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Jared Leto für Arme
In der Abschlussklasse liebte ich einen Jungen, der wie Jared Leto aussah. Es war nicht die längste, nicht die hoffnungsloseste und nicht die wahninnigste meiner Verlebtheiten, aber ich erinnere mich noch an sie, obwohl es schon acht Jahre her ist. Was nicht heißen soll, dass ich mich an die anderen nicht erinnere - ich habe nun mal ein gutes Gedächtnis.
Ich erinnere mich, wie er in unsere Klasse kam und sich als Kai vorstellte. Alle wachten auf und schauten ihn an. Die Fünftklässler freuen sich immer auf neue Schüler und fangen sofort an, sie zu hänseln. Aber die Zwölftklässler sind stets mit ihrer eigenen außergewöhnlichen Individualität beschäftigt und beachten keine Anderen ihrer Art. Da Kai nichts Unterhaltsames vorführte, versanken sie sofort wieder in ihren üblichen lethargischen Tagesschlaf. Alle, außer mir. Ich folgte ihm mit den Augen, als er sich hinsetzte und gähnte, weil er jemanden ähnlich sah. Er erinnerte mich an Jared Leto. Als diese Ähnlichkeit mein Bewusstsein erreicht hatte, konnte ich meinen Blick nicht mehr von ihm abwenden. Ich kam mir vor wie Charles Darwin, der ein exotisches Tier entdeckt hatte und außer sich vor Freude war, und nicht wusste, wem er als erstes darüber berichten soll.
Natürlich verdient es kein durchschnittlicher Oberstufenschüler in einem Satz mit Jared Leto erwähnt zu werden, und Kai war keine Ausnahme. Aber von allem lebenden Oberstufenschülern kam er Leto am nächsten, denn er hatte helle Augen, lange schwarze Haare, die er offenbar mit dem Haarschaum zu einer wilden Mähne formte, und einen farblich unpassenden Bart. Es war ein außerordentlich schöner Junge.
Die Pause nutzte ich dafür, um mit meinen Freundinnen die Lage zu analysieren. Ich hatte in der Klasse genau zwei Freundinnen, Dominika und Ranya. Sie konnten sich gegenseitig nicht ausstehen, deshalb musste die Besprechung zweimal stattfinden.
„Der ist irgendwie unnormal, dieser Typ. Also, ich will nicht sagen, dass ich ihn nicht heiß finde, aber es ist doch komisch, wenn ein Typ so niedlich ist. Der hat irgendein Kleines-Kätzchen-Syndrom“, so kommentierte ihn Dominika.
„Ich finde, der sieht aus wie Jared Leto für Arme“, antwortete ich. Wenn Dominika meinte, er hätte ein Syndrom, so war es besser für mich. Dann hatte ich weniger Konkurrenz.
„Voll die Schwuchtel“, sagte Ranya nach meinen mehrmaligen Aufforderungen, sich über Kai zu äußern. Darauf antwortete ich nichts.
Meine heimliche Zuneigung sollte heimlich bleiben, ich würde niemanden an meiner zerbrechlichen Gefühlswelt teilhaben lassen. Es war ein ganz neuer Junge. Es könnte wirklich etwas werden.
Die Tage wurden weniger öde als sonst. Ich wusste jetzt, wofür ich aufstand und um halb acht meinen Arsch aus dem Haus schleppte. Alles wurde erträglich, gar aufregend. Ich erfand eine Art, Kai permanent zu beäugen- tat so, als schaue ich aus dem Fenster und beobachtete ihn peripher. Da man ihn so nicht besonders gut sah, drehte ich manchmal meinen ganzen Kopf in seine Richtung, und errötete, und senkte den Blick sofort zum Boden. Kai bemerkte meine Zuckungen genau so wenig, wie er etwas anderes bemerkte. Meistens schlief er, den Kopf auf die Arme gelegt, oder schaute die Straße an und wippte mit dem Fuß im Takt zu einer unhörbaren Musik, oder drehte zerstreut einen Stift in den Fingern, und jeder seiner neurotischen Bewegungen schrieb ich irgendeine besondere erotische Interpretation zu, vor allem dem Fußwippen.
Ich war verliebt, zum hundertersten Mal in meinem Leben. Nur versagte jetzt meine Fähigkeit, sich von einem desinteressierten Jungen auf einen anderen umzuschalten. Wie oft versuchte ich, ihm näher zu kommen! Leider waren wir nicht mehr in jedem glücklichen Kindesalter, in dem man sich leicht neue Freunde findet. Alle unsere Gespräche blieben kurz, distanziert und erschreckend banal. Smalltalk zwischen zwei fremden Menschen.
Wenn Kai nicht in die Schule kam, und er fehlte sehr oft, war der Tag unwiderruflich verloren. Ich bereute dann, aufgewacht zu sein, mich geschminkt zu haben - für wen? Mir war schlecht, wie einem KoKainsüchtigen, der kein Geld für das Pulver hatte, nicht Mal für gestrecktes. Ich litt unter widerlichen Entzugssymptomen.
