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- 20.01.2018
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Jasper, die Hungrigen und der Sumpf
„Verdammte Kälte“, murmelte der Torfstecher und schippte weiter Erde in das Loch unter der kahlen Birke.
Jasper stand am Fuß des Totenhügels, die Hand an den frostüberzogenen Holzzaun gelegt, und horchte, was der junge Mann sich selbst erzählte.
Nachdem er ihn eine Weile belauscht hatte, machte Jasper sich auf den Weg. Im Sommer wäre er knietief im Sumpf eingesunken, jetzt brachen die Grasbüschel unter seinen Schritten in Eiskristalle.
Als er die Birke erreichte, hatte der Torfstecher das Loch fast gefüllt. Er hatte eine dürre Statur, lichtes, braunes Haar und Hände, die von Schwielen gemarkt waren. Das linke Auge war gesund. Das rechte hingegen, Jasper hatte es bisher nicht sehen können, war einer sichelförmigen Narbe gewichen. Neben seinen Füßen lag ein Sack, aus dem das Ende einer Spitzhacke ragte. Anders war es auch unmöglich, den gefrorenen Boden aufzubrechen.
Der Torfstecher bemerkte Jasper, musterte das Wams und den bunten Überwurf aus Stofffetzen, von denen keine zwei aus demselben Stück Stoff stammten. Als er das Schwert an seiner Hüfte sah, wurden sein verbliebenes Auge groß.
„Wer seid Ihr?“, fragte er und stützte sich mit beiden Händen auf seinen Spaten.
Jasper trat an den Rand des Grabs. Unter der Erde konnte er noch Konturen erkennen, Arme, Haarbüschel und etwas, das mal eine Nase gewesen sein musste. „Wer war das?“
„Die Tochter vom Wirt. Sarah.“
„Gibt es keine Beerdigung?“
„Doch, heute Abend. Auf dem Feld hinter der Mühle.“
„Warum nicht hier am Grab?“
„Graf van Vlegge schreibt vor, dass die Trauerfeier da abgehalten werden muss, wo der Großteil des Körpers liegt, und der Großteil von Sarah liegt noch irgendwo auf dem Feld hinter der Mühle.“ Der Torfstecher legte den Spaten beiseite und drückte den verbliebenen Erdhügel mit dem Fuß in das Loch. „Ist Gesetz seit der Schlacht an der Trauerfichte. Weil ihr Vater sich aber gewünscht hat, dass zumindest ein Teil seiner Tochter auf dem Friedhof landet, hat der Graf eine Ausnahme gemacht.“ Der Torfstecher hauchte auf seine Finger, rieb sie aneinander. „Und rate mal, wer Sarah verbuddeln darf? Richtig, der Torfstecher. Der weiß ja schließlich, wie man die Erde aufwühlt.“
„Habt ihr keinen Dorfpriester?"
„Hatten wir.“ Der Einäugige zeigte auf ein Fleck Erde am Fuße der Birke. „Jetzt ist er bei den Würmern. Für die Beerdigung reist ein Heiliger aus Lillienvenn an."
Schweigend sah Jasper zu, wie der Torfstecher die Erde platt stampfte und mit dem Spaten glattzog. Anschließend legt er das Werkzeug zu der Spitzhacke in den Beutel und griff sie auf.
„Bin übrigens Alvar.“
„Jasper.“
Der Torfstecher lächelte. „Was bringt dich her?“
„Bin nur auf der Durchreise.“
„Wohin?“
Das, dachte Jasper, wüsste ich auch gerne.
Olavstadd lag nur einen Steinwurf vom Grabhügel entfernt, auf der anderen Seite einer Reihe Bäume, die Alvar Wald nannte. Jasper hatte bereits Hecken gesehen, die dichter bewachsen waren.
„Du reist zu Fuß“, stellte Alvar fest, während sie zusammen über die Felder liefen.
