Je voudrais
Ich fuhr mit dem Zug nach Prag. Das war weniger weit weg von Berlin, als ich mir vorgestellt hatte. Das Studentendorf, wo die Go-Konferenz stattfinden würde, lag ein bisschen auβerhalb am Stadtrand. Es war aber einfach zu finden mit der Metro. Beim Aussteigen aus der Metro hörte ich den Vorsichttürenschliessen-Spruch über Lautsprecher. Ich fand, das klang schön in tschechisch. So ein bisschen Singsang. Es wäre schön, ein wenig tschechisch sprechen zu können, dachte ich mir. Am Anmeldetisch geben sie mir meine Zimmernummer. Das Studentendorf hatte diesen Ost-Charme. Ein Plattenbau mit vielen Betten pro Zimmer. Es erinnerte eigentlich eher an eine Jugendherberge als an ein Studentenwohnheim. Macht nix, dachte ich mir, bin ja nicht anspruchsvoll.
„Wir hatten gehofft, dass Du nicht kommst.“
Die junge Frau hatte lange blonde Haare und stand direkt neben dem Eingang des Zimmers, das mir zugeteilt worden war. „Mein Freund ist nicht angemeldet. Deshalb haben wir jetzt ein Bett zu wenig. Deshalb haben wir gehofft, Dass Du nicht kommst.“ Die junge Frau ist keine junge Frau. Eher ein Mädchen. Höchstens sechzehn. Na, das ist ja ein Superempfang, denke ich mir. Ich bestand aber darauf, bis sie einräumte, hmm, ja, ihr Freund könne ja auch zu ihr ins Bett, obwohl, die seien ja recht schmal….. Ich war immer noch recht ungläubig. Was für ein seltsames Mädchen. Ich bemühte mich zwar, nur das nötigste zurecht zu legen, um dann so schnell wie möglich wieder rausgehen zu können, doch ich überhörte dann doch einige Sätze, die sie mit den anderen Zimmerbewohnern wechselte. Die meiste Zeit über redete das blonde Mädchen. Die meiste Zeit über sprach sie von anderen Personen, indem sie auf deren Spielstärke verwies und nicht auf deren Namen. Das hörte sich dann ungefähr so an:
„Der Fünfkiyu wollte nicht mit der Siebenkiyu ein Bier trinken gehen, weil er meinte…. Dann kam der Zweidan hinzu und sagte…..“.
Sie spricht mit ihrem Freund. Später fand ich heraus, dass ihr Freund doppelt so alt ist wie sie. Sehr seltsame Konstruktion. Welcher zweiundreißigjährige Mann ist mit einer Sechzehnjährigen mit Wahrnehmungsstörungen zusammen?
Ich liebe Go. Ich bin da nicht sonderlich gut drin. Aber ich liebe dieses Spiel. Man kann sich da drin verlieren. Ich spiele, zerbreche mir den Kopf, ob ich hier noch meine Gruppe retten kann, oder lieber da setzen sollte oder doch nicht………… Und alles andere um mich rum verliert an Bedeutung. Stunden verstreichen, aber das ist ganz gleich. Ich kann da so eintauchen. Das ist fast so wie beim Bücherlesen. Dann bin ich auch ganz weg. Auf einem anderen Planeten. Wo andere Dinge zählen und andere Dinge möglich sind als die Dinge aus meinem normalen Leben. Wo mit viel Fantasie noch viel mehr möglich ist und die Perspektive weniger trüb. Deswegen also Go-Konferenz. Ich bin wirklich weit davon entfernt, in Turnieren punkten zu wollen. Aber das gehört nun einmal dazu. Wir spielen so oft, dass ich nachts in meinen Träumen weiße oder schwarze Steinchen aufs Brett lege. Die Steine tanzen auf und ab. Der ganze Kopf ist voll damit, selbst in der Nacht, beim Schlafen. Ab und zu unterhalten wir uns aber auch und holen nicht gleich die Spielsteine heraus. Da war Markus mit der lustigen Lache. Wenn er anfing, zu lachen, dann musste man sofort auch lachen, weil einfach seine Lache sich so lustig anhörte. In Prag war das Bier billiger als das Wasser und die Cola. Die tschechischen Studenten sagten, das sei ganz normal. Sie fragten sogar zurück:
„Ist in Berlin das Bier in den Kneipen denn teurer als die Cola?“
„Na klar“
antworten wir.
Einmal, da treffe ich Markus kurz alleine und wir unterhalten uns. Am Ende sagte er „Naja, gestern nachmittag war ich noch mit Justus auf eine Partie verabredet. Aber der wollte ja lieber schäkern gehen.“ Ich lächle einen Moment recht blöd, bevor ich kapiere. Achso. Es macht klick in meinem Kopf. Andere haben das auch bemerkt. Justus war schäkern. Justus hat mich getroffen.
Der Vorteil meiner neuen Welt, der Go- Welt, der lag eigentlich genau darin, dass das kein Thema mehr war für mich. Das war ja das Gute: nur der Spielspaβ zählte, die Zeit, die man miteinander verbrachte. Es ging nicht ums richtige Leben. Mit Beziehungen wollte ich nichts zu tun haben. Ich schaltete das einfach ab. Ich war auf dem Ohr einfach taub. Es war ja auch genug passiert. Nun war ich allein. Ich hatte neu angefangen. Das Beste an dem Neuanfang war meine neue Wohnung hoch oben im Wolkenkratzer vom Nollendorfplatz. Und die Hängematte, die ein Freund einer Freundin mir da angebracht hatte, genau vor dem groβen Fenster. Ich konnte lange in dieser Hängematte liegen, mich in eine Decke kuscheln und auf Berlin blicken. Und versuchen zu vergessen, wie mein Leben in Berlin davor war. Davor. Und das zweitbeste an diesem neuen Leben war, nun ja die neue Freizeitbeschäftigung Go.