Ließ er sich länger als drei Tage nicht blicken, vergaß ich ihn allmählich und ging anderen sinnlosen Beschäftigungen nach. Zeichnete Herzchen und krumme Linien, lästerte mit Ranya über Dominika und mit Dominika über Ranya, hörte dramatische Liebeslieder und Hip-Hop. Dann tauchte er wieder auf, und alles begann von vorne. Seine Anwesenheit versetzte mich in die Art meditativer Trance, in der man sich die Nähe zu einem ahnungslosen, schweigenden Fremden erträumt.
Eines Tages, als ich während der ersten Stunde rausging, um eine zu rauchen, sah ich Kai mit Dominika auf dem Parkplatz rummachen. Zuerst traute ich meinen Augen nicht, als ich ein kleines, dickwadiges, bäuerliches Mädchen neben ihm wahrnahm. Es konnte nicht Dominika sein, das wäre eine zu absurde Ironie. Ich kam näher und vergewisserte mich, das war sie wirklich. Ich lachte laut, Gott verspottete mich. Dominika schaute mich verächtlich an, zuckte mit den Schultern und machte weiter mit meinem Jungen rum. An dieser Stelle müsste ich mich meinerseits verziehen, aber ich konnte nicht. Mich schüttelte es vor hysterischem Lachen, Tränen liefen mir aus den Augen und Rotze aus der Nase, ich konnte nicht atmen, der Erstickungstod kreiste schon über meinem Haupt. Deshalb verpissten sie sich selbst, händchenhaltend, mit unzufriedenen Visagen. Nachdem sie gegangen waren, kroch ich auf die Toilette, heulte dort undefinierbar lange, bis ich davon eine Migräne bekam und ein verschwommener neongelber Fleck vor meinen Augen zu zittern anfing. Dann holte ich mir einen Laufzettel und fuhr nach Hause.
Kai und Dominika, der Königssohn und das Bauernmädchen. Eine hässliche, lächerliche Zusammensetzung. Die Liebe zu ihm herrschte über mein Bewusstsein, daran änderte seine Affäre mit der Schweinehirtin nichts. Sie schien jetzt das einzige Hindernis zu meinem privaten Glück zu sein. Natürlich würde er mich ihr vorziehen, wie jeder normale Mensch. Ich musste nur auf eine passende Gelegenheit warten. Wenn Kai mich so begehrte, wie ich ihn, würde er mich vergewaltigen. Aber ich musste listig sein. Ich musste mit der Schlange Dominika befreundet bleiben, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Das war die reinste Folter. Er saß neben mir, und ich konnte ihn nicht anfassen.
Niemals wird jemand so von diesem Jungen besessen sein, wie ich es damals war. Ich bemitleidete all die geschmacksbehinderten Mädchen, die einfache, grobe und behaarte junge Männer liebten. Männer, die sich über Fußball und Saufen unterhielten und karierte Shorts trugen. Die keine Kuhaugen mit transparenten grauen Iriden hatten, sich nicht ständig auf die Unterlippe bissen, nicht verloren lächelten und nicht in einer schläfrigen Parallelwelt lebten, wie Kai.
Er würde mich wollen, weil ich ihn mehr liebte als ein adäquater Mensch es sich vorstellen konnte. Allein aus egoistischen Gründen würde er mich wollen, um in meiner zärtlichen Besessenheit zu schwimmen, wie ein Millionär in seinem privaten Pool.
Wenn ich die Augen schloss und versuchte, ein Bild von seinem gelangweilten Antlitz aus dem Gedächtnis hervorzurufen, sah ich stattdessen Dominikas hämischen Mund. Sie vergällte meine orangensüßen Fantasien, sie beraubte mich meiner letzten Zuflucht. Nein, sie war keine Schlange, die Schlange war ich. Ich hatte keine Arme und Beine, und wenn man mich wegtrat, konnte ich mich nicht wehren. Aber sie war ein Schwein, das alles fraß, was in ihre Nähe kam.
Es war ein März, mir fehlten Vitamine und Licht, Wasser tropfte ständig vom Himmel auf meine angerissenen Nerven. Ich konnte weder lesen noch denken. Gott weiß, wie ich das Abi bestanden habe, woher ich die Prüfungstermine erfuhr, wie ich den Weg zur Schule und wieder nach Hause fand. Es lief automatisch ab, ohne mich.
Ich erinnere mich, dass wir nach der Zeugnisausgabe feiern gegangen sind, unsere Klasse und die beiden anderen. Wir feierten weniger den Abschluss als die Tatsache, dass wir uns nie wieder sehen würden. Diese Perspektive war berauschend. Alle betranken sich und fielen sich in die Arme. Auch ich war glücklich, denn ich hatte nichts mehr zu verlieren. Dominika trampelte ständig in seiner Nähe, aber sie würde mich nicht aufhalten. Schweine sind feige Wesen, dachte ich.