„Mein Pferd ist vor vier Tagen gestorben.“
„Was ist geschehen?“
„Eine Steinmutter. Ich musste die Nacht in einem Wirtshaus verbringen, weil mir der Schnee bis zu den Knien stand. Als ich am nächsten Tag den Stall betrat, fraß das Vieh gerade am Kadaver. Der Hunger hat sie aus den Bergen getrieben, bis in die Sümpfe.“
Alvar spuckte aus. „Mein Beileid. Schade um den Gaul. Was ist aus der Steinmutter geworden?“
„Der Wirt hat sie als Bezahlung für die Übernachtung akzeptiert.“
Der Torfstecher nickte stumm. Jasper sah, dass ihm eine Frage auf den Lippen lag. Rauch stieg aus den Hütten vor ihnen auf und in den Himmel.
Jasper warf einen Blick über die Schulter. In der Winterkälte war der Himmel klar wie Glas.
„Was ist mit dieser Frau passiert?“
„Sarah?“ Alvar pfiff leise durch die Zähne. „Etwas hat sie angegriffen. Und zerfleischt.“
„Ein Troll?“
„Nein. Ich glaube, es waren Hunde. Wildgewordene Biester, die früher von Graf Holtenzolls Soldaten geführt wurden. Bei der Schlacht am Adlerkopf wurden seine Truppen so sehr aufgerieben, dass die blöden Köter Reißaus genommen haben. Jetzt ziehen sie als Rudel durch den Sumpf und fallen jeden an, der bei ihrem Geheule nicht die Beine in die Hand nimmt. Kein Wunder, wenn du mich fragst. Wurden ihr ganzes Leben lang geprügelt, klein und hungrig gehalten, damit sie in der Schlacht schön wild sind, und wir Leute müssen das jetzt ausbaden.“
„Ist sie die erste Tote?“
„In Olavstadd? Ja. Weiter im Osten, um Lilienvenn, da sieht es anders aus. Wenn das so weiter geht, hat dort bald jede Familie jemanden an das Rudel verloren, noch bevor der Winter um ist.“ Alvar hob den Kopf. „Was führt dich in den Sumpf, Jasper? Du hast gesagt, du wärst auf der Durchreise?“
„Ich suche eine junge Frau, letzten Monat siebzehn Jahre geworden.“
„Wie soll ich sie erkennen?“
„Als ich sie das letzte Mal sah, trug sie einen Gambeson.“ Jasper holte Luft. „Einen Kopf kleiner als ich, rote Wangen. Sie hat die blonden Haare immer zu einem kleinen Dutt gebunden, aber es ist möglich, dass sie sie abrasiert hat. Ihre Augen sind grün oder blau, abhängig davon, in welchem Licht man sie sieht.“ Er seufzte. „Und sie ist schwanger.“
„Deine Tochter?“
Jasper fuhr sich über den grauen Bart. Er konnte sich noch daran erinnern, wie stolz sein jugendliches Ich über seine ersten Stoppeln gewesen war, und jetzt, Ende zwanzig, sah er aus wie ein alter Mann.
Beinahe hätte er gelacht. Vielleicht war er das, alt. Wenige Soldaten wurden dreißig, zumindest nicht in den kriegerischen Grafentürmern Fiskgards, und erst recht nicht in einem ausgehungerten Sumpf wie dem Niemandsland.
„Nicht meine Tochter, nein.“
Bald betraten sie das Dorf. Zwei abgemagerte Schweine streiften Jaspers Beine im Versuch, sich einander die Ringelschwänze abzubeißen. In der Mitte des Dorfes stand, fast verborgen unter der Krone einer scharlachroten Eiche, ein Wirtshaus.
Jasper roch die Pferde, bevor er sie sah.
Sie waren zu fünft. Zwei Soldaten hielten die Zügel, während ihre Kameraden eine beleibte Frau begleiteten, die mit der Faust gegen die Tür des Wirtshauses schlug.
„Fräulein Anna.“ Jasper verbeugte sich. Er hörte jemanden scharf einatmen, Stiefelabsätze knirschten durch den Frost, ein Luftzug von rechts. Jasper ging noch tiefer, um unter dem Schlag herzutauchen. Mit der einen Hand packte er Annas Handgelenk, die andere setzte er ihr an den ungeschützten Hals. Die Soldaten zogen ihre Waffen.
„Nicht die Deckung aufgeben, Fräulein Anna.“ Jasper ließ sie los, sah sie an. Seit ihrer letzten Begegnung hatte Anna ein wenig zugenommen. Das rote Kleid war fleckig und zerknittert, sie musste es seit Tagen tragen. Im grauen Farbton des Winters hatten ihre Augen eine blassgrüne Farbe angenommen. So hübsch, ihrer Zwillingsschwester so ähnlich … und doch grundverschieden.
