit Kälte gedemütigt und sie schließlich verlassen, um eine Andere zu heiraten.
Mit der Zeit lernte ich auch die Wut in mir zu bändigen. Jedoch bedeutet Zeit Folter. Zwischen dem hart arbeitenden Vater und dem untätigen Sohn vergeht sie unterschiedlich. Generell nehme ich Zeit anders wahr. Oft höre ich Menschen sagen ‚Das ging viel zu schnell’ oder ‚Hätte ich doch wenigstens noch eine Stunde’. Wenigstens noch eine Stunde? Für mich ist eine Stunde oft eine unglaublich lange Zeit. In einer Stunde passiert meist nichts, sie zieht sich vor mir her, während ich geradeaus starre, unfähig, meine Augen zu schließen.
Tagsüber sehe ich die Passanten. Und sie sehen mich. Nackt. Manchmal marschieren Ameisen über meine Füße, lassen sich Fliegen auf mir nieder, versuchen Spinnen, mich in ihre Seide zu wickeln. Es gibt noch andere Skulpturen hier im Park. Ich weiß nicht, ob sie wie ich sehen, hören und denken können. Mir gegenüber sitzt Marianne, die einzige Statue, die in meinem Blickfeld liegt. Ich verbringe Stunden damit, ihren Körper mit meinen Gedanken zu umranden. Nie schien Metall so weich wie in den Kurven ihrer mädchenhaften Schenkel, in der delikaten und dennoch braven Biegung ihres Kinns und den beinahe reifen Früchten ihrer Brust. All dies fließt in ihren immer erwartungsvollen Zügen zusammen. Seit Jahrzehnten betrachte ich nun schon das Lichtspiel auf ihrem Körper und warte auf den Moment, an dem sie aufsteht und davon geht.
Ich denke viel nach. Betrachte die Leute, die an mir vorüber gehen. Höre Fetzen ihrer Gespräche, lese Ausschnitte ihrer Zeitungen. Ich erfahre wenig Neues, aber habe mehr Zeit, darüber zu sinnieren. Ich habe gelernt zu lesen, ohne Anleitung. Ab und zu erschienen Buchstaben vor mir, und über die Jahre begriff ich ihr Schema. Ich bin ein Autodidakt. Da ich nicht hinaus in die Welt gehen kann, denke ich sie mir. Mein Denkall ist dennoch eine physische Dimension. Wenn ich an einen rosa Elefanten denke, existiert dieser auch. Mit meinen Gedanken fasse ich ihn an. Das Gras vor mir, die Menschen, sie kann ich nicht berühren, aber in meinem Denkall bin ich ein Gott, hier kann ich machen, was ich will, hier gelten die Regeln der anderen Dimensionen nicht. Obwohl ich jene sowieso nicht immer verstehe. Schließlich kann ich dort Morgen nicht anfassen, bevor es Heute wird, und dann ist es nicht mehr Morgen. Darf es nach ihren Regeln überhaupt ein Morgen geben?
Nachts kann ich am besten denken. Wenn das Grün vor mir in Schwarz übergeht und die dröhnenden Echos der Stadt weicher werden, schaue ich zu, wie sich die Welt vor mir verlangsamt. Der Himmel schiebt sich gleichmäßig durch seine dunklen Schatten. Erinnerungen erwachen und tanzen frei durch meine Gedanken, verschmelzen unbändig in neue Formen, nie zuvor ausgesprochene Worte und ungespielte Szenen. Meine Gedanken lösen sich und entfliehen dem Käfig meiner Sinne. Umrisse kommen und gehen, alles blendet mich, und ich fliege, lasse mich treiben, taumle wie ein Schmetterling von Blüte zu Blüte. Ich kann diese Statue verlassen, sie ist nur meine Schale und ich nicht sie selbst.
Auch jetzt ist es daran, Abend zu werden. Der Park ist wieder leise, und die Luft voll von natürlichen Gerüchen. In ihr schwimmen blühende Pflanzen, leuchtender Honig, zarte Vanille. Karawanen von Ameisen marschieren zurück zu ihrem Hügel, bepackt mit Materialien und Nahrung. Sind sie glücklich? Zumindest sind sie zusammen und Teil von etwas Größerem als sie selbst. Wie die Bienen, die für heute zum letzten Mal an mir vorbeisausen. Ja, sie müssen glücklich sein, tauchen sie doch direkt in ihr Verlangen, während ich hier stehe und mir vorstelle, wie sich ihre Flügel ekstatisch durch goldene Pollen schaufeln.
Wolken sind zwischen mich und den Himmel gezogen. Das letzte Licht hat sich gleichmäßig ausgebreitet, als käme es von überall her. Schatten werden länger. Es ist ein trüber Abend, das Laub zittert und Mariannes Haut strahlt schon lange nicht mehr.
Pitsch, höre ich es. Pitschpatsch. Dann fühle ich es auch. Stärker, als ich erwartet hatte, und kälter schlägt der Regen auf uns hinab. Das Prasseln hallt hoch und laut vom Boden wider. Als wandle es unendlich langsam eine lange Treppe herunter, verblasst das Licht Ton um Ton. Der Garten verliert seine Farben, während sich das Wasser weiter an uns entlang räkelt. An Mariannes grünem Gesicht herunter, über ihren Hals, flüssiges Glas zwischen ihren Brüsten. Es läuft über ihren Bauch, tropft auf ihre Schenken, ihre Waden so glatt, sickert zwischen ihre Zehen, strömt über ihr Geschlecht. Vom Regen reflektiert verblasst sie zusammen mit dem Licht. Ich sehe nur noch einen Schimmer von ihr. Es ist ein langer Abschied. Dann nichts. Als wäre sie aufgestanden und in die Dunkelheit davon gegangen.