Nach einigen Stunden, als allen alles schon egal war und jeder in seine strahlende, bessere und geheimnisvolle Zukunft versank, umklammerte er meine Taille, und wir lachten beide über etwas Unlustiges. Warum hatte er früher nie gelacht? Ich küsste, und er steckte willfährig die Zunge in meinen Mund. Die Trunkenheit verflog im selben Augenblick. Mein Körper verwandelte sich in ein schlagendes Herz. Der, den ich wollte, vergötterte, von dem ich besessen war, gehörte jetzt mir. Ich hatte gesiegt.
Dann tauchte Dominika auf, sie war außer sich vor Wut, rot im Gesicht, und bewegte ihren Mund, aber man hörte nur die Musik. Plötzlich ohrfeigte sie mich. Es war eine unerwartete Wendung und tat weh. Ich schaute sie verwundert an und lachte. Ich lachte nicht, um sie zu verhöhnen, sondern weil ich in diesem Moment glücklich war, so glücklich, dass ich vor Leichtigkeit fast zu Luft wurde. Dann fiel mir ein, dass man sich verteidigen sollte, wenn man geschlagen wird, deshalb goss ihr ich meine Cocktailreste ins Gesicht. Dominika kreischte, wie ein Schwein eben, und schubste mich mit ihrem ganzen Gewicht. Ich flog mit dem Kopf gegen die Bartheke, mein linkes Auge traf dabei auf die Kante. Es war sicher erblindet. Ich stellte mir vor, wie es sein würde, mit einem Auge zu leben. Angeblich sah man dann alles flach, und das verletzte Auge vergilbte.
Dominika hielt mich an den Haaren fest und versuchte, möglichst viel davon rauszureißen. Ich konnte nichts tun, außer Schimpfwörter in die unmenschlich laute Musik zu rufen. „Ich hoffe, du verreckst, Hure!“, schrie ich, hoffentlich hörte sie es. Die abergläubische Fotze hatte immer Angst vor solchen Sachen gehabt. Sie hatte oft irgendwas von Schicksal und Karma gelabert, wiedergeborenes Schwein. Warum mischte sich keiner ein? Natürlich, der Pöbel brauchte Schnaps und Spiele. Vor ihren Augen wurde ein Mensch ermordet, und sie glotzten teilnahmslos.
Dann kam Ranya irgendwoher angerannt, wütend, wie ein Orkan, und zog Dominika weg von mir. Meine rausgerissenen Haare klebten auf ihren verschwitzten Fingern, und ich hatte schon zuvor keine voluminöse Mähne. Tränen verschleierten meinen Blick und die Wimperntusche floss über meine Wangen. Zum Glück waren beide Augen gesund.
Dominika hatte gegen Ranya keine Chance, weil ihr massiver Körper von hohen Absätzen getragen wurde, während Ranya ihre Schuhe vor dem Kampf ausgezogen hatte. Ranya packte Dominika an den Haaren und schlug sie in den Bauch, sie fiel sofort auf den Boden, wie ein Sack, und zog Ranya mit sich, dabei schmiss sie eine Flasche um. Sie prügelten sich ziemlich übel, Ranya trat gegen Dominikas Brüste, versuchte, das Kinn zu treffen, was ihr ein Paar Mal gelang, Dominika zerkratzte Ranyas Gesicht und warf sie schließlich auf die Scherben. Danach beruhigte sich Ranya plötzlich, stand auf und rammte meinem Angebeteten das Knie in die Eier, obwohl er nicht den geringsten Versuch unternommen hatte, seine Ische zu beschützen.
Ich saß mit Ranya bis zum Morgengrauen im Park. Am nächsten Tag reichte Dominika eine Anzeige wegen Körperverletzung gegen sie ein, obwohl ihr Körperfett keinen ernsthaften Schaden erlitten hatte. Die Geschichte kam vor Gericht, natürlich nicht die ganze, sondern nur ihre letzten Minuten. Der Prozess wurde mehrmals verschoben und zog sich ewig hin. Ranya kam schließlich gut davon, weil sie ein sympathisches Mädchen und ein palästinensisches Flüchtlingskind war, so lauteten jedenfalls die Hauptargumente ihres Anwalts.
Es war vor acht Jahren, die mir wie eine Ewigkeit vorkommen. Vor kurzem traf ich Kai in einem Buchladen. Er lächelte, als er mich sah, kam auf mich zu und fragte: „Wie geht’s dir, du Verrückte?“
„Gut“, antwortete ich, „alles ist gut.“
„Was machst du so im Leben?“
„Heute oder überhaupt?“
„Heute. Und überhaupt.“
„Heute gehe ich mit dir aus“, lächelte ich.
Dann gingen wir in eine Bar, tranken Wein, und wir hatten Sex, und wir trennten uns nie wieder.
Nein, das ist natürlich nicht passiert. Das stellte ich mir in den zwei Sekunden vor, die zwischen dem Moment, als er mich im Buchladen erblickte, und dem Moment, als ich sein Rücken von mir fortbewegen sah, vergangen sind. Und daran sieht man, dass Menschen sich nie ändern.