„Was glotzt Ihr mich so an?“
„Verzeihung. Achtet auf Eure Füße, Fräulein Anna. Sie stehen für den Schlag verkehrt herum. Wie oft habe ich euch und eurer Schwester das gesagt?“
„Fahrt zur Hölle!“
„Da bin ich schon. Wen wundert es, dass ausgerechnet wir zwei uns hier wiedertreffen?“
Sie schnaufte. An Maria hatte Jasper das immer attraktiv gefunden, diese gespielte Genervtheit. Was aber für Maria ein Witz war, besaß Anna als Charakterzug.
„Ich befehle Euch, von hier zu verschwinden“, sagte sie. „Wir finden meine Schwester auch alleine.“
„Ich bin nicht mehr Euer Hund.“
„Dann seht es als gut gemeinten Ratschlag. Das Niemandsland ist gefährlich.“
„Das bin ich auch.“
Anna lächelte böse. „Weiß mein Vater überhaupt, warum Maria getürmt ist?“
„Er kann es sich sicher denken. Mit Euch als Schwester hätte ich es auch nicht ausgehalten.“
„Bitte.“ Alvar trat zwischen sie, wobei er jeglichen Blickkontakt vermied. „Jasper, gnädige Dame. Auf fremden Grund zu streiten bringt Unglück.“
Anna funkelte ihn an. „Halt den Rand, Torfstecher. Männer, die ihre Schwerter nicht im Griff haben, bringen Unglück.“
„War ich so ein schlechter Fechtlehrer?“
„Ich meinte nicht den Unterricht.“
Die Soldaten scheiterten daran, ihr Grinsen zu verbergen.
Anna van Vlegge widmete sich dem Torfstecher. „Warum ist das Dorf verlassen?“
„Sie stechen Torf, Herrin.“
„Du weißt, wo sie arbeiten? Dann führe uns hin. Und Ihr“, sie kam auf Jasper zu, senkte die Stimme zu einem Flüstern, „verschwindet von den Ländereien meines Vaters!“
„Ich gehe, sobald Maria gefunden wurde.“
In Annas grünen Augen tobt ein Sturm. „Jasper“, flüsterte sie, „wenn ich dich noch einmal sehe, lass ich dich an einen Baum ketten und auspeitschen, dass nicht einmal meine Schwester dich erkennen würde!“
Jasper verließ das Dorf auf demselben Weg, auf dem er es betreten hatte.
Auf seinem Pfad zerstampfte er jeden Grasbüschel, der das Pech hatte, ihm unter die Füße zu geraten. Von all den Menschen, die sich in diesem gottverdammten Sumpf herumtrieben, musste er ausgerechnet auf Anna van Vlegge treffen. Jasper hatte sich in seinem Leben eine Menge Feinde gemacht, aber niemand war so … ambitioniert. Ambitioniert darin, Jasper jeden noch so möglichen Stein in den Weg zu legen. Es war zum Verzweifeln. Eher hätte er es mit einem ausgehungerten Wolfsrudel aufgenommen als mit dieser Dame, notfalls sogar an einen Baum gekettet. Wenn es nur nicht um Maria gehen würde, um Maria und seinen … ihren …
Es ist zum Heulen, dachte Jasper. Ich weiß nicht einmal, ob ich einen Sohn oder eine Tochter bekomme.
Er blieb stehen, starrte in die Ferne. Ein Teil von ihm wollte nicht mehr, als fortzureiten und sich zu betrinken. Er hatte noch immer Freunde aus der Armee, die konnten ihm Arbeit besorgen. Mit seiner Reputation würde ihn zwar kein Graf mehr als Fechtlehrer einstellen, aber … vielleicht …
Der Himmel hatte an Gräulichkeit zugenommen.
Jasper erreichte die Beerdigung, als der Priester zum letzten Teil überging.
Wie in Fiskgard üblich, standen die Trauernden als Familie beieinander. Ein Dutzend kleiner Gruppen starrte auf einen in grauen Roben gekleideten Priester, der um das Lagerfeuer schritt und dabei Kräuter in die Flammen warf.