Am meisten mochte ich an Justus das Berlinerische, das aus seinem Mund herauskam. Und den Blick, der aufblitzte, wenn er mich ansah. Es dauerte aber noch eine ganze Weile. Mein Lieblings-Tshirt war damals ein weißes Berlin-Schöneberg-Tshirt. Ich hatte es mir zusammen mit einer Freundin gekauft in ihrem Lieblingsladen. Auf dem Tshirt war vorne in rosa ein Hirsch abgedruckt, dadrunter stand Schöneberg. Auch hatte mir die Freundin ihren Jeansrock ausgeliehen für meine Pragreise. Den hatte sie mir schon einmal ausgeliehen, das war kurz danach. Wir waren fürs Wochenende zu ihren Eltern gefahren. Ich fand es rührend, wieviel Mühe sie sich um mich gab.
In meiner Erinnerung an Prag trage ich fast immer diese beiden Kleidungsstücke. Manchmal sehe ich mich dort am Tisch sitzen, mit Go-Steinen in der Hand. Ich ging fast immer mit einem Űbungsbuch in der Hand herum, das hieß, glaube ich, solving go problems oder sowas in der Richtung. Als es dann endlich soweit war, hatte ich es auch dabei. Da waren wir bei irgendwelchen Bekannten von Justus auf dem Zimmer. Dort vergaß ich dann auch das Buch. Es gab ja dann wichtigeres. Ich konnte richtig in seinen Armen sein. Er sagte mir:
„Du riechst gut“.
Das war diese neue Bodymilk mit dem Apfelgeruch. Er konnte richtig gut küssen. Es war so, als würde die Zeit und die Welt anhalten. Und ich war nicht vorbereitet auf diese Riesenwelle von Zärtlichkeit, die mich da überrollte.
Am nächsten Tag hole ich Justus von seinem Turnier ab. Er war noch nicht fertig mit dem Spielen und ich beobachtete ihn aus der Ferne. Eigentlich müsse es andersrum sein, sage ich mir in Gedanken. Und da fiel sie mir ein, Anna Gavalda. Sie hatte dieses Buch „Je voudrais que quelqu’un m’attend quelque part“ veröffentlicht. Ich habe es als Vorbereitung gelesen, da ich mein französisch verbessern musste. Die meisten Kurzgeschichten in diesem Buch handeln von Einsamkeit und überzogenen Sehnsüchten. Frauen, die sich den perfekten Mann vorstellen und dabei gar nicht merken, wie sehr sie abheben und gar nicht mehr in der Realität zuhause sind. Mit tausendundeinhundert Vorstellungen und Wünschen. Mein Wunsch ist gar nicht so übertrieben. Er ist ganz bescheiden. Nur das eine. Dass ein-, zweimal jemand auf mich wartet. Und dass dann sein Blick so aufblitzt, wenn er mich sieht.
Ich freundete mich mit einer Gruppe Franzosen an. Die waren alle sehr nett. Und außerdem konnte ich ein bisschen mein französisch aufbessern. Ich sollte bald nach Frankreich ziehen, ich musste mehr französisch lernen. Am freundlichsten war Julien, der mir viel von seiner Familie erzählte und den Büchern, die er mit seinen Kindern gerade las. So erfuhr ich vom französischen Robin Hood, von Arsene Lupin. Die Geschichte imponierte mir. Es war eben nicht alles so Schwarzweiß wie bei Robin Hood. Mit Julien blieb ich später noch in Kontakt. Er war es, der uns als erster auslachte, als ich ihm später erzählte, mein Vater und ich seien am 15. August los, um eine Wohnung zu finden in der neuen Stadt in Frankreich, in der ich dann wohnen würde. Im Ernst. Am 15. August in Frankreich? Als klar war, ich würde einen ganzen Tag frei haben und es kein Turnier gab, an dem ich hätte teilnehmen können, entschloss ich mich, die französische Gruppe auf einen Ausflug zu begleiten. Wir hatten uns entschieden, mit dem Bus an einen See zu fahren. Welchen, weiss ich nicht mehr. Er war total klar und gar nicht so kalt. Ich ging als eine der ersten hinein. Die Kinder, die dabei waren, machten mit einigen der Erwachsenen Wortspiele in französisch, da verstand ich sowieso nichts. Ich bin lange in dem See geschwommen.
„Ihr wart aber lange weg“
sagte Justus, als ich ihn im Studentendorf wiedertreffe am Abend.
„Du hast doch nicht etwa auf mich gewartet?“ Erwidere ich erstaunt.
Die Konferenz ist fast zu Ende. Ich habe nicht sehr gut abgeschnitten, aber das war nicht wichtig für mich. Wir sitzen auf einer Wiese in der Nähe des Studentendorfes. Justus druckst ein wenig herum.
„Du, ditt wird in Berlin anders sein.“ sagt er.
„Nicht so wie hier.“
Oh Mann, denke ich mir. Noch nicht einmal Klartext reden. Hab ich das nicht verdient? Den Klartext meine ich. Dann fällt es mir wieder ein, je voudrais que quelqu‘ un m‘ attend quelque part….. Stimmt, sag ich dann zu mir. Nur das hab ich ja gewollt. Das hab ich gehabt. Für ganz kurz. Ich sehe ihn an. Diesmal lächelt er nicht, sondern guckt ganz ernst.
„Ich weiβ“ erwidere ich. „Ich bin doch nicht blöd.“