Jasper hatte Anna van Vlegge nicht in Person erwartet, aber zumindest angenommen, dass sie zwei ihrer Soldaten abstellen würde. Ein Irrtum, wie er erkannte. Wahrscheinlich hatten sie erfahren, wonach sie gesucht hatten, und waren bereits weitergezogen.
Das Feuer leuchtete auf, schlug Funken. Für den Bruchteil einer Sekunde konnte Jasper Alvars mageres Gesicht erkennen. Er stand alleine am Rande der Trauergemeinde.
Schweigend gesellte Jasper sich zu dem Torfstecher, verschränkte die Arme auf dem Rücken und wartete.
Als die Beerdigung beendet war, zogen sich die Trauernden gruppenweise in das Dorf zurück, mit Ausnahme von Alvar. Bald waren Jasper und der Torfstecher alleine.
„Alvar.“
„Jasper.“
„Wo ist deine Familie?“
Der Torfstecher ignorierte die Frage. „Ich hätte nicht gedacht, dass du doch noch zur Beerdigung kommst. Frau van Vlegge war ziemlich deutlich.“
„Ich weiß. Würde es nach ihr gehen, wäre mein Kopf längst Zierde am Straßenrand, zur Schau gestellt auf einer Lanze. Futter für die Krähen.“
„Hier gibt es keine Krähen mehr“, flüsterte Alvar und richtete den Blick auf das Feuer. „Nur noch Wölfe und Menschen. Und Wölfe, die sich als Menschen ausgeben.“
Jasper unterdrückte den Drang, Alvar weiter nach seiner fehlenden Gesellschaft zu fragen.
„Nachts kann man sie Heulen hören, weißt du. Sie kommen immer näher an das Dorf.“
Schweigend standen sie nebeneinander. Die Kälte kroch Jasper unter den Überwurf und in den Nacken. Bald waren seine Lippen so spröde, dass eine Berührung sich anfühlte, als streiche man über eine Katzenzunge.
„Alvar“, begann Jasper und schüttelte sich. Die Kälte machte ihn schläfrig. „Du musst mir einen Gefallen tun.“
„Ein Bett habe ich nicht frei, aber wenn dir Stroh reicht …“
„Wohin ist Fräulein Anna gezogen?“ Er seufzte. „Ich sehe es dir an. Du weißt es.“
„Ich musste versprechen …“ Alvar brach ab. „Wenn sie erfährt, dass ich geredet habe … Wenn ich Glück habe, bringt sie mich sofort um. Wenn nicht, führen sie mich in den Sumpf und fesseln mich an einen Baum, und dann …“
„Ich kenne Anna van Vlegge, sie …“
„Sie ist eine grausame Frau.“ Das Gesicht des Torchstechers änderte sich, ganz leicht. Für jeden anderen Menschen wäre es nicht mehr als ein Kauen gewesen, aber Jasper erkannte die Mimik. Vorgeschobener Kiefer, die Wangen eingezogen. Die Augen starr und glanzlos auf das Feuer gerichtet. „Du kennst sie nicht, Jasper. Du kommst vom Hof, da benehmen sich die Menschen. Hin und wieder, wenn Fräulein Anna einen schlechten Tag hatte, reitet sie in den Sumpf und tut … Dinge, die … Sie ist die Herrin vom Niemandsland, verdammt. Und wer bin ich? Nur der Idiot, der ihre Leichen verbuddelt, damit der Geruch nicht die Wölfe anlockt.“
Jasper schwieg. Über Anna van Vlegges Ausritte hatte er nur Gerüchte gehört, aber er glaubte jedem Detail.
„Alvar, ich …“
„Was willst du von ihr, Jasper?“
„Ihre Schwester ist schwanger. Mit meinem Kind.“
Lange Zeit schwieg Alvar, so lange, dass Jasper schon aufgeben wollte. Als er sich gerade aufbäumte und die Arme vor- und zurückbewegte, um die Muskeln zu wecken, sagte Alvar plötzlich: „Sie sind nach Lilienvenn.“
Jasper überlegte. Nach Lilienvenn war es nicht sehr weit. Anna und ihre Begleiter würden längst ihr Zelt aufgeschlagen haben. Wenn er Lilienvenn vor ihnen erreichen wollte, würde er die Nacht und den ganzen nächsten Tag durchlaufen müssen.
Er seufzte. „Danke, Alvar.“
„Willst du nicht …“
„Nein. Ist schon gut. Ich muss nach los. Leb wohl.“
Jasper wandte sich ab und folgte dem Weg, den die Trauernden zum Dorf gegangen waren. Als die Hütten nur noch einen Steinwurf entfernt waren, warf er einen Blick zurück.
Alvar war in der Nacht verschwunden.
Kälte umgab Jasper. Den Überwurf hatte er sich eng um den Hals und den Mund geschlungen, aber es war bei weitem kein Vergleich mit einem echten Wollschal, wie er ihn früher als Soldat getragen hatte. Der Mond spiegelte sich in den vereisten Ackerflächen, wies ihm einen hell erleuchteten Pfad durch den Sumpf. Das Marschieren der vergangenen Tage machte sich in den Knien bemerkbar, ein Gefühl, als würden seine Stiefel bei jedem Schritt schwerer werden.
Wenn er es richtig in Erinnerung behalten hatte, würde der Sumpf im Osten irgendwann abflachen und die weite Ebene durch Waldfronten auf beiden Seiten zu einem zugespitzten Ende führen. Am Ende der Einöde lag Lilienvenn.
Um ihn herum war es so still, dass Jasper erst dachte, seine Ohren könnten eingefroren sein. Er vermisste das Quaken der Kröten, den leisen Flügelschlag eines Habichts. Nicht einmal Insekten konnte er hören, nur seine eigenen Stiefel. Als wäre Jasper das einzig lebende Wesen zwischen Olavstadd und Lilienvenn.
Während er durch den Sumpf schritt, realisierte er, wie dumm sein Entschluss gewesen war. Zwar konnte er sich nicht verlaufen, solange er sich an den Wald hielt. Aber die Dunkelheit machte das Schreiten tückisch und gefährlich, und je länger er lief, desto größer wurde der Wunsch, er hätte die Nacht einfach Nacht sein lassen und stattdessen Alvars Angebot angenommen.
Nein. Er musste Maria finden.
Er war so in seine Gedanken vertieft, dass er das Pferd erst bemerkte, als es vor ihm in den Dreck fiel.
Es schlug auf wie ein gefällter Baumstamm. Die Augen waren milchig und leblos, Blut klebte in der Mähne, zog sich über den Körper und hinab zu den Fesseln. Zähne hatte sich in den Hinterbeinen verfangen und erst losgelassen, als die Zähne bereits an Knochen genagt hatten. Der Brustkorb hob und senkte sich in immer langsameren Abstand, bis er schließlich aufgab. Am Ledersattel war ein Stoffbeutel mit einer kleinen Brosche befestigt. Ein zweiköpfiger Schwan, Wappen der van Vlegges.
Wölfe, dachte Jasper. Er zog sein Schwert. Im gefrorenen Boden waren die Hufabdrücke deutlich erkennbar.
Es dauerte nicht lange, bis er den ersten Soldaten fand.
Der Zufall ließ ihn wortwörtlich darüber stolpern. Jasper bückte sich. Was er für einen Ast gehalten hatte, war in Wirklichkeit ein Arm.
Vor ihm zog sich ein Hain durch den Sumpf, wie er ihn auch schon am Totenhügel gesehen hatte. Leichen, Menschen wie Pferde, führten zu einem der Bäume.
In der Krone steckte, aufgespießt auf einem Ast, ein Ding in einem roten Kleid.
Jasper hörte sie bereits von weitem. Wenn er die Augen schloss, trugen ihn die Geräusche weg. Zungen im Wind, hechelnd. Das Stampfen von etwas Schwerem, rhythmisch wie eine Kriegstrommel.
Und darüber … Stille.
Warum nur, fragte er sich, ist der Sumpf nur so still.
Er erinnerte sich an Alvars Worte. Keine Krähen. Nur Wölfe und Menschen.
Bald hatte das Rudel ihn erreicht.
Jasper zählte ein knappes Dutzend. Die Spitze bildeten echte Wölfe, graue, schwarze, sogar ein weißer. Dahinter folgten Hunde, so bunt gemischt wie Jaspers Überwurf: Rotäugige, für die Armee gezüchtete Basterschweife. Drei Rottweiler, die Jasper bis zur Hüfte reichten. Sogar kleinere Schoßhunde, wie sie die Damen am Hofe gerne hielten, jagten zwischen den Beinen der anderen Tiere umher.
Hinter dem Rudel erschien das Biest. Auf allen Vieren hätte man es noch für einen besonders großen Wolf halten können, bis er sich erhob und auf den Hinterbeinen stehend auf Jasper zukam.
Jasper war erst einmal einem Lycantropen begegnet, einem grauhaarigen Hauswolf, der seine besseren Tage längst erlebt hatte. Nichtsdestotrotz hatte das Biest mit einem Hieb drei Soldaten erschlagen.
Dieser Lycan war anders: jünger, massiger, mit Vorderarmen wie Pferdeschenkeln und einem blau-grauen Fell. Der Kiefer war groß genug, um einen Menschen mit zwei Bissen zu verschlingen.
„Hallo, Jasper“, knurrte der Werwolf.
Jasper stutzte. Es gab nur einen Menschen in Olavstadd, dem er seinen Namen anvertraut hatte. „Alvar?“
„In Person.“
„Du hast Anna van Vlegge umgebracht. Und Sarah.“
Der Werwolf verzog die Schnauze zu etwas, das Jasper als Grimasse deutete. „Anna, ja. Die Wirtstochter, das ist eine vollkommen andere Geschichte. Jasper, es ist an der Zeit, dir endlich jemanden vorzustellen.“ Alvar zeigte mit der Pfote auf den weißen Wolf. „Eine lang verschollene Liebe.“
Jasper starrte den weißen Wolf an. Das Tier senkte den Kopf und versteckte sich hinter einem der Rottweiler, spuckte einen Ton aus, der eher an ein Jaulen als an ein Bellen erinnerte. Als schämte es sich.
Und dann begriff er.
„Das ist unmöglich.“
Alvar starrte ihn an. „Freust du dich nicht …“
„Das ist eine Lüge!“ Ehe Jasper begriff, was er tat, hielt er sein Schwert in der Hand. Das Rudel kam näher, aber der Werwolf fuhr sie an, hielt sie zurück. Beinahe wäre Jasper das Schwert aus der Hand gefallen.
„Ich weiß, ich weiß“, sagte der Werwolf und ließ sich auf die Arme fallen. „Du hast dir das nächste Familientreffen sicher anders vorgestellt. Die eine Schwester wurde zum Wolf, die andere …“, Alvar schaute in Richtung Anna van Vlegge.
„Aber wie?“ Jasper suchte nach dem weißen Wolf, drehte sich. In der Nacht hätte das helle Fell deutlichst zu erkennen sein müssen. „Wie?“
„Eine lustige Geschichte, Jasper, wirklich zum Totlachen. Da stehe ich am Grabhügel und vergrabe einen totgeprügelten Knaben auf Befehl von Anna van Vlegge. Und wen sehe ich da alleine am Holzzaun stehen? Anna van Vlegge.“ Alvar trottete um Jasper herum, sodass er gezwungen war, sich mitzudrehen, um dem Werwolf nicht im Rücken zu haben. „Natürlich konnte ich da noch nicht wissen, dass es ihre Zwillingsschwester ist. Erst habe ich überlegt, ob ich sie an Ort und Stelle in Fetzen reißen und ihren Leichnam in das Grab stoßen sollte, in das ich gerade den Knaben gelegt hatte. Das wäre Gerechtigkeit.“ Der Werwolf hustete, gab ein raues, kehliges Lachen von sich. „Aber dann kam mir eine viel bessere Idee, Jasper, eine, die mir noch passender schien. Ich wollte gar keine Gerechtigkeit. Ich wollte sie beißen und in mein Rudel aufnehmen. Zu einer der Meinen machen.“
Eine Pranke schoss durch die Luft, so schnell, dass Jasper erst den Luftzug und dann die Bewegung selbst realisierte. Doch der Schlag galt nicht ihm. Alvar packte etwas Weißes in der zweiten Reihe und warf sie Jasper vor die Füße.
Bevor er reagieren konnte, war der Werwolf über Maria. Eine Pranke sauste herab, ein Fuß. Der Luftzug ließ Jasper taumeln und stürzen.
Er rappelte sich auf. Alvar kniete auf Marias Hals, den Wolfschädel in der Pranke.
„Sieh mich an! Sieh mich an, Hofmensch!“ In seinen Augen brannte derselbe Wahnsinn, den Jasper heute Mittag noch in Anna gesehen hatte. Alvar lachte. „Ich kann schneller rennen als jedes eurer beschissen-zahmen Pferde! Ich fresse, was ich will und wann ich will. Wenn ich will, schäle ich dich aus deiner Haut wie einen Apfel! Ich bin ein Gott!“ Der Werwolf streckte den freien Arm aus. „Aber ich bin nicht hier, um dich zu töten, Jasper. Werde Teil des Rudels! Komm zu uns. Komm zu deiner Frau!“ Seine Kralle schloss sich um den Schädel. Zwischen den Fingern hämmerte ein Kehlkopf. „Oder sie stirbt.“
„Warum brauchst du mich?“, fragte Jasper. „Du könntest jeden aus dem Sumpf beißen, warum also mich?“
Der Werwolf schloss die Augen. „Mach die Augen zu, Jasper.“
„Ich …“
„Tue es!“
Jasper schloss die Augen.
„Was hörst du, Hofmensch?“
Knirschen im Schnee, atmende Münder. „Ich höre das Rudel.“
„Ja.“ Alvar zog das Wort in die Länge, hauchte es aus. „Und nur das Rudel. Keine Grillen, keine Vögel. Kein Damwild, keine Schlangen, keine Mäuse. Merke dir das Geräusch, Jasper. Ich will, dass die ganze Welt danach klingt.“ Das Biest schnaufte. „Wohin wir gehen? Nach Westen, raus aus dem Sumpf, wo es Beute gibt. Ich brauche jemanden, der sich außerhalb des Niemandslands auskennt. Einen Führer, wenn du so willst.“
Jasper öffnete die Augen. Der Werwolf kniete noch immer auf Maria, die Schnauze zum Himmel gestreckt. Seine Brust hob und senkte sich gleichmäßig, der Arm fuhr über den Boden. Alvar war so gefangen in seiner Vorstellung, dass es aussah, als schliefe er.
Jasper hob das Schwert und setzte zum Schlag an.
Der Werwolf öffnete die Augen, sah ihn direkt an. Die freie Pranke sauste auf Jasper zu, aber noch bevor seine Klinge den Werwolf treffen konnte, schrie der auf. Maria hatte sich in seinem Knie verbissen.
Jasper duckte sich unter dem Arm weg, schlitzte die Rippen auf. Etwas Haariges traf ihn im Nacken, stieß ihn mit dem Kopf voran auf den Ackerboden.
Schnell war er auf den Beinen. Auch das Rudel hatte sich aus seiner Starre gelöst. Dem ersten Anstürmenden, einem Rottweiler, stach er die Klinge durch den Hals, zog sie heraus und wich einem der Basterschweife aus. Etwas Kleines zerrte an seinem linken Knöchel. Einer der Schoßhunde. Jasper schwang das Schwert, der Griff ließ nach, gerade rechtzeitig, um dem Basterschweif mit einer Pirouette zum zweiten Mal auszuweichen und einen Streich zu vollführen, der dem Hund das Ohr abtrennte.
Maria, dachte er und blickte sich um.
„Auf ihn!“ Alvar humpelte auf ihn zu, hielt sich mit der Hand die Seite, die Jasper verletzt hatte. Unter dem roten Fell schauten zwei bleiche Rippen hervor. „Reißt ihn in Stücke!“
Jasper drehte sich um sich selbst, das Schwert angewinkelt. Gegen das ganze Rudel würde er sich unmöglich verteidigen können.
„Du bist genauso schwach wie Anna van Vlegge, Alvar.“ Er stellte sich dem Werwolf gegenüber. „Du faselst was von Schnelligkeit und Stärke, aber ohne dein Rudel hätten dich die Menschen längst zur Strecke gebracht.“
Der Werwolf grunzte.
„Wie viele Menschen hast du für die Grafentochter verbuddelt? Zehn? Fünfzehn?“ Ein grauer Wolf kam beängstigend nah. Jasper machte einen Schritt auf ihn zu, verscheuchte das Tier. „Wie ist das so, machtlos zu sein? Kommandiert zu werden?“
„Sag du es mir.“ Der Werwolf ging auf alle Viere. Aus seiner Seite tropfte Blut auf den Ackerboden. „Schließlich warst du Soldat.“
„Nicht mehr. Ich bin jetzt mein eigener Herr.“ Jasper grinste. „Was ist mit dir, Torfstecher?“
„Ich zeige dir, was ich bin.“ Ein Rottweiler stürmte auf Jasper zu, doch der Werwolf packte ihn und warf ihn zu Boden. Das Biest baute sich auf. Im Schein des Mondes wirkte Alvar groß wie ein Tribok. „Der Hofmensch gehört mir! Mir!“
Jasper hob das Schwert. Das Rudel starrte sie an, Werwolf und Mensch. Sie scharrten mit den Pfoten, hechelten, blutdurstig.
Für den Bruchteil einer Sekunde war es im Sumpf vollkommen still.
Dann schrie der Werwolf. Maria hatte sich angeschlichen und ihren Kiefer in seinem schwachen Knie versenkt.
Jasper stach zu.
Das Schwert traf genau zwischen die zwei lädierten Rippen. Jasper legte alle seine Kraft hinein, trieb den Stahl so weit, dass seine Hand mitsamt Griff im Fell verschwand. Eine Klaue packte ihm am Nacken und drückte zu. Jasper wand sich, konnte dem Griff aber nicht entkommen. Blut strömte ihm über die Finger. Er packte den Schwertgriff mit beiden Händen, zog es ein Stück hervor und drehte die Klinge im Wolfsleib.
Das Biest schrie.
Auf einmal war sein Nacken frei. Jasper machte einen Schritt zurück, stolperte, fiel. Blut, Fleisch und Haaren begruben ihn.
Als Jasper sich vom Werwolf befreit hatte, waren die Hunde verschwunden. Auf dem Ackerboden vor ihm saß die weiße Wölfin und starrte ihn an.
Jasper kämpfte sich auf die Beine, fuhr sich durch die öligen Haare. Schwer atmend packte er eine der Werwolfpranken und drehte das Biest auf Rücken. In der Brust steckte das Schwert.
Er zog es aus dem Kadaver und streifte die Klinge am Raureif sauber. Dann setzte er sich auf den Boden.
Langsam tapste die Wölfin näher. Auch ihr Fell war blutig. Ob es ihr eigenes oder das des Werwolfs war, konnte Jasper nicht sagen.
„Hallo Maria.“
Sie schwieg. Natürlich, dachte Jasper. Du Vollidiot denkst, du kannst mit Tieren reden.
„Ich … es tut mir leid, ja? Bitte, guck mich nicht so urteilend an. Ich … hab mir unser Wiedersehen auch … anders vorgestellt.“ Ob sie mich überhaupt versteht, fragte er sich. Wahrscheinlich nicht. Was ein bescheuerter Gedanke. Jasper der Vollidiot.
„Ich … verdammt, es tut mir leid. Ich hätte niemals … wir hätten niemals … Gott, warum musstest du nur fortgehen? Warum?“
Er vergrub den Kopf in den Armen. Jasper hätte alles dafür gegeben, ein letztes Mal ihre Hände auf seiner Schulter spüren zu können.
Es war still im Sumpf.
Für eine Weile waren seine Schreie das Einzige, dass man im Niemandsland hören konnte.
Als er die Augen wieder öffnete, stand die Wölfin noch immer vor ihm.
„Maria?“
Sie reagierte nicht, starrte auf einen Punkt, den nur sie sehen konnte.
„Kannst du mich verstehen?“
In der Dunkelheit hinter ihr bewegten sich Tiere. Das Rudel. Sofort war Jasper auf den Beinen, das Schwert in der Hand.
Jetzt kam Leben in die Wölfin. Sie umkreiste den toten Werwolf, als wäre er ihre ganz persönliche Beute, und knurrte die anderen Hunde an. Jasper schien sie bereits vergessen zu haben.
Auf einmal schoss Maria davon und in die Dunkelheit, und das Rudel folgte ihr. Die Basterschweife zuerst, dahinter die Rottweiler und die Wölfe, und da sah Jasper es.
Zwischen den Tieren lief ein kleines, weißes Wolfjunges.